Im Fluss der Zeit

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Peter Fahr, Philosophie, Spiritualität

Der Mensch sei die Krone der Schöpfung, sagt der Mensch. Dabei ist er ihre Dornenkrone. Wird es uns gelingen, eigenverantwortliche Individuen einer solidarischen Gesellschaft zu werden? Das ist meine Hoffnung: Kleine Geister leben mit einem Nein auf den Lippen, große mit einem Ja im Herzen. Peter Fahr

Die Geschichtsbücher variieren das Thema der Macht. Sie berichten von den Intrigen und Kämpfen der Mächtigen, sind eine Chronik ihrer Kriege und beschreiben das Beschreibbare: Ereignisse aus der Sicht der Sieger, offizielle Geschichte, die sich an Daten hält. Die Geschichtsbücher sind wie Terminkalender, sie verzeichnen das äußere Geschehen im Leben von Einzelpersonen und beschränken sich auf Fakten. Das Schicksal der Massen interessiert nur da, wo es als Hintergrund dient für das Schicksal der Mächtigen.

Diese Geschichtsauffassung erschöpft sich in Bildern von Aggression und Zerstörung, von Hass und Verzweiflung, denn sie ignoriert das Innenleben der Menschen, ihre seelischen und geistigen Entwicklungen. Die Geschichtsbücher müßten auch Tagebücher sein und vom Sinn im Leben jener erzählen, die ohnmächtig, aber zuversichtlich sind, die leiden und dennoch hoffen. Verzicht und Verlust, Knechtschaft und Folter, Betrug und Verrat können Menschen beugen, aber auch innerlich stärken. Gerade die Erfahrung von Leid ist oft die Voraussetzung für das Erwachen der Liebesbereitschaft. Das Bewusstsein dieser inoffiziellen Geschichte hat Zeugen nötig.

Unter Geschichte wird gewöhnlich Vergangenes verstanden. Sie verliert darum ihre Verbindlichkeit, wird oft verfälscht oder verdrängt. Der Herzschlag der Geschichte schlägt in der Gegenwart. Die Ereignisse spielen im Hier und Jetzt. Was war, ist gegenwärtig gewesen. Erst wenn wir die geschichtliche Dimension des Augenblicks erkennen und anerkennen, brauchen wir uns vor der Vergangenheit nicht mehr zu fürchten.

Geschichte setzt Erinnerung voraus. Das Vergessen leugnet die Vergangenheit und nimmt der Gegenwart die Chance auf eine Zukunft. Eine Gegenwart ohne Geschichtsbewusstsein führt in dieselben Sackgassen, in die unsere Väter und Mütter sich verirrten. Menschen, die vor ihrer Geschichte die Augen verschließen, verlieren mit den Erinnerungen auch ihre Visionen.

Im 19. Jahrhundert haben wir uns gefragt: Ist denn niemand da, uns das Denken abzunehmen? Es fanden sich Maschinen dafür.

20. Jahrhundert: Schweigende Menschen und sprechende Automaten.

Das 21. Jahrhundert muss, wollen wir überleben, Zeugnis der subjektiven Entäußerung werden.

Irrläufer der Natur?

In der Politik gilt: Bêtise oblige. Die Ausnahme bestätigt die Regel.

Politik ist der älteste Begriff für Egoismus.

Weshalb verleihen die Mächtigen Orden? Orden sind aus Metall und belasten die Brust, an der sie hängen. Ihr Gewicht reißt die „Begnadeten“ zu Boden. Künftig wird gekrochen.

Die Öffentlichkeit ist ein hungriges Wolfsrudel, das jeden, der in der Dunkelheit ein Licht anzündet, in Stücke reißt.

Menschen, die sich diplomatisch auszudrücken pflegen, ernten oft Zustimmung, auch von Andersdenkenden. Propheten sind keine Diplomaten, sie provozieren – ihr Lohn ist die Kritik.

Kritik ist das Alibi der Selbstkritik.

Der Mensch sei die Krone der Schöpfung, sagt der Mensch. Dabei ist er ihre Dornenkrone.

Das Risiko leben

Nicht wenige verkaufen ihre Seele für die Unabhängigkeit. Aber Unabhängigkeit ist nicht Freiheit. Die Freiheit beginnt, wenn du nichts mehr zu verlieren hast.

Das Leben nicht vegetieren, sondern leben, heißt täglich das Risiko eingehen, dass der Glaube an Werte und Menschen sich nicht verwirklichen und einer Wahnvorstellung entsprechen kann. Die Furcht vor diesem „Wahnsinn“ hindert uns oft am Leben. Wir verneinen Ahnungen, Illusionen und Träume, da diese sich als Wahn entpuppen könnten. Wir haben keine Wahl und nehmen für wahr, was sichtbar, berechenbar, beweisbar ist. Wir gehen ein wie Blumen ohne Licht, denn nur wer wählen kann – und das geht nicht ohne die Bereitschaft zum Scheitern –, ist frei. Und Freiheit ist die Grundbedingung des Menschseins.

Die Freiheit des Einen geht in jedem Fall auf Kosten derjenigen des anderen: Freiheit bedingt Schuld. Nur verantwortungsbewusstes Handeln kann Freiheit entschuldigen.

Wer die Verantwortung für sein Handeln nicht übernimmt und auf Traditionen, Gesetze und übergeordnete Instanzen wie Justiz, Kirche, Staat abschiebt, verzögert seine Menschwerdung.

Hoffnung und Verantwortung

Alle Wege außer Sackgassen münden in eine Kreuzung. Jede Kreuzung ist eine Herausforderung zur Wahl. Der gewählte Weg führt zu einer neuen Kreuzung.

Nicht zuversichtlich sein: Hoffen.

Hoffnung ist kein blutleerer Begriff; sie ist konkret, erhält ihre Berechtigung durch die engagierte Wahl. Hoffnung gibt es nur in Verbindung mit Verantwortung.

Die Nacht ist die Mutter der Hoffnung, der Traum ihr Vater: Wer in dunklen Zeiten Träumen traut, sagt ja.

Kleine Geister leben mit einem Nein auf den Lippen, große mit einem Ja im Herzen.

Der Zweifel ist eine Eiche, ein Grashalm die Hoffnung. Auch die stärkste Eiche muß stürzen; Halme sprießen ewig neu.

Im Fluss der Zeit

Lange habe ich mich der Wirklichkeit durch Idealismus entzogen. Ich habe die Welt mittels Idee, Bewusstsein und Wille bestimmt. Ich habe das Leben als Dogmatiker vergewaltigt, habe mich in beschönigende, beruhigende und erklärende Gedankengebilde geflüchtet, statt mich schonungslos dem Gegebenen zu stellen.

Jetzt stehe ich dazu, mit dem ungeschminkten Sein nicht klarzukommen. Ich will nicht getröstet werden. Heilslehren für die Bewältigung dieser Zeit lehne ich ab. Jetzt wehre ich mich dagegen, die Welt zu bestimmen. Ich möchte sie nicht ergründen, sondern lieben. Jetzt vertraue ich auf die seelischen Kräfte – auf Intuition, Fantasie, Kreativität und Liebe.

Gegen den Strom zu schwimmen, um an seine Quelle zu gelangen, ist ein gültiges Bild für die Selbstwerdung. Doch jene, die sich der Strömung bewusst hingeben, überwinden sich selbst.

Die Bestimmung des Flusses ist es, zum Meer zu fließen, in dem sich alles Wasser seiner Einmaligkeit entledigt und Teil eines Ganzen wird. Die Quelle ist der Ursprung, sind wir selbst, sie kann nicht unser letztes Ziel sein. Das Meer hingegen stellt die Vereinigung aller Flüsse dar, die Verschmelzung und die Auflösung.

 

Anzeigen von 10 Kommentaren
  • Die A N N A loge
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    Die Bestimmung des Flusses ist es, zum Meer zu fließen, in dem sich alles Wasser seiner Einmaligkeit entledigt und Teil eines Ganzen wird. Die Quelle ist der Ursprung, sind wir selbst, sie kann nicht unser letztes Ziel sein. Das Meer hingegen stellt die Vereinigung aller Flüsse dar, die Verschmelzung und die Auflösung.

    Meine spontane musikalische Assoziation zu dem Gedanken. Es ist, als ob Smentana die gleichen Gedanken zum Ausdruck bringen wollte, indem er den Lauf der Moldau musikalisch vertonte.

    https://youtu.be/jawIMBLZ1D8

     

  • cource
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    heinrich heine war auch ohnmächtig gegenüber den machthabern und ihm blieb nur der spott um sich zu wehren—scheinbar hat ungerechtigkeit/ausbeutung einen evolutionären vorteil, wenn nicht dann haben wir noch 40ig jahre der neoliberalen selbstverarschung und dann ist schluss, es sei denn die weltbevölkerung kommt zur besinnung und schafft die voraussetzungen, dass nicht nur die kinder/schwangere sondern auch alle anderen immun gegenüber viren/corona sind
    • Ulrike Spurgat
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      Heine war keinesfalls “ohnmächtig” den Herrschenden gegenüber.  Sein Spott war legendär. “Denk ich an Deutschland in der Nacht”. Ein Heine eben, wie auch ein Ossietzky eben, aus dessen schwungvoller, eleganter Feder genüsslich Sarkasmus vom feinsten tropfte. Heine hatte eine Freundschaft u.a. mit Karl Marx.

      Man sollte Heine nicht unterschätzen, weder seine Bissigkeit, seine gezielte Ironie, noch seine Haltung auf wessen Seite er stand.

      Lutz Görner bringt seit den siebziger Jahren Heine in seiner besonderen zu begeisternden Art des Vortragens den Menschen näher.

      “Der Aufstand der schlesischen Weber von 1844” war eine Anklage und eine Abrechnung mit den Halsabschneidern seiner Zeit, den “Zwanzigern” und Konsorten.

      • cource
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        wer nicht direkt die wahrheit sagen darf/kann, ist gezwungen mit satire/spott/sarkasmus/ironie usw. seine wut/ohnmacht abzureagieren, d.h. der spötter ist ein machtloser hofnarr, dem man, wenn er zuviel wahrheit äußert, einen kopf kleiner macht—deshalb lohnt es sich nicht für die dumpfe masse die kartoffeln aus dem feuer zu holen, siehe julian assange, das ist perlen vor die säue zu werfen
  • Holdger Platta
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    Liebe HdS-LeserInnen,

    nicht daß Ihr denkt, daß wir heimlich Zitate klauen: die Formulierung oben in der ‘anmoderierenden’ Einleitung zu Peter Fahrs Artikel stammt von dem weltberühmten polnischen Aphoristikers Stanislaw Jerzy Lec, aus dessen Buch “Neue unfrisierte Gedanken” (1989), und lautet wörtlich: “Der Mensch ist die Dornenkrone der Schöpfung”.

     

    Herzlich

    Holdger

    • Peter+Fahr
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      Lieber Holdger

      Danke für Deinen Hinweis. Es freut mich, dass „weltberühmte“ Autoren wie Stanislaw Jerzy Lec, der mir unbekannt war, meine eigenen Gedanken auch gedacht haben. Das passiert mir hin und wieder.
      Herzlich

      Peter Fahr

      • Die A N N A loge
        Antworten
        Grins, jetzt werde ich auch nach dem weltberühmten Stanislav Jerzy Lec googeln. Muss doch wissen, wer ihre wunderbaren Gedanken, der Mensch als Dornkrone der Schöpfung schonmal gedacht hat. 😊

        Ist der freie Mensch Rose und Dorne zugleich, also demnach eine Wildrose? 🤔🌹

        • Palantir
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          Achtung: Jesus ist umrankt mit Rosen gestorben!?

          Aber vielleicht wars ja Sanddorn, oder Weißdorn oder die gewöhnliche Berberitze?

          Tja, ich weiß es nicht, was der Mensch ist, aber fragt Kundigere

  • Bernhard Schlegel
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    “Der Mensch sei die Krone der Schöpfung, sagt der Mensch. Dabei ist er ihre Dornenkrone.”

    Dabei wird gedeutet Mensch und Natur sei Schöpfung. Viele sehen das anders. Ich persönlich vermisse auch die Spiritualität anbetracht des Seins. Erleben und Verstehen gehen für mich nicht immer Hand in Hand. Ich sah etwa einmal nach einem Mozartsong ein wunderbares Licht, das mich bewegte wie nichts. Allein ich kann es nicht einordnen. Heute ist alles wissenschaftlich. Kalt. Nüchtern. Poesie wir nicht erkannt, sondern als solche benannt. Ernannt. Siehe Bidens Ernennung. Poesie wird beschlossen. Gebrandmarkt eigentlich. Das wahre Gedicht wird ausgesperrt. Worte wie die von Herr Fahr an den Rand gedrängt. Aber am Rand spielt die Musik. Wahre Kunst ist hierarchielos. Sie findet ihren Weg. Und das ist ihr grosses Geheimnis.

    • cource
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      wir leben im zeitalter eines exorbitanten verwirspiels/täuschung. da würde die poesie für noch mehr verwirrung sorgen, die umschreibung von tatsachen führt zu handlungsunfähigkeit/lähmung und war deshalb im feudalismus ein wichtiges machtinstrument der kirche/adel

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