Hallo, Autobahn!

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Warum nutzt eigentlich niemand – gefühlt niemand – die Autobahn als Metapher? Dabei beschreibt sie doch ungeheuer exakt unsere Art zu leben, Rastplätze inklusive. Ersetzen Sie doch mal in Gedanken eine Autobahnraststätte durch einen Tante-Emma-Laden. Geht nicht? Stimmt, geht nicht. Bobby Langer

Der Tante-Emma-Laden an einer Autobahn ist strukturell unmöglich. So wie unser Menschsein. Auf der Autobahn sind wir alle Autofahrer; sind trotz aller unserer Verschiedenheit gleich, folgen den nervtötend gleichen Regeln, blinken, fahren auf die Überholspur, haben kurz Mitleid mit dem Fernfahrer, der von Istanbul nach ehemals Großbritannien unterwegs ist, stellen unser Mitleid ein, machen das Radio an, hören die Staudurchsage, beißen in das belegte Brötchen, lockern den Gasfuß ein wenig, denken kurz an das Leben außerhalb der Autobahn – und fahren weiter.

Die Krönung der Autobahn ist das Autobahnkreuz, idealerweise ein komplexes Autobahnkreuz, an dem sich mehrere Autobahnen ingenieurtechnisch elegant miteinander verzahnen und Autos und Lkws aus vielen Richtungen in viele Richtungen fahren, hintereinander, nebeneinander, übereinander, untereinander, aber immer sauber coronid getrennt, kontaktlos, erkennungsdienstlich wohl geschieden, TÜV-geprüft und diszipliniert. Und schnell, so schnell, schneller als das Leben. Aber das fällt nicht auf, denn das Leben findet außerhalb und unverständlich langsam statt, in Mittel- und Randstreifen und vorüberhuschender Natur und einem sehr selten an der Windschutzscheibe zerplatzenden Käfer. Den Rückspiegel nutzen wir, um Störungen zu identifizieren. In ihm sehen wir nur, was wir auch vor uns sehen: Autobahn.

Manchmal ergeben sich im Inneren des Autos Gespräche. Manchmal spricht man innerhalb des Autos freier und intensiver über Dinge, an die man sonst nie gedacht hat. Oder jedenfalls selten. Man ist zusammengesperrt und meistert entweder die Intimität oder die Verlegenheit mit Worten, die dann schon mal versehentlich in die Tiefe – oder Untiefen – abgleiten. Manchmal gelingt oder vielmehr passiert uns das. Meistens aber begegnen wir der eigenen Leere. Drei Stunden Fahrt und dreimal was Sinnvolles gedacht: Das wäre eine reiche Ernte. Bei 120, 140 oder 170 Stundenkilometern ist Denken gefährlich, Träumen erst recht. Stattdessen funktionieren wir perfekt. So wie immer eben, jedenfalls meistens immer.

Auf der Autobahn ist alles geregelt. Sogar Autobahnkapellen gibt es für die kurze spirituelle Notdurft. Und Autobahntoiletten, die staatlich schmutzigen und die privaten teuren. Früher sah man Männer auf Parkplätzen an den Wald herantreten und Frauen diskret mit gefaltetem Toilettenpapier im Wäldchen verschwinden. Solche Menschen sind heute Ausnahmen geworden. Der gute Autobahnfahrer bezahlt für seine Grundbedürfnisse. Das ist zunehmender Konsens, heimlicher jedenfalls. Denn auch mit unserem Urin muss Gewinn gemacht werden, so wie mit unserm Hunger und unserer Müdigkeit, die wir mit Kaffee und Aufputschdrinks in den Griff kriegen. Nur an die Liebe ist auf der Autobahn nicht gedacht, nicht einmal an die käufliche. Noch nicht.

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