Glückstrotzender Unfug

 In FEATURED, Philosophie, Umwelt/Natur

Die Liebeserklärung der Gebrüder Roth und F.W. Bernsteins an den Kiebitz. Wozu genau ist ein Artikel über Kiebitze nütze? Wer so fragt, sollte erst recht weiterlesen. Denn genau um diese menschliche Unsitte, allem einen bestimmten Zweck zuzuordnen, geht es Götz Eisenberg. Der etwa taubengroße, bunt gefiederte Wattvogel ist heute vom Aussterben bedroht. Bekannt sind auch seine kapriziösen Balzflüge, die scheinbar “unnötigen” Aufwand betreiben. Das Tier ist nur dort Tier, wo es spielt, könnte man in Anlehnung an Schiller sagen. Tiere sind nicht ausschließlich kampfbereite Wettbewerber und Nahrungssucher. Dieses Vorurteil könnte eher eine Projektion von Menschen sein, die sich der Philosophie des Kapitalismus gänzlich unterworfen haben. Neben liebevollen und detaillierten Naturbeobachtungen enthält dieser Artikel auch eine Empfehlung für ein Kiebitz-Buch, das den wenigsten bekannt sein dürfte – “ein flammendes Plädoyer für das Existenzrecht des Nutzlosen in einem Universum der Nützlichkeit”  Götz Eisenberg

Den September verbringe ich seit etlichen Jahren im Süden der Niederlande. Vier Wochen lebe ich im Caravan eines Freundes. Vor ein paar Tagen, als ich meinen Abendspaziergang durch die Felder rund um den kleinen Campingplatz absolvierte, hörte ich aus einer der von einem Wassergraben umgebenen Wiesen einen Kiebitz rufen, und auf der gegenüberliegenden Seite des Weges antwortete ihm ein zweiter. Es gibt also noch ein paar Exemplare dieser Art.

Früher, als mein Vater mich mit dem Kiebitz bekannt gemacht hat, gab es diesen etwa taubengroßen Vogel in den feuchten Wiesen hinter den Dünen noch in ganzen Schwärmen. 2015 wurde der Kiebitz, der in Norddeutschland Kiwitt und hier Kievit genannt wird, auf die internationale Rote Liste gefährdeter Vogelarten gesetzt. Mir hat der Kiebitz wegen seines nach oben abstehenden zweigliedrigen Federschopfes immer gut gefallen. Ich nannte ihn später deswegen den Punk unter den Vögeln, ein Namen, den ich allerdings auch dem Wiedehopf verpasste, dem man früher in den Dünen häufiger begegnen konnte. Sein Iro macht  mehr her als die zwei vergleichsweise zarten Spitzen des Kiebitz. Auch den Wiedehopf haben wir durch die Zerstörung seiner Habitate, das heißt seiner Brut- und Siedlungsorte, weitgehend vertrieben und vernichtet.

Der Kiebitz eignet sich nicht als Wappentier. Er ist nicht ikonenhaft wie der Adler und andere Greifvögel. Mit ihm ist kein Staat zu machen. In einer Gesellschaft, die den Kiebitz zu ihrem Symbol erwählt, könnte man leben. Und wie er fliegt! Seine Loopings und sonstigen Kapriolen sind einfach nicht ernst zu nehmen. Sie zeugen von purer Lebensfreude: einfach da sein, sonst nichts. Als ich eine Bäuerin nach ihren Erfahrungen mit dem Kiebitz fragte, sagte sie: „Man müsste ihm beibringen, Mäuse zu fangen. So ist er wirklich zu nichts nütze!“ So ist der bäuerlich-utilitaristische Blick auf die Natur und den Kiebitz. Den Kiebitz braucht‘s nicht. Wenn er verschwände, krähte kein Hahn danach.

Ich bin niemand, der bei jedem Gezwitscher immer gleich weiß, von welchem Vogel es stammt. Aber der Ruf des Kiebitz ist derart prägnant, dass selbst ich ihn identifizieren kann. Mit „kiju-wit“ lässt er sich am ehesten versprachlichen. Er ist von einer kristallinen Klarheit und Einfachheit. Der Kiebitz wiederholt wie der Kuckuck und der Zilpzalp unablässig seinen Namen. Viel mehr kann er nicht. Mein Vater hat mich auf den Ruf des Kiebitz hingewiesen, was dazu beigetragen haben mag, dass er sich tief in mich einprägte. Es gibt Dinge, die lernt man nur auf diese Weise. „Kein Buch (und keine CD oder DVD, G.E.) kann lehren“, hat Italo Calvino einmal gesagt, „was man nur als Kind lernen kann, wenn man ein waches Ohr und ein waches Auge für den Gesang und den Flug der Vögel hat und wenn jemand da ist, der ihnen prompt einen  Namen zu geben weiß.“

Inzwischen hat der Postbote das angekündigte Kiebitz-Buch der Gebrüder Roth gebracht. Es ist eines der immer seltener werdenden Bücher, die man – vor jedem Inhalt – gern zu Hand nimmt und betrachtet. Handwerklich gut gemacht und liebevoll gestaltet. Dazu tragen Zeichnungen und Bilder wesentlich bei, die F. W. Bernstein, der ein großer Kiebitz-Verehrer gewesen ist, beigesteuert hat. Was heißt beigesteuert? Eigentlich ist das ganze Bändchen eine Hommage an den Ende letzten Jahres gestorbenen Bernstein, um dessen Kiebitz-Zeichnungen und -Bilder herum sich die Texte der Gebrüder Roth ranken.

Den Einband ziert ein Aquarell Bernsteins, das aus seitlicher Perspektive einen Kiebitz zeigt, der in einer Wiese steht. Über ihm im angedeuteten blauen Himmel schwebt ein vergleichsweise kleines Männlein in Hut und Mantel und mit Flügeln dran. Wir dürfen ihn ihm ein Selbstportrait des Malers vermuten, der offenbar gern „denselben glückstrotzenden Unfug“ zusammenfliegen würde, wie die von ihm bewunderte Kiebitze. Warum sollen wir uns die tröstliche Vorstellung verbieten, F.W. Bernstein schlüge nun, nachdem er seine Künste nicht mehr in der Titanic zeigen kann, seine Kapriolen als Kiebitz im ausgenüchterten Himmel über uns. Obwohl dem Kiebitz wie vielen anderen Tier- und Vogelarten in letzter Zeit übel mitgespielt wird.

Eine Woche, bevor das Büchlein bei mir eintraf, hatte ich auf meinem Abendspaziergang ein seltsames Erlebnis. Als ich aus einem kleinen Wäldchen heraustrat und ins offene Gelände kam, begann es zu dämmern. Es regnete nicht, aber es ging ein heftiger Wind. Plötzlich hörte ich ein Sausen und Schwirren in der Luft. Als ich in die Richtung schaute, aus der eigenartige Ton kam, sah ich einen Schwarm Vögel, die silbern-golden leuchteten und glitzerten. Es sah aus wie ein Reigen überdimensionaler Glühwürmchen. Mit diesem Vergleich wird heute kaum noch jemand etwas anfangen können, denn auch die Glühwürmchen sind weitgehend verschwunden. Ich habe jedenfalls seit ewigen Zeiten keine gesehen. Also versuche ich es mit einem anderen Vergleich: Es hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem goldenen Konfettiregen, der am Ende einer Quizsendung über dem Gewinner niedergeht.

Die Vögel flatterten nach Art der Falken eine Weile auf der Stelle, ließen sich fallen, fingen sich wieder und folgten dabei einer eigenartigen und eigenwilligen Choreographie. Wie ein Ballett der Lüfte. Dann verschwanden sie aus meinem Blickfeld. Als ich zu der Stelle zwischen einem Maisfeld und einem Campingplatz kam, über der die sich bewegt hatten, war nichts mehr zu sehen. Nur ein Bussard erhob sich schwerfällig von einem Zaunpfahl und flog davon. Eine Weile verharrte ich ungläubig und verwirrt, dann ging ich weiter. Was hatte ich da gesehen? Würde ich von meinem Erlebnis erzählen, mir glaubte wahrscheinlich wieder mal kein Schwein. Man würde mir unterstellen, zu halluzinieren oder unter einer beginnenden Netzhautablösung zu leiden.

Um meine Unruhe etwas zu bändigen, ordnete ich das Erlebte in die Kategorie „epiphanische Erlebnisse“ ein, die Menschen, die nicht szientifisch vollkommen verblödet oder sonstwie vernagelt sind, ein paar Mal im Leben vergönnt sind. In ihnen geht uns auf, dass wir Teil von etwas sind, das  uns übersteigt und umgreift. Die Lektüre des Buches Unser Freund, der Kiebietz brachte in den folgenden Tagen etwas mit sich, das Max Weber als „Entzauberung“ gefasst hat. Ich begriff, dass ich einen „wilden Haufen von Kiebitzen, flackernd illuminiert vom durch Wolken gebrochenen Licht“ gesehen hatte, die über einer Weide ihr abendliches Spiel zelebrierten.

„Wie viele Farben hat der Kiebitz?“, fragen die Gebrüder Roth und präsentieren, was sie selbst erlebt und an literarischen Schilderungen gefunden haben: Seine Flügeldecken schillern, einen Regenbogen kann man dann sehen, einen „Erlglanz“, den Schimmer von grünem und violettem Metall, Bronze, ein Hauch Gelb, Kupfer. Der Kiebitz trägt, obwohl er nicht zur Angeberei neigt, eine „Glamrockglitzerjacke“. Die hier auf der Halbinsel noch lebenden Kiebitze hatten sich offenbar zu einer grandiosen und schillernden Abschlussgala getroffen, bevor sie in südlichere Gefilde aufbrechen, um dort den Winter zu verbringen.

Diese überraschende Lösung meines Rätseln war für mich keine Enttäuschung, die sich manchmal in der Folge von Entzauberungen einstellt, die mit Gestus auftreten: „Papperlapapp, es ist nichts als …“. Für mich bleibt das, was ich gesehen habe, auch nach der Entzauberung eine Erscheinung, ein kleines Wunder. Das vor allem möchte uns das Kiebitz-Buch vermitteln: Dass ein Tag gerettet ist, wenn wir morgens einen Zaunkönig gesehen haben, der auf dem Geländer unseres Balkons Platz genommen und uns die Gunst seiner flüchtigen Anwesenheit gewährt hat.

Natürlich erfahren wir noch mehr Wissenswertes über den Kiebitz. Zum Beispiel, dass er ein „antiautoritärer Nonkonformist“ mit einem ausgeprägten „Unwillen zur Macht“ ist, dass sein Sozialverhalten jeder libertären Gemeinschaft als Vorbild dienen könnte und dass er deswegen „ein Mann für den Kibbuz“ ist. In der Tradition des großen Anarchisten Peter Kropotkin und seines Buches Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt wird der Spieß einmal umgedreht und tierisches Verhalten nicht zur Rechtfertigung der kapitalistischen Konkurrenzhölle herangezogen, sondern als ermutigendes Beispiel für Brüderlichkeit und Solidarität.

Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, wie es Thomas Hobbes formulierte und damit den Grundstein einer zutiefst pessimistischen Anthropologie legte, ist eine Beleidigung der Wölfe und eine Projektion kapitalistischer Verkehrsformen ins Tierreich. Wölfe teilen sich zum Beispiel das Futter und praktizieren kooperative Lebensformen, während Menschen, die gezwungen sind, unter Bedingungen des (künstlich aufrechterhaltenen) Mangels und in einem Universum permanenter Verteidigung und Aggression zu leben, sich prügeln und töten. Wir erfahren weiter, dass Reichskanzler Bismarck in rauen Mengen Kiebitz-Eier verspeiste, sich aus Kiebitz-Eiern einen speziellen Likör herstellen ließ, und dass es nach ihm vor allem die Industrialisierung der Landwirtschaft gewesen ist, die seine Bestände dezimierte.

Das Buch der Gebrüder Roth ist ein flammendes Plädoyer für das Existenzrecht des Nutzlosen in einem Universum der Nützlichkeit. Die sinnlosen Kapriolen des Kiebitz und das Buch über ihn sind ein Protest gegen die Durchökonomisierung und Begradigung der Welt.

„Eine kürzere Fassung des Beitrags erschien zuerst auf den Feuilletonseiten der Tageszeitung junge Welt vom 5./6.10.2019“

Kommentare
  • Piranha
    Antworten
    Wunderbar beschrieben und mit einem Sinn für Komik – vielen Dank!

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