Grüner wird’s nicht!

 In FEATURED, Politik (Inland), Roland Rottenfußer

Die öko-neoliberale Republik und die Entsorgung der sozialen Frage. Das werden die anderen Parteien grün vor Neid: Die SPD hat Platz 2 innerhalb der Parteienlandschaft für die AfD freigemacht, und nachgerückt sind – die Grünen. Selbst ein Kanzlerkandidat Robert Habeck scheint in Reichweite. Der Vogel mit den zwei „realpolitischen“ Flügeln hebt ab. Federn gelassen haben vor allem die Ideale des Anfangs. Daran ändert auch halbherzige Kosmetik an den Sozialsystemen nichts.  Roland Rottenfußer

„Kanzler Merz, Kanzler Habeck“ titelte Zeit online am 12. November. Der eine, Blackrock-Gehaltsempfänger, ist der schwarze Fels in der Brandung eines launischen Zeitgeists und will seine CDU wieder zu ihrer politischen Versteinerungsform der Prä-Merkel-Ära zurückführen. Er wäre der größte anzunehmende Unfall für Öko-Soziale.

Der andere, Robert Habeck, scheint zu Merz den größtmöglichen Gegensatz darzustellen: „linksliberal“, intellektuell sogar und subtil in seiner Ausdrucksweise. Habeck bezeichnen selbst Kritiker des Grünen-Programms überwiegend als „sympathisch“. Mehr Philosoph als Politiker sinniert er darüber, wie Sprache Wirklichkeit konstruiert. Und geißelt die Sprachverrohung in der Politik des AfD-Zeitalters. „Weil bei all den sprachlichen Attacken der letzten Zeit – und sei es manchmal auch unbeabsichtigt – via Sprache tatsächlich schon eine andere ‚Wirklichkeit‘ entstanden ist.“

Habecks bedingtes Grundeinkommen

Das ist lobenswert. Und auch der Wettstreit zwischen Habeck und Andrea Nahles, wer die am wenigsten halbherzige Reform von Hartz IV ins Spiel bringt, ist prinzipiell erfreulich. Gewöhnt daran, dass es in der politischen Debatte immer nur um unterschiedlich abgestufte Verschlechterungen geht (Bürgerrechtsabbau, Hochrüstung, Privatisierung…), reibt sich der Bürger die Augen und kann es kaum fassen, dass es endlich einmal um – wenn auch nur kleinere – Verbesserungen geht.

Das „Garantieversprechen des Sozialstaats“ will Habeck laut einem Positionspapier erneuern. Einen Weg finden, „wie wir das Hartz-IV-System hinter uns lassen“. Die neue Grundsicherung solle auf Anreiz statt auf Bestrafung setzen, Zuverdienstmöglichkeiten erweitern, das Schonvermögen erhöhen, auf Sanktionen verzichten. Selbst das „Bedingungslose Grundeinkommen“ wurde von Medien ins Spiel gebracht – obwohl Habecks Vorstoß genau das nicht ist. Bedürftigkeitsprüfung und Antragsbürokratie soll es weiter geben.

Natürlich wird dieses Konzept nicht zur Anwendung kommen, solange die Union, Deutschlands mächtigste Partei, Erleichterungen bei Hartz IV – Verzeihung, wenn ich hier ausnahmsweise dämonisiere – scheut wie der Teufel das Weihwasser. Auf die lieb gewonnene Drohkulisse für Arbeitslose und Arbeitende wollen die Unionschristen ungern verzichten. Man kann Habeck und Nahles unterstellen, sie blinkten links, wüssten dabei aber genau, dass „widrige Umstände“ es ihnen ohnehin verwehren würden, auch wirklich links abzubiegen.

Ebenso kann man darauf verweisen, dass die Mainstream-Medien immer dazu neigen, Bruderkonflikte innerhalb des neoliberalen Lagers aufzubauschen, um das Volk in der Illusion zu wiegen, es hätte echte Alternativen. Aus Kabbeleien um Nuancen wird da rasch ein Showdown zwischen Antipoden. Bleibt Habeck mit seinem Konzept konsequent und kann er aus seinen Ideen grüne Politik machen, wären die Grünen einen Schritt vorwärtsgekommen – jedoch nachdem sie zuvor 10 Schritte rückwärtsgegangen waren. Hartz IV wurde schließlich von dem Ausnahmeschauspieler Gerhard Schröder nicht im Alleingang installiert.

Sehnsucht nach dem Prä-AfD-Deutschland

Immerhin gehört klare Kante gegen den Rechtsruck mittlerweile zu den Hauptattraktionen der Grünen. Während die Flüchtlingsfrage fast alle Parteien spaltet – sogar die Linke – bleibt Habecks Partei so eindeutig wie die AfD, nur bei der gegenteiligen Meinung. Der Grünen-Chef antwortete, befragt zu seinen Assoziationen zum Begriff „Volksverräter“: „Ist ein Nazibegriff. Es gibt kein Volk, und es gibt deswegen auch keinen Verrat am Volk. Sondern das ist ein böser Satz, um Menschen auszugrenzen und zu stigmatisieren.“

Es gibt kein Volk? Das ist kühn und erfrischend unvölkisch. Manchem wird das sauer aufgestoßen sein. Aber man muss einräumen, dass der Trend zu autoritären und fremdenfeindlichen Weltanschauungen vor dem neuen Grünen-Hype unaufhaltsam voranzuschreiten schien. Die Deutschalternativen hetzten sich von Sieg zu Sieg. Heute scheint ihr Vormarsch zumindest gestoppt. Vielen ging die Dominanz von Flüchtlings- und Sicherheitsthemen im öffentlichen Raum zu weit, sie sehnten sich nach dem behaglicheren Prä-AfD-Deutschland zurück. Von diesem Unbehagen gegenüber einem vor allem von Osten herüberwehenden schärferen politischen Wind profitierten die Grünen. Der Widerstand gegen die selbst ernannten Verteidiger des Abendlands hatte von da an eine Farbe. Rot war es leider nicht.

Allerdings versäumten es die Grünen auch nicht, sich immer wieder rhetorisch in der Mitte zu verorten, also dort, wo auch der Millionär Friedrich Merz angeblich angesiedelt ist. Eilfertig versichern Mitglieder der Öko-Partei, dass sie nicht dem rechten, sondern gleichermaßen dem linken Extrem abgeneigt sind. “Wir leben in einem Europa, das von Rechts und Links attackiert wird“, sagte Habeck auf dem Grünen-Parteitag in Leipzig. Wahlen werden eben in der Mitte gewonnen – in letzter Zeit vor allem von den Grünen.

Postpazifistischer „Realismus“

In der Friedenspolitik redet die Partei mit gespaltener Zunge. Vieles klingt gut, wenn sich ein grünes Positionspapier etwa gegen eine neue Aufrüstungsspirale, für eine atomwaffenfreie Welt, gegen autonome Waffen und Kampfroboter ausspricht. Was aber heißt das konkret? „Wir lehnen Auslandseinsätze der Bundeswehr und deren solide Ausstattung nicht grundsätzlich ab, haben dafür aber strenge Maßstäbe. Mit dem ‚Zwei-Prozent-Ziel‘ der NATO und der milliardenschweren Erhöhung des Verteidigungshaushalts werden falsche Schwerpunkte gesetzt. Das lehnen wir ab. Zivile Maßnahmen müssen Vorrang haben, sei es dabei, Konflikt- und Fluchtursachen zu beseitigen oder bei der Entwicklungszusammenarbeit, dem Klimaschutz und der Friedenssicherung.“

Schon – aber was, wenn zivile Maßnahmen nicht ausreichen? Was, wenn sich „solide ausgestattete Auslandseinsätze“ aufdrängen, die auch den „strengen Maßstäben“ der Grünen genügen? Beim Kosovo- und Libyen-Krieg war dies offensichtlich der Fall. Meinen diese schwammigen Formulierungen nicht: Notfalls sind wir doch bereit, Menschen zum Töten und Sterben in fremde Länder zu schicken? Und folgen die Grünen nicht recht brav dem offiziellen NATO-Narrativ, wenn sie schreiben: „Die aggressive Großmachtpolitik des russischen Präsidenten Putin, vor allem die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und der anhaltende Krieg im Osten der Ukraine, hat die europäische Friedensordnung erschüttert“? Kein Wort davon, wie die USA und ihre Verbündeten permanent die Ordnung und den Frieden der halben Welt erschüttern.

Außenpolitik heiße, „harte strategische Entscheidungen zu verantworten, selbst wenn sie in der Innenpolitik alles andere als populär sind“, hatte der ehemalige grüne Übervater Joschka Fischer betont. Heißt: Wer in einer Demokratie den Krieg wirklich will, sollte sich von der Bevölkerungsmehrheit keinesfalls beirren lassen. So ist es heute noch bei den Grünen, nur dass glücklicherweise nicht alle von ihnen jeden Krieg wollen. 2014 stimmte eine knappe Mehrheit der Grünen-Abgeordneten (34 von 63) gegen eine Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes. Von einem „langsamen Abrücken“ der  Grünen von dem längsten Kriegseinsatz der Bundeswehr, von „Ausstiegsszenarios“ war die Rede.

Andererseits kann von konsequentem Pazifismus bei den Ex-Idealisten bis heute keine Rede sein. Habecks Co-Vorsitzende Annalena Baerbock steht auf dem Standpunkt, der Rückzug der USA aus der „Verteidigung“ des europäischen Kontinents bringe neue sicherheitspolitische Herausforderungen mit sich. „Also müssen die Europäer zunehmend selbst für ihre Sicherheit sorgen“ sagte Baerbock im Spiegel-Interview. Da passt zwischen die Grüne und Angela Merkel kein Blatt Papier.

„Times they are-a-changin‘“

Früher waren die Grünen ein Gesamtprojekt, basierend auf einer Reihe von eng miteinander verzahnten Idealen: ökologisch, pazifistisch, basisdemokratisch, kapitalismuskritisch. Heute beschränkt sich ihr Angebot teilweise darauf, dafür zu sorgen, dass Investoren beim Profitieren nicht durch Radioaktivität gestört werden. Winfried Kretschmann, ein sehr behäbiger und situierter „Rebell“, wurde 2016 schon zum zweiten Mal zum Ministerpräsident Baden-Württembergs gewählt. Ist das wirklich ein Grund zur Freude?

Selbstverständlich unterscheiden sich die Grünen in manchen Nuancen von CDU und FDP. Der erklärte Vegetarier Robert Habeck trat etwa mit bemerkenswerten Aussagen zum Tierschutz an die Öffentlichkeit. „Wir töten Tiere, um sie zu essen. Wenn wir uns mal trauen würden, die Bedingungen, wie wir sie halten, zu hinterfragen, hätten wir wahrscheinlich alle nicht die Worte dafür“, schrieb Habeck in seinem Blog. Auch mobilisierten Grüne in Bayern gegen des Polizeiaufgabengesetz, das verstärkte Bespitzelung, Polizei-Autoritarismus und Präventivhaft für „Gefährder“ vorsah. Und auch Initiativen pro Volksbefragungen und mehr Bürgerbeteiligung wie im Fall der „Stuttgart 21“-Proteste gehen immer wieder aus den Kreisen der Bündnisgrünen hervor.

Es bleiben jedoch mindestens zwei Politikfelder, in denen sie absolut unzuverlässig sind: Kriegspolitik und Soziales. Beim Thema Hartz IV sind Grüne bis heute weit von einem Systemwechsel entfernt. In der Nachbereitung der Finanzkrise 2018 fordern die Reckinnen und Recken um Cem Özdemir keine wirklich wirksamen Maßnahmen zur Verhütung weiterer Krisen, etwa die Zerschlagung der Großbanken. Hinzu kommt: Was die Grünen heute fordern ist vermutlich „radikaler“ als das das, was tatsächlich geschehen würde, wären sie morgen an der Regierung

Sozial blinder Ökosnobismus

Diese Haltung ist ein Spiegel der Einkommenssituation der Grünen-Wählerschaft, überwiegend gutverdienende, „bildungsnahe“ Schichten, viele davon „Lohas“ (Lifestyle of Health and Sustainibility“). Überspitzt gesagt, brannten die Grünen der ersten Generation für die Gerechtigkeit und wollen das politische System grundlegend reformieren. Moderne Grüne dagegen setzten ihre finanziellen Privilegien zur Bewahrung ihrer Körpergesundheit ein. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden. Es ist besser als ein dumpfes Leben, das die Umwelt und zugleich den eigenen Körper schädigt. Aber es fehlt das Gefühl für die Bedürfnisse derer, die nicht dem eigenen „Milieu“ angehören. „Als sie die Hartz IV-Empfänger demütigten, habe ich geschwiegen. Ich war ja kein Hartz IV-Empfänger.“ Verbreitet ist ein sozial blinder Ökosnobismus, der z.B. ökologischen Fortschritt stets über Preise und Strafen erzwingen will: Beispiel: Müllentsorgungspreise, Benzinpreise. Das belastet Arme überproportional und motiviert Reiche nur ungenügend. Eine solche Politik ist Spiegel einer Klientel, bei der es auf 100 Euro mehr oder weniger pro Monat nicht ankommt.

Dennoch ist es meines Erachtens der falsche Ansatz, Grüne und ihre Wählerschichten überwiegend über ihren „Lifstyle“ anzugreifen. CSU-Mann Alexander Dobrindt kommentierte den grünen Einfluss auf die Koalitionsverhandlungen im Oktober letzten Jahres mit dem Bonmot: „Jetzt ist uns Tofu in die Fleischsuppe gefallen.“ Und Cem Özdemir stimmte selbst in den Spott gegen sein Klientel ein, als er sagte, gegen Islamisten können man nicht „mit Yogamatte unter dem Arm“ vorgehen. Dazu brauche es Waffen. Beiden Spott-Ergüssen ist gemeinsam, dass Gewaltverzicht – gegen Tiere durch Verzehr einer „Fleischsuppe“, gegen Menschen durch Beteiligung an Kriegshandlungen – ins Lächerliche gezogen wird.

So fallen viele Klischees gegen das grüne Milieu auf die Kritiker zurück. Diese müssen sich fragen, was sie denn anstelle eines ökologischen Lebensstils, biologischer Ernährung, der Fairness gegen Minderheiten und einer weltoffenen Grundhaltung präferieren würden. Viele Einzelheiten sind in jüngerer Zeit durch den – fair gehandelten – Kakao gezogen worden: Vom „Latte-Macchiato-Linken“ bis zum „Rucola- und Smoothie-Milieu“. Gemeinsamen ist diesen Klischees meist, dass sie mangelhaft belegt sind und nur gefühlte Eindrücke transportieren. So schrieb ein Kommentator auf tagesschau.de über die Grünen: „Sind das nicht die Leute wo die Ehefrau mit dem SUV und Schäferhund 500 m zum Bioladen fährt um ‚ökologisch‘ und ‚politisch korrekt‘ einzukaufen? Sind das nicht die, die jeden über die ‚richtige‘ Kindererziehung belehren, die eigenen Kinder aber auf die Privatschule schicken?“ Ein weiterer Angriffspunkt ist „gegenderte Sprache“, die vielfach als affig oder als sprachpolizeiliche Einmischung verstanden wird.

Grünen-Bashing – oft aus den falschen Gründen

Sicher gibt es in diesem Milieu, wie in jedem anderen Macken und Übertreibungen, die zu satirischer Überspitzung einladen. Aber seien wir ehrlich: Ist das Currywurst-Milieu wirklich vorzuziehen? Wünschen wir uns eine kulturelle Dominanz derjenigen Zeitgenossen, die dreimal täglich unfair gehandelte, unbiologische Fleischprodukte aus Qualtierhaltung essen, deren einzige Körperübungen im einarmigen Bierkrug-Stemmen besteht, die auf ihren Motorrädern lustvoll unnötige Kilometer verfahren, den Islam auf Ehrenmorde und Terrorismus verkürzen und auch weibliche Studierende beharrlich als „Studenten“ bezeichnen? Auch das ist natürlich ein Klischee – wie  jenes vom „urbanen, bourgeoisen, überheblichen Ökolinken“. Was letztlich zählt, ist die Glaubwürdigkeit und das menschliche Verhalten jedes Einzelnen.

Für mein Gefühl gehört der „Lifestyle“ der Grünenwähler eher zu ihren liebenswerten Eigenschaften. Vielleicht auch weil ich ihn teilweise teile – jedenfalls wo er nicht zu kostenintensiv ist. Und weil ich Grünen-Sympathisanten kenne, die zwar recht gut verdienen, dies jedoch tatsächlich verdientermaßen: durch Leistung. Ich habe Bedenken, dass undifferenziertes Grünen-Bashing nur Teil einer antiliberalen Verrohung des Zeitgeists ist. Dem Grünen-Kritiker dieses Typs ist die ganze Richtung irgendwie zu weichlich und zu kompliziert. Lieber sind ihm die geradlinige Xenophobie „ehrlicher Kerle“ und das kumpelhaft-ignorante Hinwegspötteln über den eigenen umweltschädlichen Lebensstil.

So wird den Habeck-Grünen unserer Tage nur allzu gern in der Presse beschieden, sie hätten sich von Jugendflausen wie dem „Veggie-Day“ – einem Wahlkampfvorschlag des Jahres 2013 – ja nun endlich verabschiedet. Dabei war es der letzte idealistische Funke der ehemals ja auch pazifistischen, sozialistischen und basisdemokratischen Partei, der mit dem Veggie-Day unter der Dauerberieselung wohlfeilen Spotts erloschen ist. Es wäre nur um einen fleischfreien Tag in der Woche gegangen. Freiwillig. Doch die konkurrierenden Parteien nutzten den Vorstoß weidlich, um gegen die vermeintlich spaßfeindliche „Verbotspartei“ Grüne zu agitieren. Auf die Sympathie der meisten Wählenden, die ihr Kreuzchen am Wahltag mit Fleischfasern zwischen den Zähnen machten, konnten CDU, SPD & Co dabei stets zählen.

Nicht jeder „muss“ natürlich Veganer oder Vegetarier sein; aber für erklärte Umweltschützer wäre es unabdingbar, die Fleisch- und Milchwirtschaft ohne Wenn und Aber in Frage stellen. Man „muss“, auch nicht unbedingt dafür sein, dass Flüchtlingen geholfen wird, wohl aber wenn man sich auf das Christentum und das Gebot der Nächstenliebe beruft. Angesichts der Verwüstungen, die durch Tierzucht und Tierfutteranbau Tag für Tag angerichtet werden und in Anbetracht der unfassbaren Leiden der Tiere war der „Veggie-Day“ doch noch ein recht zaghafter Vorschlag.

Verbessertes Almosenmanagement

Nein, was man den Grünen vorwerfen kann, ist nicht das vermeintliche Übermaß an Humanität, das sie vorübergehend gegenüber Tieren gefordert haben, sondern der Mangel an Humanität, der aus ihrer Politik in den Bereichen Friedenssicherung und Soziales spricht. Hier arbeiten sich die neuen, smarten Grünen am historischen Versagen ihrer Vorgänger doch nur recht halbherzig ab, wenn sie dem Kapitalismus durch verbessertes Almosenmanagement ein freundlicheres Gesicht zu schminken versuchen.

Viele an alternativen, nachhaltigen Lebensentwürfen interessierte Menschen besaufen sich derzeit an der Grünen-Renaissance, nicht begreifend, dass auch auf den Feldern Soziales und Finanzen Nachhaltigkeit überlebenswichtig für eine Gesellschaft ist. Viele Fragen bleiben so in gefährlicher Weise ungelöst, Fragen, die, würde man sie endlich stellen, eher auf eine Wahlentscheidung für die Linken hinauslaufen würde. Natürlich haben auch die ihre blinden Flecke, aber bei den Grünen füllen besagte Flecke schon einen ziemlich großen Teil des Sichtfelds aus.

Wie lange wird die Freude über den Durchmarsch des schmucken Grünen-Führungsduos Habeck und Baerbock andauern? Zumindest die Älteren unter uns sollten durch Enttäuschung zu klug geworden sein, um sich noch in eine Grüneneuphorie hinein zu steigern. Oder sich gar nach einer Regierung Nahles-Habeck-Bartsch zu verzehren. Jede Parteienmode vergeht – der Neoliberalismus bleibt. Grüner wird’s vielleicht nicht mehr.

Die Lage erinnert an 2011, als die Grünen schon einmal bei Umfragen die 20-Prozent-Hürde übersprangen, gefährlich an die SPD heranrückten – die sie 2018 ja hinter sich gelassen haben – und als „neue Volkspartei“ gehandelt wurden. So verständlich auch die Häme über den Absturz der Hartz IV-Partei SPD sein mag – er bedeutet auch, dass wir auf absehbare Zeit von CDU-Kanzlern regiert werden. Als ob der Neoliberalismus nicht schon schlimm genug wäre, werden wir es mit smarten und schneidigen Akteuren zu tun bekommen, die die konservative Seele der Partei schmeicheln und gleichzeitig den Turbokapitalismus unverblümter vorantreiben werden als Merkel.

Smartere Steigbügelhalter für einen CDU-Kanzler

Die Union will (und wird vermutlich) der FC Bayern unter den Parteien bleiben. Der wird natürlich nicht immer Deutscher Meister – aber doch fast immer. Die kurzen Episoden, während derer die SPD auf dem Siegertreppchen stand, dienten nur dazu, den Anschein von politischem Wechsel und echten Alternativen aufrecht zu erhalten. Und nichts ist dem Projekt „Union forever“ dienlicher als die Aufspaltung des gemäßigt linken Lagers in zwei Blöcke, die jeweils ungefähr 15 bis 25 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Das reicht dann für einen der beiden zum Juniorpartner. SPD und Grüne dürfen sich künftig darum raufen, wer unter einem CDU-Kanzler dienen „darf“. Der Gewinner bekommt es mit einer unzufriedenen Minderheit im eigenen Lager zu tun, die mehr Überzeugungstreue fordert und die GroKo am liebsten gleich wieder verlassen würde. Das schwächt den kleineren Koalitionspartner, und seine Umfragen sacken ab. Und weiter geht das Spiel mit einem anderen Spieler.

Der Januar 2018 ist insofern historisch als sich die Grünen seit der Wahl Habecks und Baerbocks nun endlich ehrlicherweise dazu bekannt haben, dass ein „fundamentalistischer“ Flügel bei ihnen schon lange nicht mehr existiert. Ein paar vereinzelte Federn – man denke etwa an den wackeren, mittlerweile auch pensionierten Christian Ströbele – machen noch keinen Flügel aus. „Realpolitiker“ können jetzt durchregieren und sich einer Realität anpassen, die immer stärker vom Bedürfnis des Kapitals nach Selbstaufblähung bestimmt wird. Im Gegensatz zum Stimmenwachstum der Grünen wird diese Art von Wachstum nicht an Grenzen stoßen. „Realpolitik“ bei den Grünen ist wahrlich nicht neu; neu ist nur, dass nicht einmal mehr pro forma der Anschein aufrechterhalten wird, man sei noch eine Partei der Utopien und festen Prinzipien.

Dass Rot-Grün seit den Tagen von Holger Börner und Gerhard Schröder so gut funktionierte, ist angesichts der Verwüstungen, die diese Regierungen im Sozialsystem und in der friedenspolitischen Tradition Nachkriegsdeutschlands angerichtet haben, ohnehin peinlich genug. Nun gehen die Ex-Idealisten aber gleich noch zwei Schritte weiter, indem sie Schwarz-Grün nicht nur unter schwerem innerem Ringen in Erwägung ziehen, sondern ganz offen anstreben – so als handele es sich um eine Selbstverständlichkeit. Schon während der Koalitionsverhandlungen Ende 2017 war es der verantwortungsscheue Christian Lindner, der die äußerst willigen Grünen in letzter Minute aus dem schon gemachten Bett der Union zerren mussten. Und dies angesichts einer CSU, die sich mit den Wüterichen Seehofer und Dobrindt auf einem absoluten Tiefpunkt ihrer Glaubwürdigkeit befanden.

Peinliches Liebeswerben um die „rechte Braut“

Der Vorsitzende der bayerischen Grünen, Ludwig Hartmann, buhlte am Wahlabend, dem 28. Oktober, geradezu aufdringlich um die rechte Braut CSU. Auch hier lag es nicht an der „Überzeugungstreue“ der durch Stimmenzuwachs gestärkten Grünalternativen, dass die Ehe unvollzogen blieb. Vielmehr musste erst Markus Söder, bekannt für seine harte Hand in der Flüchtlings- und Sicherheitspolitik, das Liebeswerben brüsk zurückweisen. In Hessen schienen die Grünen unter Tarek Al-Wazir froh, „im Boot“ bleiben zu können. Unanständige rot-rot-grüne Experimente, wie sie unter Andrea Ypsilanti 2008 einmal angedacht worden waren, blieben ihnen erspart.

So wächst zusammen, was offenbar zusammengehört. Die Grünen tragen das Label „konservativ“ mit Stolz, denn schließlich wollen auch sie etwas bewahren: die Umwelt. Da stört es nicht allzu sehr, dass der Sozialstaat und die Bürgerrechte mit ihrer Duldung nicht mehr bewahrt, sondern im Gegenteil sturmreif geschossen werden. Und die neoliberalen Hardliner in der Union dulden die milieubedingten Marotten ihres Juniorpartners wie „gegenderte“ Sprache, Schwulenehe oder leise Kritik an der industriellen Landwirtschaft, solange diese nur Randthema und nicht den Markenkern des Neoliberalismus betreffen. Das kalte Herz unserer Epoche schlägt auch mit grüner Hilfe im schnellen Takt von Wachstum, Profit und Ordnung. Schließlich wollen sich auch Profiteure und Spekulanten nach dem Profitieren und Spekulieren mal bei einem Spaziergang in einem ökologisch halbwegs intakten Wald erholen.

Da es für einen Kanzler Habeck vermutlich nie reichen wird – dazu wäre schon der potenzielle Partner SPD zu schwach –, bereiten sich die Grünen bereits psychisch auf die kommende öko-neoliberale Koalition vor. Lieber vielleicht mit Annegret Kramp-Karrenbauer. Aber auch mit dem Lobbyisten der Finanzindustrie Friedrich Merz würde es gehen. Der lobte die Grünen in der „Bild am Sonntag“ und bezeichnete sie als „sehr bürgerlich, sehr offen, sehr liberal und sicherlich auch partnerfähig“. Na, Gott sei Dank. Der Zusammenschluss mit den DDR-Rebellen vom „Bündnis ‘90“ hatte den Grünen zusätzliche Glaubwürdigkeit eingebracht. Das Bündnis 2021 wäre wohl eines mit den Marktradikalen von CDU und CSU.

Haben Sie schon einmal einen Feigenbaum in natura gesehen? Die Farbe seiner Blätter ist grün.

 

 

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