Geist und Materie

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Philosophie

“Zu oft werden Menschen, die sich außerhalb des Heteronormativen bewegen, noch immer nicht genug in ihrer gewählten oder gewordenen Identität gewürdigt und anerkannt; zu oft werden sie noch immer ausgegrenzt, dieses Ziel der aktuellen Trans-Kampagne unterstütze ich. Wie alle Trends und Kampagnen erzeugt jedoch leider auch diese reichlich übereifrige Missionare einer im Kern eigentlich guten Botschaft. Es entsteht eine Orthodoxie. Folglich brauchen wir auf den Backlash nicht zu warten.” Wolf Schneider, connection

 

Der langjährige Chefredakteur einer führenden spirituellen Zeitschrift fasste im Gespräch mit mir sein Fazit über diese Jahre einmal mit den Worten zusammen: »Mind over matter«, das sei die Essenz der Aussage seiner Zeitschrift gewesen. Irgendwie schien das nun auch seine Lebensweisheit zu sein. Er sagte es auf Englisch. Auf Deutsch hätte er vielleicht gesagt: Der Geist ist stärker als die Materie.

Ich bin nicht seiner Meinung. Geist, Mind, Bewusstsein und Materie hängen m.E. auf eine rational kaum erfassbare Weise miteinander zusammen. Wie »die zwei Seiten« einer Münze oder Medaille? Auch dieses Klischee scheint mir für das komplexe Gebilde der Wirklichkeit keine passende Metapher zu sein.

Karl Marx glaubte, mit »Das Sein bestimmt das Bewusstsein« den Philosophen Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt zu haben. Steht das Sein dort nun gut auf den Füßen? Ich bezweifle das. Vielleicht ist es erstmal schon ein guter Beginn, sich diese Fragen zu stellen.

Die Transbewegung

Dieser Tage durchflutet ein Trend die westlichen Gesellschaften, der das Wortpartikel »trans« ins Feld führt, das mir aus Begriffen wir transzendent, transpersonal, transnarrativ und transparent gut vertraut ist. Nicht nur vertraut, es ist mir auch sympathisch, weil es die alten, einengenden Redensarten von einem Reich Gottes, einem Jenseits oder einer Anderswelt elegant aufhebt und entmystifiziert.

Leider beschränkt dieser Trend den so verheißungsvollen Aufbruch aus dem Schubladendenken des Cis – dem Gegenbegriff zu Trans – auf Gender und Sexualität. Wie schade! Mit ein bisschen mehr Mut zur Selbsterforschung hätte aus diesem Trend etwas wirklich Gutes werden können. Ich will doch nicht nur aus der Schublade des Ich-bin-ein-Mann oder Ich-bin-eine-Frau ausbrechen, sondern, wo wir schon mal dabei sind, aus allen Schubladen.

Erst Hormone, dann Chirurgie

Der deutsche Wissenschaftsverlag Spektrum hat nun im aus der LGBTQ-Bewegung entstandenen »Pride month« Juni ausführlich und trendgemäß einiges zu Geschlecht, Gender und sexueller Identität publiziert. Darunter auch das Gespräch mit einem Chirurgen, der die Menschen, die mit dem Wunsch nach einer Geschlechtsumwandlung zu ihm kommen, dafür bewundert, was sie davor schon alles haben durchmachen müssen. Er schildert die einzelnen Schritte der angleichenden Ops im Interview sehr detailliert. Auch Georg Romer, der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Münster, spricht sich dafür aus, die Eingriffe schon früh zu vollziehen, um das Leid der Transmenschen zu lindern.

Während der Pubertät verändert sich der Körper, Brüste formen sich oder Schultern werden breiter. Würde diese Entwicklung nicht gestoppt, wäre eine Transfrau auf Grund breiter Schultern oder einer tiefen Stimme für ihr Leben stigmatisiert. »Bekommt eine Transperson hingegen bereits mit 14 oder 15 Jahren den Zugang zu einer entsprechenden Behandlung, wird sie mit 20 Jahren in der Regel eine Jugend ohne leidvoll beeinträchtigte soziale Teilhabe durchlaufen haben«, sagt Romer. Außerdem wird rein optisch nichts an den Körper von früher erinnern. Je sicherer ein Kind und die begleitenden Fachpersonen sind, dass eine Geschlechtsangleichung der richtige Weg ist, umso früher könne damit begonnen werden und umso besser sind die Ergebnisse, sagen die Befürworter solcher ‚Geschlechtsangleichungen‘, die vielleicht schon bald für 14-jährige möglich werden.

Das Transitioning kann jedoch auch missglücken, erzählt hier eine Frau-Mann-Frau an der TU in Köln-Deutz. Sie hat den ganzen Prozess durchgemacht und wollte am Ende doch wieder eine Frau sein, die sie von ihrem physischen Körper her vor der Angleichung war. Nun meint sie: »Es sollte nicht an jeder Ecke Hormone geben.« Sie hält es für problematisch, wenn Therapeuten das Bedürfnis den Körper umzugestalten nicht hinterfragen, sondern es sofort bejahen, um das Leid ihrer Klienten zu lindern. Heute wünscht sie, jemand hätte ihr Vorhaben damals in Frage gestellt, denn wenn die Transition als Lösung für alles gelte, würde das eigentliche Problem womöglich übersehen. Was aber ist das eigentliche Problem? Vielleicht ist das eine philosophische oder spirituelle Frage.

Auch der Kraureptorter schreibt im Pride Month Juni über Transgeschlechtlichkeit in einer eher trendigen als von tiefer Einsicht geprägten Zusammenfassung.

Wo bleibt bei alledem das Cis? Und was ist aus Karl Marx’ »Das Sein bestimmt das Bewusstsein« geworden und aus Gautama Buddhas Dekonstruktion der Ich-Identität zu etwas Fluidem, das nie ganz fixierbar ist?

Die Identitätsfrage

Ich finde, die Identitätsfrage muss viel weiter gestellt werden, weit über die sexuelle und soziale Identität hinaus. Ich bin nicht nur ein Mann, eine Frau oder queer, sondern auch ein Mensch, ein Primat, ein Tier, ein Lebewesen, ein Teil des Biotops des Planeten Erde. Natürlich bin ich nonbinär und androgyn. Zu oft werden Menschen, die sich außerhalb des Heteronormativen bewegen, noch immer nicht genug in ihrer gewählten oder gewordenen Identität gewürdigt und anerkannt; zu oft werden sie noch immer ausgegrenzt, dieses Ziel der aktuellen Trans-Kampagne unterstütze ich.

Wie alle Trends und Kampagnen erzeugt jedoch leider auch diese reichlich übereifrige Missionare einer im Kern eigentlich guten Botschaft. Es entsteht eine Orthodoxie. Folglich brauchen wir auf den Backlash nicht zu warten. Auf die Reaktion – die Linken nennen sie »das Reaktionäre«. Das Pendel schwingt dann zu den alten Normen zurück, anstatt einen Schritt weiter zu gehen, zu einer Synthese, wie etwa dieser: Natürlich sind wir nicht in Schubladen einzuordnen, keine/r von uns. Wir sind alles, das Ganze.

La différence bienvenue

Als Cis-Hetero liebe ich »la petite différence«, die erotische Spannung zwischen den Geschlechtern, möge die bitte nicht planiert werden! In ähnlicher Weise können auch Transmenschen und Queere aller Art solche Spannungen genießen, ihre ‚Ungwöhnlichkeit‘ ist ja selbst schon ’spannend‘ – vorausgesetzt, die Gesellschaft, in der sie sich bewegen, ist in der Hinsicht tolerant und inklusiv. Wohl für uns alle besteht ein geglückte Leben in einer guten Balance zwischen der Spannung des Andersseins – Ich bin einzigartig, outstanding, aufregend und keineswegs normal – und der Geborgenheit des Ich-bin-wie-alle (und alles andere) auch, in die sich hineinzukuscheln jeder und jedem erlaubt sein und ermöglicht werden sollte.

Sind wir wirklich so sex- oder genderbesessen, dass »Wer bin ich?«, diese zentrale Frage aller Philosophie und spirituellen Suche, im Transtrend so unwidersprochen verkürzt werden darf?

Kommentare
  • Ida Utopia-Lüdenscheidt
    Antworten
    Ein  Text, der mich  seiner Gelassenheit und Sanftmut berührt hat. Auch ich wende mich seit Jahren vehement gegen die Planierung der Spannung zwischen den Geschlechtern. Im übrigen  identifiziere ich mich Faser für Faser als  binäre Anhängerin der planetarischen Inklusion von friedlichen Andersartigen und Andersdenkenden. Ja,  das ist vom Mindset her outstanding, aber dazu gehören auch Eva-Herman, Ulrike Guerot und die Brennesseln in unserem Garten.

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