Hinter den Erzählungen

 In FEATURED, Philosophie, Spiritualität

Es gibt einen Raum hinter den Erzählungen. Hinter allen Erzählungen gibt es diesen Raum, und er ist leer. Hinter dem, was der Fall ist und was nicht, was gut ist und was nicht, wer Recht hat und wer nicht, gibt es diesen Raum, in dem alles möglich ist. Alle Arten von Erzählungen sind geeignet Menschen zu  faszinieren und zu bewegen. Sie tun das im Einzelnen und massenweise. Es gibt fesselnde Erzählungen und fesselnde Bücher, sie werden dafür gelobt, dass sie fesseln. Befreiende sind viel seltener. Und nur wer Zugang zu dem Raum hinter den Erzählungen hat, wird von ihnen nicht zu sehr gefesselt, sondern kann Frieden schaffen, Konflikte lösen und Heilung bewirken. Wolf Schneider, connection

Meine Art, diesen Raum zu betreten, ist das Einsinken in das, was ich sehe, höre, fühle, erlebe, gerade jetzt. In diesem Erleben bin ich mit meinem Bewusstsein, meiner mich widmenden Zuwendung, Zuneigung, attention einfach da. Ich wende mich dem liebend zu, was da jeweils gerade ist und bin das dann. Das bewirkt fast unverzüglich Frieden in mir und mit allem drumherum. Es wird still, auch wenn ‚da draußen‘ Lärm ist.

Wer ich bin

Trotzdem bin ich auch dann und sowieso immer noch ein eigenes Wesen, das eine Haltung (attitude) hat gegenüber diesem und jenem. Das Handlungsoptionen hat und Subjekt von Handlungen ist. Ich bin derjenige, der dies schreibt und euch im Folgenden ein paar Links setzt zu Menschen und Perspektiven, auf die »ich« euch hinweisen möchte. Mag ja sein, dass dieses Ich nur ein Kanal ist, durch den Großes oder Kleines strömt, Gott oder die Natur, Affektives oder Weises. Trotzdem nenne ich diesen Kanal »ich«, so wie auch du dich und deine Kanäle »ich« nennst.

Trennung oder Vereinigung?

Fabian Scheidler schrieb hier in der BZ über die isolierten Friedens-, Gerechtigkeits- und Öko-Bewegungen. Manchmal scheint mir sogar, dass ‚die Rechten‘ international besser kooperieren als die Linken und die Grünen. Obwohl das Lied »die Internationale« doch von den Linken erfunden und gesungen wurde und nicht von den Faschisten, Faschistoiden und Rechtspopulisten, die heute immer enger international kooperieren und anscheinend immer erfolgreicher werden. Auch über Julian Assange und Whistleblowing schreibt Fabian Scheidler, der Autor der »Megamaschine«.

Ähnlich zeitkritisch schreibt David Goeßmann über den Aufstieg der AfD und das Versagen der jetzigen Regierungsparteien.

Ja, wir brauchen wieder eine Gegenkultur, denn auch die Grünen sind nun Teil des globalen Systems geworden. Eine solche counter culture wird dann wohl außerparlamentarisch sein müssen, denn im Parlament sitzen nur noch Systemfreunde.

Lula, der Präsident von Brasilien, der unserem Bundeskanzler die Unterstützung bei der Lieferung von Munition an die Ukraine verweigerte, kritisierte in seiner Rede am 9. Juli in Paris UNO, IWF und Weltbank. Endlich mal wieder ein Politiker von Rang, der über den Tellerrand seiner eigenen Nation blickt und das Weltganze ins Auge fasst. Gorbatschow und Mandela sind tot, ihr Erbe ist fast verschwunden. Auch Obama war einst ein Hoffnungsträger für die Welt, er hat sich jedoch in seiner Regierungszeit vom System gefangen nehmen lassen. Was wird aus Lula? Ich hoffe, dass er standfest bleibt und (weiterhin) weit über sein Land hinaus denkt und wirkt.

Wo stehen wir gerade?

In Claus Eurichs Blog finde ich viele Ansatzpunkte für eine klug durchdachte neue Gegenkultur. In seinem Eintrag Vom Ende einer Erzählung weist er mit weitem Panoramablick auf die Defizite des aktuell herrschenden Zeitgeistes, unsere Wirtschafts-, Fühl- und Denkweisen hin, mit immerhin ein bisschen Verweis darauf, wie es anders sein könnte. Diesen Verweis will er in seinen darauf folgenden Blogeinträgen liefern.

Der größte Krieg wütet in Äthiopien

Der Global Peace Index (vom IEP in Sydney) veröffentlichte Zahlen über das starke Ansteigen von kriegerischen Konflikten in den vergangenen 15 Jahren. Insbesondere seit 2020 und 2021 seien diese Konflikte angestiegen. In 2022 gab es indes die größte Anzahl an Todesfällen durch kriegerischen Konflikt nicht in der Ukraine (82.000), sondern in Äthiopien (104.000) schreibt das Institute for Economics an Peace IEP. Von dem dortigen Konflikt mit der abtrünnigen Region Tigray wissen hierzulande nur wenige. Seit seinem Beginn in 2022 sind ihm circa 600.000 Menschen zum Opfer gefallen.

Um hier nicht wieder erörtern zu müssen, warum unsere Medien nicht von diesem Konflikt berichten, sondern zig mal mehr von Putin und dem Ukrainekrieg, verweise ich diesmal lieber darauf, wie Frieden entsteht: durch Bewusstwerden des Raums hinter den Grenzen.

Diese Grenzen werden von unseren Überzeugen erschaffen, die wir mit unseren Erzählungen verstärken oder sogar erst erschaffen. Hier nun mein ethisch-politischer Standpunkt: In Äthiopien ebenso wie in der Ukraine sollten die Grenzen so gezogen werden, wie es vor allem für die dort lebenden Menschen gut ist. Für die Kriegsparteien ist das jedoch offensichtlich kein Wert, jedenfalls kein hoher. Dass die Krim zur Ukraine »gehört«, ist hierzulande die gängige Erzählung. Ob das für die dort lebenden Menschen gut ist, wäre aus meiner Sicht die entscheidende Frage. Entspricht das dem von den Großmächten mal so, mal so gehandhabten Völkerrecht? Diese Frage mag für Juristen interessant sein. Die dort lebenden Menschen haben andere Probleme, sie wollen, dass der Krieg endlich aufhört. Ähnliches gilt für den noch schlimmeren Krieg um Tigray.

Keinesfalls sollte Milizen ebenso wie nationalen Streitkräften erlaubt werden, historisch gezogene Grenzen mit Gewalt zu überschreiten, aber auch nicht, sie gegen den Willen der Bevölkerung aufrecht zu halten.

Krieg lohnt sich

Der Economist, die führende Wirtschaftswochenzeitung der Welt, zeigte in  Überschriften wie er zum Ukrainekrieg steht:

Krieg im Economist.png

Der Fokus des Economist liegt auf den geschäftlichen Chancen, die Krieg bietet. Der in der Ukraine bietet in der Hinsicht eben einiges mehr als der Krieg der armen Leute in Äthiopien, der hier nicht einmal erwähnt wird, weil damit kein Geschäft zu machen ist.

Auch dem Economist ist bewusst, dass es in Europa neben den Kriegsgewinnlern ‚leider’ auch Pazifisten gibt, die das Geschäft mit dem Krieg stören. Um klar zu machen, dass die Kriegförderer und -profiteure die Guten sind, sie schützen ja die Ukrainer, und die Bremser der Eskalation die moralisch Schlechten sind, werden sie hier »Putins nützliche Idioten« genannt:

Putin im Economist.png

Es es zu spät, KI noch zu zähmen?

Nun von den Kriegen und Kriegsgefahren zu einer anderen Gefahr: KI, die künstliche Intelligenz. Sie bedeutet für die Welt eine Gefahr, welche die der Atomkernspaltung noch übertreffen könnte, schreibt die Washington Times in einer Zusammenfassung vom 26. Juli. Dies sei ein neuer »Oppenheimer moment« – eine Situation, in der die Erforscher und Erfinder von KI bereuen könnten, diese Mittel der Menschheit zur Verfügung gestellt zu haben.  Ist es zu spät, die Gefahr von KI zu bannen, so wie es für Oppenheimer war, den Verwirklicher der ersten Atombombe, als ihn nach Hiroshima Reue quälte und er Präsident Truman bat, die Entwicklung nicht weiterzuverfolgen? KI ist bereits jetzt dabei, das Wettrüsten von Drohnen zu beschleunigen. Es kann in die Hände von Gestalten gelangen, gegen die die jetzigen – auch militärischen und kriminellen – Nutzer geradezu engelhaft wirken. Und es kann sich selbständig machen gegenüber jeder menschlichen Steuerung.

In ähnlicher Weise fokussiert auch die ARD in ihrer 14 min Sendung Schwerpunkt KI auf die Gefahren von künstlicher Intelligenz.

Heilung durch Psychedelika

Schon im März 2014 brachte die ZEIT einen Artikel über Peter Gassers Experiment, Sterbenden LSD zu verabreichen. Immerhin sind Forschung und Gesellschaft im Hinblick auf die Heilungschancen der Psychedelika inzwischen ein bisschen weiter, und auch die sogenannten normal Gesunden betreiben damit Selbsterforschung. Unser Sprachgebrauch hinkt der Entwicklung allerdings noch nach, etwa in der Unterscheidung zwischen Drogen und Medikamenten. Beides kann Heilmittel oder Gift sein und bei beidem ist die Dosierung entscheidend. Der Unterschied ist nur, dass die Gesellschaft die einen Substanzen diskreditiert und illegalisiert und die anderen das Geschäft einer ganzen Industrie sind, die ähnlich dem militärisch-industriellen Komplex für die Profiteure der alten Gesellschaft als »to big to fail« erscheinen. Heilmittel kann beides sein, Droge wie Medikament. Set und Setting sind dabei entscheidend, der Kontext und auch die Persönlichkeit des Verabreichenden, wie die Placebo/Nocebo-Forschung seit Jahrzehnten weiß und der Schamanismus seit Jahrtausenden.

Die Mühlen der Institutionen mahlen jedoch langsam. Seit dem ZEIT-Artikel von 2014 ist die Legalisierung der psychedelischen Substanzen ein paar Schritte weiter, wie die NZZ am 18. März berichtete. Es heißt, dass es noch etwa fünf Jahre dauern wird, bis sie in Deutschland legal zu Heilungszwecken eingesetzt werden dürfen. Inzwischen begleiten Kenner der Substanzen trotz legaler Grauzone Heilungsuchende und Selbsterforscher mit beträchtlichen Erfolgen. Auch hier ist der pharmazeutisch-medizinische Komplex eher ein Hindernis der Entwicklung als als Motor des Fortschritts.

Kunst

Holy Shit – eine Sendung von Arte über Spiritualität in der Kunst und die famose New Yorker Künstlerin Marina Abramovic. In der Einleitung assoziiert Arte Spiritualität allerdings mit Kitsch, was ja nur für einen großen (und vor allem den kommerziellen) Teil der Spiritualität gilt. In ihrem TED-Talk vom Dezember 2015 spricht Marina Abramovic über Stille, Berührbarkeit, Kunst und direkte Begegnung (direct connection) in ihren Performances.

Irrtümer

Wir Menschen können uns irren. Ich dachte mal, eine junge Frau, zumal von den Grünen, würde als Kanzlerin unserem Land (und der Welt) guttun, denn Männer seien die Krieger, Frauen haben mehr Empathie, und die Grünen schützen die Natur und den Frieden. Heute schäme ich mich für diesen Irrtum und bin froh, dass Annalena Baerbock nur Außenministerin geworden ist, das ist schlimm genug. Ich dachte auch mal, dass vor langer Zeit – vielleicht vor der Erfindung der Landwirtschaft – mehr die Frauen herrschten als die Männer, und dass das gut war. Aber auch das Matriarchat der Vorgeschichte scheint heute Fachleuten als ein Irrtum.

Such du nicht, es gibt nichts zu finden

Das folgende Gedicht von Mascha Kalêko heißt »Resignation für Anfänger«. Ich würde es eher »Spiritualität für Anfänger nennen. Sie hat es in ihrem letzten Lebensjahr geschrieben, nachdem vorher ihr Mann und dann ihr einziger Sohn gestorben waren.

Suche du nichts. Es gibt nichts zu finden,

Nichts zu ergründen. Finde dich ab.

Kommt ihre Zeit, dann blühen die Linden

Über dem frischgeschaufelten Grab.

Kommt seine Zeit, dann schwindet das Dunkel,

funkelt das wiedergeborene Licht.

Nichts ist zu Ende. Alles geht weiter.

Und du wirst heiter. Oder auch nicht.

Zwischen Vergehen und Wiederbeginnen

Liegt das Unmögliche. Und es geschieht.

Wie und Warum waren nie zu ersinnen.

Neu klingt dem Neuen das uralte Lied.

Geh nicht zu Grunde, den Sinn zu ergründen.

Suche du nicht. Dann magst du ihn finden.

Gehe mutig voran

Gerd Scobel habe ich neulich in seiner TV-Sendung im Dialog mit Thomas Metzinger sagen hören: »Pioniere erkennt man an den Pfeilen im Rücken.« Soll ich mich und uns dadurch getröstet oder ermutigt fühlen? Zudem sind Pfeile im Rücken ja noch kein Beweis für eine gute Art des Vorangehens. Dennoch möchte ich, wie in diesem Lied von Reinhard Mey, hier mal wieder den Mut loben:

Was keiner wagt, das sollt ihr wagen.

Was keiner sagt, das sagt heraus.

Was keiner denkt, das wagt zu denken.

Was keiner anfängt, das führt aus.

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