Freundschaft ist Arbeit, bei der man sich entspannen kann

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Roland Rottenfußer

Jugendliche Freunde – Netflix-Serie “Stranger Things”

„Um Liebe muss man kämpfen, Freundschaften müssen irgendwie von allein immer da sein“. Ist das so? Viele Menschen nehmen das Befreundetsein zu leicht, vernachlässigen Freundschaften und scheitern immer wieder an ihnen. Man muss sich mit Freunden Mühe geben, ohne sich an ihnen abzumühen. Dann sind sie ein großer Reichtum. Jedes Freundespaar ist anders, und doch gibt es ein paar grundlegende Dinge, die man über die „zweitschönste Sache der Welt“ wissen sollte, damit sie gelingt. Roland Rottenfußer beschreibt hier u.a. die verschiedenen Lebensphasen der Freundschaft.

„Ohne Freunde sind wir nichts“, behauptete der Jüngling. Meine Frau und ich hatten die vier Buben – ca. 16 Jahre alt – bei der Brotzeitbank an der Hardtkapelle getroffen, einem sehr schönen Aussichtspunkt mit Bergblick, den wir oft bei unseren Abendspaziergängen streifen. Sie saßen da beim Bier und sprachen uns einfach an, fragten, ob wir uns hersetzen wollten, boten uns Bier an – geschenkt. Rasch waren wir buchstäblich in Gespräche über Gott und die Welt verwickelt. U.a. auch über Freundschaft. „Naja, vielleicht wären wir nicht nichts“, sagte ein anderer Junge. „Aber es wäre schwer“. Die vier wirkten sehr harmonisch, keiner schien Wortführer zu sein, keiner Außenseiter oder unterdrückt. Sie hörten einander zu und begegneten sich mit Respekt. Schön, solche Freunde zu haben. Man möchte gern nicht einmal zurück in diese Zeit, in die Hingabe an Freundschaften noch unbedingt war und die Erwartungen an das Leben, das man gemeinsam gestalten würde, grenzenlos. Noch war man ja nicht (oder nur wenig) enttäuscht worden.

Wie war das in meiner Jugend? Da ich nicht zu den „Beliebten“ der Klasse zählte, waren Freunde rar, hatten Freundschaften daher ein großes Gewicht. Sie stützten mich in einer Zeit, in der man sich vor den Eltern in eine schützende Innenwelt zurückzieht, sich für das andere Geschlecht aber noch nicht voll geöffnet hat. Freunde in der Pubertät und später im „Twen“-Alter bilden oft eine verschworene Gemeinschaft. Als Mann nahm ich solche Freundesrunden teilweise ernster als die Liebeleien mit Frauen. Zu oft schon hatte man es erlebt: die Frauen gingen, die Freunde blieben – und bei ihnen konnte man sich dann ausweinen und ausgiebig über „zickige“ Exfreundinnen schimpfen. Liebe und Sex – das ist oft der „Film“; mit dem guten Freund dagegen sitzt man quasi im Zuschauerraum, beobachtet, wertet und analysiert. Das hilft einem, auf Distanz zu den oft aufwühlenden Gefühlen zu gehen, ohne dabei allein zu sein. „Drum sei auch nicht betrübt, wenn dein Schatz dich nicht mehr liebt. Ein Freund, ein guter Freund, das ist das schönste, was es gibt auf der Welt.“ Auch in Liedern wird der Mythos Freundschaft gepflegt.

Freundschafts-„Systeme“ bewahren sich oft über Jahre ein fragiles Gleichgewicht, bilden einen eingeschworenen Bund – solange bis einer aus dem Kader ausschert, sei es dass ihn der Beruf in eine andere Stadt zieht, sei es dass er sich ernstlich in eine Frau verliebt und eine Familie gründet. Es entsteht dann zwischen Frau und Mann ein stärkeres Band, das auch Verschwiegenheit beinhaltet. Plötzlich verschließt sich einer dem Freund gegenüber, der früher alles erfahren durfte – bis hin zu sexuellen Details. Ein Bruch ist da. Gerade „übrig Gebliebene“, eiserne Junggesellen, die lange keine Freundin abbekommen, spüren das schmerzlich. Für sie fühlt es sich geradezu wie Verrat an. Lange war das ein Lebensinhalt gewesen: Gespräche beim Bier, Musik und billige Zelturlaube mit dem viel zu kleinen Gebrauchtwagen, den sich einer der Kumpane vielleicht als Student leisten konnte. Malerische Jungesellenverwahrlosung.

Und Stolz. In bestimmten Kreisen auch ein politischer Stolz – die ernst gemeinte Absicht, die Welt zu verändern, dieser unverbindlich-rebellischen Gegenrealität für immer treu zu bleiben, in der man sich eingerichtet hatte. Reinhard Mey hat eine solche Männerrunde in seinem Lied „Die drei Musketiere“ trefflich dargestellt:

 

Wir wollten anders sein, als alle, die wir kannten,

Verachteten das Streben und pfiffen auf das Geld,

Den Bürger, den Pastor und die bigotten Tanten

Und glaubten, drei wie wir veränderten die Welt.

 

Am Ende des Lieds das ernüchternde Resümee, dass die Kampfgefährten am Ende doch domestiziert wurden, verschluckt von dem System, dem zu widerstehen man sich geschworen hatte.

 

Die Zeit hat uns getrennt, verstreut an allen Enden,

Du, Aramis, magst heut‘ Bahnhofsvorsteher sein,

Du, D‘Artagnan, zählst heimlich deine Dividenden,

Ich, Porthos, sitze heut‘ an uns‘rem Tisch allein.

 

Gerade wer seine Freunde und die gemeinsamen Werte am ehrlichsten liebte, sieht sich am Ende im Stich gelassen. Man kann sein Leben nicht auf Freundschaften aufbauen, so scheint es. Allenfalls noch Übergangsphasen, solange das „Eigentliche“ noch nicht geschehen ist. Dabei wäre die Idee dahinter wunderbar: Freundschaft als die reinere Form der Liebe: ohne Begehren, ohne Berechnung, ohne Ausschließlichkeitsanspruch, neidlos, freilassend, entspannt… Freilich erreicht auch nicht jede konkrete Freundschaft dieses Ideal. Aber oft – für eine gewisse Phase – klappt es. Zwischen Mann und Frau läuft immer alles „gereizter“ aber – im doppelten Sinn des Wortes. So mancher umhegt und bewacht seinen Partner wie eine Beute. Alte Freunde stören da manchmal, weil sie in aufdringlicher Weise einen alternativen Lebenswurf verkörpern, der nichts ins Konzept dieses neuen, partnerschaftlichen Bundes passt.

Übrigens ist dieses Phänomen nicht auf Männer beschränkt. Wir können ähnliche Entwicklungsphasen auch bei Frauen beobachten. Der Unterschied besteht oft darin, dass Frauenfreundschaften nach außen hin noch emotionaler und enthusiastischer sind. Zärtlicher manchmal sogar, weil die männertypische Homophobie dort nicht so stark ausgeprägt. Man lobt das Aussehen und das Outfit der anderen, busselt sich, vertraut sich einander noch unbedingter an. Männer geben sich auch untereinander gerne cool: „Wie geht’s, Alter?“ „Geht schon“. Es dominieren „Sachthemen“, Sport z.B. Teilweise sind die Brüche im jungen Erwachsenenleben unter Frauen aber noch brutaler. Die Mutterschaft krempelt das Leben für Frauen noch gründlicher um als für Männern. Es geht dann für einige Jahre wirklich nur noch um das Kind. Manchmal jedoch, wenn beide Mütter geworden sind, ergibt sich gerade dadurch eine neue Nähe zwischen Freundinnen.

Was ist ein Freund/ eine Freundin? Der Autor Andreas Salch, der ein hervorragendes Buch über Freundschaft geschrieben hat, schlägt vor, sich ein Fest vorzustellen, zu dem man nur 12 Personen einladen kann, weil am Tisch nicht mehr Platz ist. Wen würde man einladen, wen weglassen? Wer wäre nur „aus Pflichtgefühl“ auf der Liste oder weil er zu einer Clique gehört, die man nicht spalten darf? Wen wagt man nicht einzuladen, weil man vielleicht seine Zurückweisung befürchtet? Machen Sie dieses Gedankenspiel auch mal mit 6 Personen. Oder mit 3. Sie lernen dabei viel über sich. Es ist an der Zeit, über Freundschaft nachzudenken und sie für sich neu zu definieren, denn „draußen“ in der Öffentlichkeit wird der Begriff derzeit inflationär gebraucht.

Geht es nach den Neuen Medien, müssten wir derzeit in einer absoluter Blütezeit der Freundschaft leben. Freundeszahlen auf facebook, Likes, Followers und geshareter Content wirken wie die Zahlen auf einem Bankkonto. Ihre bloße Anzahl generiert Selbstwert; ihr Ansteigen erregt freudig, ihr Sinken verstört. Geht man von Facebook-Verhältnissen aus, so ist ein „Freund“ jemand, den man kaum oder nur virtuell kennt und den man dem eigenen Befreundetenpool nur deshalb hinzufügt, weil man seinen Marktwert steigern will. Wenn dies auf Gegenseitigkeit beruht, ist der „Handel“ leidlich fair. Amicaler Kapitalismus. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, befindet sich echte Freundschaft momentan in einem Prozess der Auflösung. Wie bei einem breit geklopften Teig geht jede Erweiterung des Freundschaftsbegriffs auf Kosten seiner Tiefe. Man spricht mit immer mehr Menschen über immer weniger (Sinnvolles).

Etwas seelenvoller ging es da früher schon zu. Dichter strickten speziell im 19. Jahrhundert am Mythos der idealen Männerfreundschaft – getreu bis in den Tod. So begrüßt Schillers „Don Carlos“ seinen besten Freund, den Marquis Posa, mit enthusiastischen, fast schon körperlich zudringlichen Worten:

 

Ist’s wahr? Ist’s wirklich? Bist du’s? – O, du bist’s!

Ich drück’ an meine Seele dich, ich fühle

Die deinige allmächtig an mir schlagen.

O, jetzt ist Alles wieder gut. In dieser

Umarmung heilt mein krankes Herz. Ich liege

Am Halse meines Roderich.

 

Mal ehrlich, haben Sie einen Freund, eine Freundin je so begrüßt – „Bist du’s? – O, du bist’s“? Der Marquis Posa opferte für Don Carlos am Ende sein Leben. Was würden Sie für Ihren Freund/ Ihre Freundin tun? Ist beim Umzug helfen schon das äußerste? Irgendwo zwischen anonymen „friends“ und Blutsbrüderschaft à la Winnetou und Old Shatterhand liegt die Realität heutiger Freundschaften. Sollen sie länger andauern, braucht es auf beiden Seiten einen gewissen Einsatz. Man muss füreinander da sein – ein beständiger Begleiter für das Leben des Anderen –, darf seinen Kontakt nicht zu stark ausdünnen. Und: Freundschaft braucht gelegentlich die körperliche Anwesenheit. Auch wenn sie mit Sexualität nichts zu tun hat, verbindet Freunde doch der Blick in die Augen des Gegenübers, die Wahrnehmung der Körpersprache, der Klang zusammenstoßender Bierkrüge, die nostalgisch zusammen genossenen Songs aus der verwehten Jugend, der Geruch von Schweiß oder Parfum.

Freundschaft ist Arbeit, bei der man sich jedoch unbedingt wohl fühlen und entspannen sollte – scheinbar ein Paradox. Aus diesen und anderen Gründen ist es schwer, mehr als drei, vier, fünf echte Freundschaften zu pflegen. Ein zu oft wiederholtes „Nein“ auf die Frage „Hast du Zeit?“, „Kannst du mir helfen?“, „Kann ich mal mit dir reden?“ killt die Verbindung. Und wenn jemand zu sehr prahlt mit der Anzahl seiner Kontakte und Termine, gehe ich auf Distanz. Ich weiß dann: viel werde ich mit ihm wohl nie anfangen können. Auch Augenhöhe muss sein: „Laute“ und „leise“ Typen können einander wunderbar ergänzen; wenn der eine jedoch Selbstbewusstauftreter mit Chef-Ambitionen ist und der andere sich unterdrückt fühlt, geht das nicht gut.

Vieles, was wir noch Freundschaft nennen, weil es mal eine war und weil wir nicht den Mut finden, sie zu beenden, ist nur noch eine leere Hülle. Wir sind mit jemandem um der gemeinsamen Vergangenheit willen befreundet, nicht für das er jetzt ist. Wir müssen auch Frieden damit schließen, dass sich Freundschaften im Laufe der Jahre verändern, dass sie kommen und gehen können. Es ist ja gerade auch die relative Distanz zwischen Freunden, die sie – im Vergleich zu Partnerschaft und Familie – entspannter macht. Will man mit jemandem wie in der romantischen Liebe „verschmelzen“, so entsteht dadurch ein übermäßiger Druck, dasselbe fühlen und denken, für‘s Leben die gleichen Pläne machen zu müssen. Man betrachtet sich ja dann als eine Art Doppelwesen, sitzt zusammen im gleichen Fahrzeug – und schon geht das Gerangel los, wer den Kurs bestimmen kann. Zeigt sich, dass man in wichtigen Fragen inkompatibel ist (er will Kinder, sie nicht; er ist für die Linken, sie schwärmt von Gauland), starten sofort gegenseitige Umerziehungsmanöver. Wenn man den anderen nicht „zu sich herüberziehen“ kann, steht die Beziehung auf der Kippe.

Freundschaft kann das alles gelassener angehen. Es geht ja nur darum, bei 10 oder 50 Treffen jährlich miteinander auszukommen. Wichtig ist, dass man sich beim anderen wohl fühlt; und dafür ist es nötig, dass wir uns gerade auch mit unseren Schwächen und Schattenbereichen beieinander aufgehoben fühlen. Häufig zeigt sich das bei Freundespaaren, indem sie einander ihre Vorliebe für „banale“ Filme, ihre sexuellen oder gar Gewaltfantasien hemmungsfrei beichten. Der andere lächelt dann allenfalls wissend und verschmitzt: „Kein Problem, Alter, das geht uns doch allen manchmal so“. Geborgenheit, allumfassendes Verstehen, gemeinsam lachen können… diese Dinge sind wichtig.

Überschätzt werden dabei aber oft identische Meinungen und Interessen. Diese helfen vielleicht, um auf dem Markt der Partnerschaftsanzeigen erste Kontakte zu knüpfen und Menschen einander eher schematisch zuzuordnen. „Interessierst du dich für Literatur, Chanson, Film, Wanderungen in der Natur, vegetarisches Essen, bist du außerdem politisch eher links, gleichzeitig aber ein vielseitiger spiritueller Sucher?“ Diese Profil zugrunde gelegt, dürfte ich eigentlich überhaupt keine Freunde haben. Es mag derartige Menschen geben, aber nicht in meinem Freundeskreis. Allenfalls das „Wandern in der Natur“ ist ziemlich verbreitet, ebenso eine gewisse Affinität zum Bier. Typisch für meine Freundschaftsgeschichten sind vielmehr extreme Kontraste.

Volker traf ich bei einer Demonstration gegen Nazis. Heute ist er ein guter Freund von mir. Keine so außergewöhnliche Geschichte könnte man meinen, der Antifaschismus schweißt eben zusammen. Das Interessante ist: Ich gehörte zu den Gegendemonstranten, er zu den Nazis. „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“, brüllte Volker dicht neben meinem Ohr. Wutentbrannt brüllte ich zurück: „Haut ab!“ Dann besann ich mich und fragte ihn in vernünftigem Tonfall: „Warum habt ihr so viel Hass in euch?“ Daraus entspann sich eine lebhafte Debatte. Volker wollte mir „Informationsmaterial“ schicken, um mir die Brillanz der rechtsradikalen Weltanschauung nahe zu bringen. Ich gab ihm meine Adresse. Auf seinen langen Brief, aus dem „trotzdem“ einige Intelligenz sprach, antwortet ich u.a.: „Ich bin Germanist, du brauchst mir nichts über deutsche Kultur erzählen. Aber ich achte auch andere Kulturen“. Allmählich wurde der hochfahrende Jüngling milder gestimmt. Wir tauschten Briefe, und irgendwann lud er mich in seine Wohnung ein.

Wir kamen uns näher, als wir uns über die beiderseitigen enttäuschenden Erfahrungen mit Frauen austauschten. Am Ende waren wir doch beide Männer und Menschen, nicht nur politische „Köpfe“, die miteinander ums Rechthaben ringen. Volker und ich sind seit nunmehr 25 Jahren gut befreundet. Ein Nazi als Freund – nicht ganz. Er hat die rechte Szene längst verlassen und ist in Richtung Mitte gerückt. Manchmal brechen noch immer fragwürdige Ansichten bei ihm durch. Aber was soll’s? Es sind die Verirrungen eines Freundes, Volker ist längst kein Feind mehr, den es zu „vernichten“ gilt. Im Grunde sind wir wie Brüder. Auch Geschwister liegen oft im Clinch, versöhnen sich wieder, gehören irgendwie doch zusammen. Warum funktioniert das so gut? Weil mir Volker früh seine Schattenseiten gezeigt hat, fühle auch ich mich frei, ihm gegenüber nicht immer nur als Saubermann aufzutreten. Unsere Gespräche sind manchmal wahrhaftiger als die mit anderen Freunden von „edlerer“ Wesensart.

Wie wichtig sind gemeinsame Interessen? Ein Gegenbeispiel: Ich habe sieben Jahre lang Germanistik studiert, war im großen Münchener Institut mit hunderten „gleichgesinnten“ Frauen und Männern zusammengekommen. Alle hätten lange Referate über Rilke oder Adorno halten können. Wie viele nachhaltige Freundschaften ich damals geschlossen habe? Keine einzige! Die Leute waren mir meist zu verkopft und distanziert, und vielleicht hätten sie dasselbe von mir gesagt. Es hat einfach nicht „gefunkt“. Andreas Salcher warnt in seinem Freundschaftsbuch nicht umsonst davor, seinen Freundeskreisen zu stark auf den Beruf aufzubauen. „Wenn fast der gesamte Freundeskreis aus dem engen beruflichen Umfeld stammt, dann löst sich jener sofort auf, sobald dieses Band durchschnitten wird. Hat man alle menschlichen Beziehungen vor allem dem Kriterium der Nützlichkeit unterworfen, ohne böse Absicht – einfach aus Gedankenlosigkeit –, so sollte man sich nicht wundern, wie schnell man allein dasteht, sofern man selbst niemandem mehr nützlich ist.“

In Zeiten, in denen von Arbeitnehmern immer mehr Flexibilität gefordert wird, haben es Freundschaften ohnehin schwerer. Schon die Wahl des Studienorts kann Jugendfreundschaften auseinanderreißen. Und man studiert ja nicht mehr unbedingt in seiner Heimatstadt, sondern dort, wo es die gewünschte Fakultät gibt und die Mieten erschwinglich sind. In jedem Fall empfiehlt sich, wenn ein Freundeskreis – heute eher eine Glücksfall – geschlossen in einer bestimmten Region verwurzelt bleibt. Ich pflege z.B. einen Stammtisch Münchener „Alt-Freunde“, die ich noch aus Studienzeiten kenne. Sicher gibt es auch halbwegs funktionierende Telefon-, Mail-, SMS- oder What’s App-Freundschaften. Für mich ist ausführlicher Email-Austausch ein wesentlicher Teil meines Kontaktnetzes. Ich bin schriftlich, was ich persönlich nicht immer war: relativ beliebt. Der Generationenwechsel wird aber auch die „Kanäle“ verändern, durch die sich Freunde begegnen können.

Warum eigentlich heißt es, es sei in späten Jahren schwieriger,  neue Freundschaften zu schließen? Liegt es am mangelnden Vertrauen, weil man als reiferer Mensch zu oft enttäuscht wurde? Liegt es daran, dass Ältere schrulliger, in ihren Gewohnheiten festgefahren und nicht mehr so leicht bereit sind, sich einem Freund anzupassen? Bei Schulfreunden findet man ja manchmal eine Hingabe, die bis zur Selbstaufgabe geht. Man verschenkt sich ohne Hintergedanken aus noch unverwundetem Herzen. Man lässt es zu, dass die Freunde einem die Form geben, die man für sich selbst noch nicht gefunden hat. Ein älterer Mensch ist dagegen häufig schon „fertig“, eine volle Tasse Tee, in die man keine weitere Flüssigkeit in Form neuer Inspiration einfüllen kann.

Dennoch habe ich gerade im Fall meiner Eltern schöne Fälle später Freundschaften beobachten können. Das setzt Offenheit voraus, die Fähigkeit, sich immer wieder einzulassen. Was ältere Menschen brauchen, ist eine intakte Verbindung zu jener innersten Region, in der keine Zeit existiert. Dort sprudelt eine Quelle immer frischer Neugier, die durch nichts zu verbittern und zu verhärmen ist. Gleichzeitig kann es auch von Vorteil sein, wenn Ältere wissen, was sie wollen und nicht mehr so leicht auf Blender hereinfallen. Nur wer gefestigt ist, lässt sich immer wieder gefährden, und die größte Gefahr – wie das größte Glück – sind doch immer wieder andere Menschen. Das gilt für Freundschaft wie für Liebe.

Wenn die körperliche Mobilität nachlässt und viele Freunde „wegsterben“, kann es um so manchen Senioren einsam werden. Wer stark, liebesfähig und ein bisschen „gesinnungsjugendlich“ bleibt, für den wird das Ende seines Erwerbslebens nicht zugleich das Ende seiner Freundschaftsbiografie sein. Freundschaft ist nicht allein eine Beziehung zu einem konkreten Menschen, sie ist eine innere Haltung. Notfalls, wenn alle Stricke reißen, kann es gelingen, auch die Natur, tote und lebende Dichter und die bunte Welt der Dinge als befreundet zu erleben. Oder endlich damit zu beginnen, sich mit sich selbst anzufreunden.

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