Frau Rose

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire, Peter Fahr

Was kann ein Umzug ins Altenheim auslösen? Wie reagiert die Seele auf das neue Umfeld? Eine Kurzgeschichte des Poeten und Essayisten Peter Fahr.

 

Als man ihre Koffer nach oben brachte, wurden die Personalien aufgenommen. Sie stand mit zittrigen Knien vor dem Schalter und drohte umzukippen. Eine Pflegerin bot ihr einen Stuhl an, den sie dankend ablehnte. Alter, Heimatort, Konfession, Zivilstand. Name: Rose, einfach Frau Rose.

Das Altenheim befand sich am größten Platz der Stadt. Man hatte Frau Rose ein Zimmer zugeteilt, dessen Fenster auf den Verkehr der Hauptstraße ging. Die vergnügte alte Frau saß oft stundenlang in der Fensternische und beobachtete die vorbeifahrenden Autos. Darauf angesprochen, meinte sie, das sei viel spannender als Fernsehen. Das ist das Leben, murmelte sie, die Autoschlange gleiche dem Lebensstrom. Das Pflegepersonal mochte die Alte.

Frau Rose sprach französisch. Sie stammte aus einem Bergdorf und war mit zwanzig in die Stadt gezogen, wo sie Religionslehrerin geworden war. Über vierzig Jahre lang hatte sie den Beruf mit viel Liebe und Einsatz ausgeübt. Die Jugendlichen, die sie unterrichtet hatte, waren längst erwachsen. Einer von ihnen besuchte sie hin und wieder im Heim. Der junge Mann brachte ihr stets etwas mit, meist Tierfiguren aus Glas. Auf der schmalen Kommode neben dem Bett standen die zierlichen Geschenke.

Vor jedem Besuch stand Frau Rose am Schminktisch. Sie kämmte sich das schüttere Haar, puderte die Wangen und überzog die schmalen Lippen mit kräftigem Orange. Die Augenbrauen wurden mit Mascara nachgezogen, auf die Wangen kam etwas Rouge. Dann parfümierte sie sich und wartete geduldig auf das Erscheinen des einstigen Schülers.

Eines Tages wurde im Altenheim eine Blume abgegeben. Im Seidenpapier steckte ein Brief, adressiert an Frau Rose. Von da an verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Alten. Sie saß jetzt nicht mehr am Fenster, sondern vor dem runden Tisch mitten im Zimmer. Auf dem Tisch stand eine Vase, in der Vase eine weiße Lilie. Frau Rose betrachtete sie stundenlang. Die Besuche des jungen Mannes blieben aus und die Blume verwelkte.

Nach drei Wochen war die alte Frau tot. Sie hatte versucht, die verdorrten Blütenblätter zu essen, und war daran erstickt.

 

Anzeigen von 6 Kommentaren
  • Die A N N A loge
    Antworten
    Ach, Herr Fahr, die Geschichte fing so schön an, und wie gerne hätte ich von Frau Rose mehr erfahren, wie sie in dem Bergdorf aufgewachsen ist, ob sie schon als Lehrerin in der Stadt eine “Rose” war, für ihre Schülerinnen, welche Rolle der junge Mann, ihr ehemaliger Schüler in ihrem Leben spielte und, und und.

    Die weiße Lilie… Nun habe ich mich, zum Verstehen des unerwarteten Endes der Geschichte, in Verbindung mit der weißen Lilie, dem Brief und der Verschlechterung Ihrer Gemütsverfassung, mit der Bedeutung dieser edlen, von betörenden Duft begleiteten Blume beschäftigt – sie hat in der griechischen und christlichen Mythologie keine unwesentliche Bedeutung gehabt-, doch es hat mich der unerwarteten Wende der Geschichte leider nicht wirklich näher gebracht.

    Was mag nur in dem Brief gestanden haben, warum ist der junge Mann, auf dessen Besuche sie sich so gefreut hatte, plötzlich nicht mehr aufgetaucht, und… warum die weiße Lilie, dessen Blütenblätter sie in den Tod gebracht hat?

    Meine Fantasie geht mit mir durch. In mir wächst eine geheimnisvolle Geschichte von Frau Rose, dem jungen Mann und der weißen Lilie.

    Ich hoffe, dass ich heute irgendwann einschlafen können werde. Frau Rose und Herr Lilie haben es mir angetan.🌹

    Liebe Grüße, BB

    • Peter Fahr
      Antworten
      Liebe BB

      Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen, ich weiss nicht mehr als Sie. Das ganze ist ein Rätsel. Doch sind nicht gerade die Rätsel, die unserem Leben seine Würze geben?

      Ein Vierzeiler für Sie:

       

      Vermutung

      Das Glück, nach dem ich greife,

      ist eine nasse Seife –

      und dass ich darauf pfeife,

      wohl ein Zeichen der Reife.

       

      Herzlich

      Peter Fahr

       

      • Die A N N A loge
        Antworten
        Lieber Herr Fahr,

        Nun gut,

        so treiben Blüten um Frau Rose

        fortan nicht mehr ins Uferlose.

        Auch wenn das Ungewisse weiter in mir nagt,

        so bin ich heute nicht mehr ganz verzagt,

        Weiß ich Frau Rose doch in guten Händen,

        in Ihrer Schrift, die Sie uns senden.  😊

         

        Herzliche Grüße,

        Bettina Beckröge

         

         

         

      • Die A N N A loge
        Antworten
        P. S.

        Bei all den Gedanken zu Frau Rose, lieber Herr Fahr, haben Sie mich wieder erinnert an ein wundervolles Rilke Gedicht, dessen 2.Teil, auch zu lesen auf Rilkes Grabstein, mich endlich wieder ruhig schlafen lässt.

        🌹

        Beste Grüße 😊

        https://youtu.be/ctBFRNNwKHI

        • Peter+Fahr
          Antworten
          Liebe BB

          hier ein Gedicht zum Thema Rose von mir:

           

          Reines Wesen

           

          Erstanden aus Umbra

          wiegend im Wind

          auf dornigem Schaft:

          In tiefe Kreise

          quellendes Mandala

           

          Klang von Zinnober

          Lichtlabyrinth:

          Aus ruhender Mitte

          masslos entfaltend

          das Ganze

           

          Rose

          welkendes  Violett

          dunkel duftend

          nach stillem Tod

          ins Zeitenlose

           

          Herzlich

          Peter Fahr

          • Die A N N A loge
            Das Gedicht ist wunderschön.😍 Vielen Dank! 🌹

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