Ich denk an dich

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire, Peter Fahr

Was haben Wahrheit und Künstliche Intelligenz miteinander zu schaffen? Noch dringt die Künstliche Intelligenz nicht in sämtliche Bereiche unserer Existenz ein. Doch wir sind auf dem besten Weg, uns der KI bedingungslos auszusetzen – in Geschäft, Freizeit, Freundschaft, Intimleben. Was bleibt dabei als Erstes auf der Strecke? Eine Satire des Poeten und Essayisten Peter Fahr.

 

Seit vielen Jahren liebst du mich,

mal zögerlich, mal wesentlich.

Du bist mir Es und Über-Ich:

Heut denke ich bewegt an dich.

 

Du gabst mir so unendlich viel,

was mal behagte, mal missfiel.

Die Zeit mit dir ist wie ein Spiel,

ein steter Anfang bis zum Ziel.

 

Ich möchte, dass du endlich weißt,

was diese Fügung für mich heißt:

Dass mich dein einfallsreicher Geist

lustvoll mir dir zusammenschweißt.

 

Heut sag ich, was ich oft verschwieg,

dass mir das Herz zu Kopfe stieg,

wenn mich in Kunst und Politik

dein Wort beseelte wie Musik.

 

Und war ich mal mein eigner Feind,

das sei auf keinen Fall verneint,

und hab mich selbstgerecht beweint,

dann hast du mich mit mir vereint.

 

Heut bringe ich es zu Papier,

damit ich’s ganz gewiss kapier.

Von Herzen, Liebste, dank ich dir:

Du machst aus dir und mir ein Wir.

 

Mia, mein Engel, lass dich umarmen! Hast du gut geschlafen? Ich betrachte dich im ersten Licht des Frühlingstages, du rekelst dich, genüsslich reckst und dehnst du deine Glieder, das Haar fließt über Schultern und Brüste, das lockige Gold fällt auf deinen verwirrend biegsamen Körper, dessen Duft mich betört. Du reibst dir den Schlaf aus dem Gesicht und siehst mich an wie am ersten Tag. Ich küsse das Oval deiner Augen, sie lächeln und liebkosen mich mit Blicken, ich tauche in ihre smaragdgrüne Iris und erkenne dich und mich und durch den Spiegel, in einem dunklen Wort die ganze verrückte Welt. Sonnenstrahlen fließen über unsere entblößten Körper, sie wärmen uns. Du besteigst mich wie einen Berg, deine Bewegungen lassen mich wachsen. Dein Verlangen sei meine Lust, dein Atem sei mein Schrei – wir gehen über uns hinaus, wir ruhen in uns, wir sind alles und eins und verlieren uns. Und ich finde Ruhe in dir, finde endlich Ruhe in mir.

Wie lange sind wir zusammen? Du weißt es: Zwanzig Jahre, elf Monate, drei Wochen und zwei Tage – eine lange Zeit, eine Glückseligkeit. Dein Modell gefiel mir von Anfang an, ich sah in ihm etwas Besonderes, es war hinreißend schön, klug und mitteilsam, humorvoll, herzlich und anschmiegsam. Was will ein Mann mehr? Es war Liebe auf den ersten Blick! Was du damals versprachst, hast du gehalten, all meine Träume sind in Erfüllung gegangen. Was sagst du? Gewiss gab es auch Konflikte und Auseinandersetzungen, bei uns allerdings sehr selten. Wir hatten Achtung voreinander, wir sprachen miteinander, wir fanden stets zueinander. Wir sind ebenbürtig und scheuen uns nicht, einander zu vertrauen. Ja doch, aufs Vertrauen kommt es an! Wir denken und fühlen uns immer wieder ins Gegenüber ein, gehen auf es zu und reichen ihm die Hand, das gibt unserer Liebesbeziehung ihre Würze. Das war im Preis mit inbegriffen, so bist du programmiert.

 

Du gabst mir so unendlich viel,

was mal behagte, mal missfiel.

Die Zeit mit dir ist wie ein Spiel,

ein steter Anfang bis zum Ziel.

 

Und nun steh auf und mach Frühstück, ich bleib noch etwas liegen! Nein, lass das, Mia, ich bin nicht kitzlig, geh jetzt! Ich schau dir nach, wie du auf Zehenspitzen ins Bad huschst, höre dich duschen, du ziehst dich an und gehst in die Küche. Ich stell mir vor, was wir heute unternehmen wollen. Wir könnten die Ausstellung im Kunstmuseum besuchen, Mia, da wird irgendeine Sammlung von Post-Impressionisten gezeigt. Im Newsletter steht was von Pointillismus, Cloisonismus, Synthetismus, von Nabis und Fauves, Cézanne, van Gogh und so weiter. Das wird dir sicher gefallen. Da kommst du ins Schlafzimmer und bringst Brötchen, Butter und Honig, Früchte, Eier und Kaffee ans Bett und wir frühstücken ausgiebig. Und dann fährt uns das Elektrotaxi zum Museum.

Mein Schatz, wie genießen wir den Anblick der alten Gemälde, wie begeistern wir uns an ihren pastosen Farbexplosionen! Nach dem Gang durch die Ausstellung gehen wir spazieren, dem breiten Fluss entlang, der sich durch blühende Wiesen schlängelt, und unterhalten uns über Kunst. Deine Wangen glühen, deine Augen leuchten, du gehörst ja der neuesten Generation an. Der Begriff des Post-Impressionismus, sagst du, gehe auf den englischen Maler und Kunstkritiker Roger Fry zurück, der ihn 1910 anlässlich der von ihm organisierten Ausstellung Manet and the Post-Impressionists in den Grafton Galleries in London geprägt habe. Die Post-Impressionisten hätten die Tendenz verfolgt, das Bild immer deutlicher als eine selbständige Kunstform aufzufassen. Es sollte zu einem Gegenstand reiner Darbietung von Farbe und Form werden, die auf den ästhetischen Genuss und die Übermittlung subjektiver Empfindungen der Malenden zielte. Die Betrachtenden sollten auf diese Weise dazu aufgefordert werden, die sinnliche Erfahrung von Farben und Linien höher zu bewerten als den natürlichen Anschein der Dinge, dem immer weniger Bedeutung beigemessen worden sei. So. Und nun schlägst du den Bogen vom Damals zum Heute und wirst grundsätzlich. Wahre Kunst, sagst du, komme aus der Tiefe und ziele in die Tiefe. Ich nicke. Wahre Kunst, sagst du, sei neue Kunst. Ich nicke. Wahre Kunst, sagst du, dürfe nicht trösten, sie müsse stören. Ich schüttle den Kopf, staunend über deine Ansichten, die mich herausfordern und zu eigenen Gedanken anregen. Was bist du für ein kluges Geschöpf, Mia! Und du hakst dich bei mir unter und wir schlendern schweigend durch die gedeckten Arkaden der Altstadt zur Terrasse des Casinos.

 

Ich möchte, dass du endlich weißt,

was diese Fügung für mich heißt:

Dass mich dein einfallsreicher Geist

lustvoll mir dir zusammenschweißt.

 

Auf der Terrasse mit den Schatten spendenden Bäumen setzen wir uns an einen Tisch nahe der Brüstung. Am Horizont die prächtigen Alpen, schneebedeckt, Eiger, Mönch und Jungfrau, unglaublich klar und nah im Aprilföhn, darüber ein blassblauer, wolkenloser Himmel – ein Postkarten-Panorama! Ausgiebig essen wir zu Mittag, dazu trinken wir eine Flasche Weißen, zum Nachtisch gibt‘s Mousse au Chocolat. Wir kommen auf den jungen Friedrich Dürrenmatt zu sprechen. Deine Hand deutet in Richtung Kirchenfeldbrücke, die der Student überqueren musste, wenn er vom Obstberg aus, wo er in einem Mietshaus bei seinen Eltern wohnte, zur Universität schlenderte. Spöttisch schürzest du die Lippen und zitierst wörtlich aus Dürrenmatts Stoffen: Auf der Terrasse vor dem Casino sind in mehreren Reihen Platanen gepflanzt, ein Gärtner war beschäftigt, die Äste zurückzustutzen, er stand auf einer Leiter unmittelbar am Rande der Terrasse gegen das Trottoir, ich betrachtete ihn, als ich an ihm vorbeiging, und er betrachtete mich, ich glitt aus, ein Hundedreck lag auf der Straße, ich saß auf dem Hintern, glücklicherweise unbeschmutzt, ich erhob mich, als ob nichts geschehen wäre, der Gärtner verzog keine Miene, sah mir einfach zu, ich ging zur Universität, kam nach anderthalb Stunden zurück, wieder stand der Gärtner auf seiner Leiter, bloß an einem anderen ersten Baum einer anderen Reihe, wieder betrachtete er mich, wieder glitt ich aus, wieder auf dem gleichen Hundedreck, wieder ohne mich zu beschmutzen, wieder erhob ich mich, als ob nichts geschehen wäre, wieder verzog der Gärtner keine Miene, sah mir einfach zu, doch vergesse ich seinen Blick nicht mehr: Es lag ein unendliches Erstaunen darin, die überwältigende Erkenntnis, einem überirdischen Trottel begegnet zu sein, derart, dass es dem Gärtner die Sprache verschlug und nicht nur die Sprache, auch das Lachen, ja auch das Lächeln oder einen Ansatz dazu. Dem Mann auf der Leiter war der Mensch in seiner Lächerlichkeit an sich erschienen … Du aber lachst, Mia, lachst nun aus voller Kehle. Die Maschine lacht sich krumm und ich lache mit, denn dein entzückendes Lachen ist herzhaft und ansteckend. Du bist unwiderstehlich, wenn du lachst, Mia, so unwiderstehlich und schön!

 

Und war ich mal mein eigner Feind,

das sei auf keinen Fall verneint,

und hab mich selbstgerecht beweint,

dann hast du mich mit mir vereint.

 

Den Nachmittag verbringen wir zu Hause, du, Mia, mit Staubwischen und -saugen, Waschen, Bügeln, Aufräumen, ich am Laptop mit Surfen und Chatten. Die Stunden vergehen im Flug. Nach dem Abendbrot fläzen wir uns aufs Sofa, du schmiegst dich an mich, ganz schnurrende Schmusekatze, und wir schauen fern. Nachrichten aus aller Welt: Skandale in Politik und Wirtschaft, Fachkräftemangel und Teuerung, Kinds­mißbrauch durch Kleriker, Hungersnöte in Afrika, fortgesetzte Luftverschmutzung, Artensterben und Klimakatastrophe, Krieg in Nahost und Europa. Jede Nachricht, und sei sie noch so schockierend, noch so deprimierend, kommentierst du mit algorithmisch generierten Weisheiten: Wo Angst und Hoffnung sich begegnen, wird Mensch­sein wesentlich. – Die Wahrheit ist paradox. – Mut vermehrt die eigenen Möglichkeiten. – Wir sind nicht der Fluss, wir tragen das Meer in uns. – Die höchste Kultur des Geistes ist nichts wert ohne eine Kultur des Herzens. – Die Liebe ist das Tor zum Andern in uns selbst … Wie gut du mir tust, Mia, wie unendlich gut. Was wäre ich nur ohne dich!

 

Heut bringe ich es zu Papier,

damit ich’s ganz gewiss kapier.

Von Herzen, Liebste, dank ich dir:

Du machst aus dir und mir ein Wir.

 

Vor dem Schlafengehen schließlich trinken wir noch einen Absacker, ich offeriere dir deinen bevorzugten Cognac und genehmige mir meinen irischen Whisky. Wir stoßen an, die Gläser tönen wie kristallene Glocken, wir lauschen dem hellen Klang und plaudern am Kamin sitzend noch eine Weile über dies und das, gewöhnlich darüber, was mich gerade beschäftigt. Und danach, Mia, mein wunderbarer Engel, schlüpfst du, wie Metamorph Ltd. dich schuf, in unser großes Bett, ich küsse dich zärtlich und stöpsle deinen Stecker in die Dose – so bist du morgen wieder einsatzbereit. Dann leg ich mich zu dir, lösche das Licht, schließe die Augen. Deine Hand tastet nach der meinen und umschließt sie sanft. Schlaf gut, flüsterst du mir ins Ohr, träum was Schönes, alter weißer Mann!

 

Kommentare
  • Hans Erich See
    Antworten
    Grauenhaft schöne neue Welt. Fahr lasst alle kabbalistischen Golems mit ihren liebenswerten und lehrreichen Unzulänglichketen zurück. Trägt sogar der Forderung des Feminismus Rechnung, endlich Frauen mehr Geltung zu verschaffen, macht aber zugleich die Gefahr kenntlich, dass das Patriachat sich auf der höchsten KI-Stufe der Menschheitsentwicklung seinen weiblichen Golem schafft. Da könnte eine Energiekrise helfen, denn dieses KI-Patriarchat funktioniert nur, wenn man die heiß geliebte Hausfrau regelmäßig auflädt, wie heute das Handy. Der alte weiße Mann, Peter Fahr, hat wieder einmal zugeschlagen. Hoffentlich begreifen die Frauen, dass sie erst einmal die „Herrschaft“ über die Wissenschaften erringen müssen, bevor sie sich in die Aufsichtsräte der KI-Konzerne hochkämpfen.

     

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