In Wohn-Haft

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Corona Tagebuch, Teil 4. Corona bedeutet Knast für Millionen Menschen – Unschuldige. Mit einem etwas erweiterten Gefängnishof, des bis zum nächsten Lebensmittelladen reicht oder bis zum nächsten Park. Aber, mal abgesehen von der Frage, ob das alles verhältnismäßig ist – könnte man der erzwungenen Isolation nicht auch Positives abgewinnen? War es nicht eigentlich längst fällig, dass Menschen mal mehr „zu sich kommen“ und die vielfältigen Aktivitäten drosseln, mit der sie sonst ihre innere Leere zu überspielen pflegen? Götz Eisenberg war von Beruf Gefängnispsychologe. Er erklärt, dass es grundsätzlich zwei Gruppen von Menschen gibt, die verschieden auf Gefangenschaft reagieren: die einen werden zu Weisen, die anderen rasten aus. Götz Eisenberg

Die Corona-Turbulenzen haben dieser Tage aus den Tiefen meines inneren Sprachozeans einen Satz an die Oberfläche des Bewusstseins gespült, auf den ich vor vielen Jahren einmal gestoßen bin und der dann in Vergessenheit geriet. Er stammt von Blaise Pascal, der ihn Mitte des 17. Jahrhunderts formulierte: „Alles Unglück der Menschen rührt von einer einzigen Ursache her: nicht unbeschäftigt in einem Zimmer sitzen zu können.“ Noch vor Kurzem hätte man diesen Satz als Mantra eines Sozialphobikers oder als Versuch einer philosophischen Rechtfertigung von Stubenhockerei abtun können. Nun aber, da wir alle zur Stubenhockerei verdonnert sind und wir den Preis für unsere Umtriebigkeit und rastlose Mobilität zu entrichten haben, können wir uns diesem Satz anders nähern. Vielleicht enthält er den Schlüssel zum Rätsel unserer gegenwärtigen Lage und kann uns auch die Richtung weisen, in der wir nach der Lösung der jetzt aufgeworfenen Fragen suchen können.

In seiner 1670 posthum veröffentlichten Aphorismensammlung Gedanken sagt Pascal: Auf uns zurückgeworfen und von allen Zerstreuungen abgeschnitten, begegnen wir uns selbst. Und diese Begegnung ist derart unangenehm, dass wir sie meiden. „Nichts ist dem Menschen unerträglicher, als völlige Untätigkeit, als ohne Leidenschaften, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuungen, ohne Aufgabe zu sein. Dann spürt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, sein Ungenügen, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Allsogleich wird dem Grunde seiner Seele die Langeweile entsteigen und die Düsternis, die Trauer, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung.“

Der Mensch bekommt eine Ahnung von der tiefen Bedrohtheit des Lebens und wird der Tatsache inne, dass es dem Tod verfallen ist und unausweichlich auf ihn zuläuft. Diese Erkenntnis enthält mehr Wahrheit, als er auszuhalten imstande ist. Er lässt nichts unversucht, um ihr aus dem Weg zu gehen. Das probate Mittel dazu ist das, was Pascal Zerstreuung nennt. Darunter versteht er nicht nur die Unterhaltungsindustrie unserer Tage, sondern im Grunde jedwede menschliche Aktivität. Was immer Menschen tun mögen, sie verfolgen damit, meist ohne es zu wissen, nur ein Ziel: der eigenen Leere und dem Wissen um die Endlichkeit des Lebens zu entkommen.

Arbeit wird in der Neuzeit zum zentralen Mittel der Zerstreuung. Das schrankenlose Aktionsdelirium, das der industrielle Kapitalismus entfesselt, dient auch der lebenslangen Verdrängung nicht lebbaren Wissens. Lebten die Menschen eingedenk ihrer Sterblichkeit, würden sie schwerlich ihr Leben damit vergeuden, es sich auf die herrschende stupide Weise zu verdienen. Wer würde jeden Morgen eine Fabrik oder ein Großraumbüro aufsuchen, wenn er sich auf dem Weg dorthin fragen würde: Kann ich das angesichts der Befristetheit meines Lebens rechtfertigen? Die „freiwillige Knechtschaft“, über die Etienne de la Boétie sich ein Jahrhundert vor Pascal bereits gewundert hatte und die bis heute anhält, erklärt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass das Kapital die Ängste bewirtschaftet, die aus der Untätigkeit aufsteigen. Arbeit, unablässiges Tun dienen auch der permanenten Nachverdrängung.

Eine geschichtliche Ironie sorgt nun dafür, dass aus dem Aktivismus, den wir gegen den Tod entfesselt haben, unvermittelt der Tod zurückkommt. Um uns vor ihm zu schützen, sollen wir uns in unsere Behausungen zurückziehen und diese nicht mehr ohne Not verlassen. Seuchenzeiten sind Zeiten der erzwungenen Einsamkeit. Da droht etwas, das man im Gefängnis Zellenkoller nennt. Es fällt einem, wie man so sagt, die Decke auf den Kopf. Es gibt keine andere Institution, in der das Unkontrollierbare so schnell hervorbrechen kann wie im Gefängnis. Am Punkt der tiefsten Verzweiflung werden die Menschen entweder weise, oder sie geraten außer Kontrolle – entgleiten der Kontrolle durch das System und der Selbstkontrolle. Das Unkontrollierbare und die Weisheit sind in die gleiche Zelle gesperrt. Der eine verwandelt den Knast in seine Akademie, der andere rennt mit dem Kopf gegen die Wand und landet, einer alten Knastweisheit zufolge, in der Nachbarzelle.

Noch sind wir Freigänger, dürfen die Wohn-Haft zu Ausgängen verlassen. Unser Hofgang ist die Fußgängerzone und die Shopping Mal. Man fährt in den Baumarkt und deckt sich mit Wandfarbe ein, man mäht den Rasen, renoviert die Wohnung, schraubt am Auto oder Motorrad herum, man telefoniert rund um die Uhr und sitzt pausenlos vor der Glotze. Die Quarantäne ist die Zeit der rasenden Heimwerker. Man unternimmt alles, damit kein Stillstand, keine Ruhe aufkommen. Das Virus hat unserer Betriebsamkeit den Stecker gezogen, und wir könnten diese Unterbrechung nutzen, um über den Sinn unserer meist vollkommen hohlen Betätigungen nachzudenken. Wir könnten in der Literatur und Philosophie Rat suchen, zum Beispiel in Pascals Gedanken blättern. Und uns darüber wundern, was für groteske Anstrengungen wir unternommen haben, um unserem Glück auszuweichen. Wobei Glück nie nur mein Glück sein kann, sondern nur dann Glück ist, wenn es zugleich das Glück aller ist – oder es zumindest intendiert.

 

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, deren dritter Band unter dem Titel „Zwischen Anarchismus und Populismus“ 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.

Showing 5 comments
  • heike
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    Aneinander vorbei

     

    Vom Speisewagen

    Durchs Land getragen,

    Siehst du Dörfer, Felder, Katz´ und Küh.

    Angenommen, daß dir das Menü

    Nichts kann sagen.

     

    Irgendwo: Zwei Barfußmädchen winken.

    Wissen selber nicht, warum sie´s tun,

    Lassen ihre arbeitsharten Hände

    Für Momente ruhn.

     

    Wissen nicht, daß deine Hände sinken,

    Winken, Grüßen

    In den ganzen langen Zug hinein,

    Ahnen nicht, daß du die Scholle sein

    Möchtest unter ihren schmutz´gen Füßen.

     

    Angelangt, ergibst du mittelgroß

    Dich der Höflichkeit, dem Stande und dem Gelde.

    Nachts im Bette träumst du hoffnungslos

    Von den beiden Mädchen auf dem Felde.

     

    (Joachim Ringelnatz)

  • knacki
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    Herr Eisenberg,

    sie sind ja ein wirklich guter ‚Schreiber‘, Erzähler, Beobachter –

    mit diesem Aufsatz jedoch auch ein Märchenerzähler !

    Das wäre nichts Schlimmes, Märchen sind meist toll sogar, jedoch sollte man in Bezug auf Knast und dort Gefangene keine märchenhaften Kommentare hinterlassen, die das furchtbare rechtlose Dasein der Inhaftierten in dieser Gefängnisindustrie zu einer Harmlosigkeit hin relativieren. “ die einen würden zu Weisen, die anderen ‚eben nicht‘ “ ! – ein fürchterlich dummer und verharmlosender Satz !

    Da hilft auch eine philosophische und narrative Hintermalung nicht und in diesen Zeiten zunehmender Psychologisierung und Psychiatrisierung zusätzlich noch zur Entrechtung und Wehrlosigkeit gegen unmenschliche Knastrepressionen, sammt Isolationshaft und ‚Sicherheitsverwahrung‘ schon wegen Aufmüpfigkeit gegen all das – sollte man dann doch eher schweigen als derart Mist zu schreiben.

    Es ist eben ein riesiger Unterschied, ob man lediglich dort arbeitet oder tatsächlich rechtlos dort weggesperrt ist.

    Nein, weise wird dort niemand, eher gebrochen und dafür sorgt auch diese Zwangs-Psychiatrisierung der Rechtlosen. Ein furchtbarer Hebel zur Gefügigmachung, psychologische Folter zusätzlich zum Freiheitsentzug, allmächtiges Druckmittel zur einer Erzwingung der eigenen Verleugnung höchst eigener Persönlichkeitsstrukturen u.u.u.

    Und diese perfiden Methoden wendet man nötigenfalls bei jedem Gefangenen an, wäre ein solcher „lediglich“ ein politischer Gefangener ( die Zahl derer steigt ) oder harmloser Dieb oder Verbrecher.

    Welche Art von Weisheit solle denn da wundersam einkehren, allerhöchstens die Weisheit diese unmenschlichen Methoden zum Schein mitzumachen um eine vielleicht auch frühere Entlassung damit zu erreichen, die „Robusteren“ schaffen das durchaus, die Labilen werden psychisch zerstört.

    Ich selbst kenne einen, wegen Bankraub in Haft ( 12 Jahre ) und nun nach verbüssten 10 Jahren die Sicherheitsverwahrung richterlich angeordnet bekommen, weil er sich eben dieser Psychiatrisierung verweigert. Gerichte übernehmen Stellungnahmen der Knastsdirektoren ohne Überprüfung, zack ! – für immer weggesperrt und das nur weil er aufrecht ist.

    Kein Einzelfall und es sitzen sogar viele JAHRELANG in U-Haft ohne eine wirkliche Rechtsgrundlage dafür, meist bei politischen Gefangenen einfach so angeordnet.

    Also bitte keine Märchen zu diesem wirklich ernsten Thema, anstatt die Wahrheiten meinetwegen auch erzählerisch aufzudecken, mehr Licht in diese dunkle Seite dieses Menschen zerstörenden Repressionssystems zu bringen.

     

     

     

     

     

     

     

     

     

  • Gerold Flock
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    Ach. Baumärkte haben noch geöffnet?

    Der Staatsapparat?

    Es scheint wahrscheinlich, dass der Staat die erste Institution war, die Eigentum angehäuft hat um unter ihrer Kontrolle Überschüsse zu erschaffen, Überschüsse, die ihm wirkliche Macht über die sozialen Bedingungen gaben, unter denen seine Subjekte existieren mussten. Diese Überschüsse erlaubten es ihm, verschiedene Institutionen zu entwicklen, die seine Macht verstärkten: Militärische Institutionen, religiöse/ideologische Institutionen, bürokratische Institutionen, polizeiliche Institutionen und so weiter. Somit kann der Staat von seinen Ursprüngen her, als Kapitalist aus eigener Kraft gesehen werden, mit eigenen spezifischen wirtchaftlichen Interessen, die präzise dazu dienen, seine Macht über die Bedingungen der sozialen Existenz zu garantieren. Wie jeder Kapitalist bietet der Staat einen spezifischen Dienst für einen entsprechenden Preis an. WOLFI LANDSTREICHER

    Staatsfeind Nr. 1 ??? – Nachhaltigkeit, Gemeinwohl & Gegenseitige Hilfe bzw. Anarchie als Direktdemokratie & kollektive-kommunalistische Selbstverwaltung & Selbstorganisation in allen Statdteilen, Gemeinden & Betrieben & Fabriken & Gegen die Entartung unserer korrupten-korrumpierten-verlogenen-dekadenten Verblödungsparteien. – Ihr reichen Faker & gierigen Kapitalisten…Geht mir aus der Sonne! – Die subversive Page für subversive Menschen. – Für ein wirklich selbstbestimmtes miteinander Leben. – Freiheit!

    Was geht ab? – Die Corona-Virus-Pandemie und die „Tyrannei des Wachstums“ bzw. „Die Diktatur des Profits!“

    https://anarchypeaceangel.jimdofree.com/lesestoff-startseite/152-was-geht-ab/

    Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, ist die Ehrlichkeit.                         Albert Camus

  • Hartz_tötet
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    Als aufstockender Hartz-Getroffener habe ich einen Vorteil:

    Den offenen Vollzug inklusive der Isolationsfolter mangels Geld, entzogener Krankenversicherung und verlorener sozialer Kontakte bin ich gewöhnt.

    Es macht mir sehr viel aus, die verlorene Lebenszeit- und qualität, die mittlerweile sichtbare Armut, nicht zu wissen wie lange die Wohnung zu halten ist etc.

    Aber das System hat mich daran gewöhnt.
    Diese Auswirkungen der Corona-Krise lassen mich nur mit der Schulter zucken.

    • Hope
      Antworten
      dito! Hartz IV hat in den letzten Jahren getötet und zwar massenhaft vom Schreibtisch aus!

      Und jetzt haben viele den Köttel in der Hose, die jetzt ein bedingungsloses Grundeinkommen fordern um ja nicht in Hartz IV zu landen. Sind das vielleicht alle diejenigen, die früher die Hetze auf Hartz IV’ler mitgemacht haben und sich jetzt in einem Teufelskreis befinden?

      Schon Götz Werner von DM sagte immer: „Hartz IV ist offener Strafvollzug“

      Ich habe das überlebt!

      Bloß kein Hartz IV

      https://www.gegen-hartz.de/news/bloss-kein-hartz-iv-hunderttausende-fordern-ein-grundeinkommen

      Die Angst vor Hartz IV ist größer als vor dem Virus.

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