Wie so oft, trat der bundesdeutsche Publizist Henryk M. Broder auch an diesem Tag mit Knalleffekten auf. Ich spreche vom Montag, den 16. Juni 2008. Der Innenausschuss des Deutschen Bundestages hatte zahlreiche ReferentInnen zu einer Anhörung zum Thema „Antisemitismus“ eingeladen, und auch der heutige WELT-Journalist Broder war mit von der Partie.
Alle Versuche, „den Antisemitismus zu definieren, zu erklären und zu neutralisieren“, seien „gescheitert“, erklärte Broder gleich zu Beginn und setzte fort: Zuallererst sei zur Verhinderung einer „virtuellen“ Debatte — was immer das sei — festzustellen:
„Wir haben es beim Antisemitismus nicht mit einem Vorurteil, sondern mit einem Ressentiment zu tun. Vorurteile sind harmlos (…) Ein Vorurteil zielt auf das Verhalten eines Menschen, ein Ressentiment auf dessen Existenz.“
Diese These, die Broder bei der mündlichen Anhörung entgegen dem schriftlichen Text gleich auch noch mit der Korrektur eines Vorredners zu entwickeln begann — der Name des betreffenden Co-Referenten bleibt im Mitschnitt unverständlich, offenkundig aber hatte dieser von „Vorurteil“ statt von „Ressentiment“ gesprochen —, diese These von Broder ist gleich mehrfach falsch. Wobei durchaus typisch ist, leider, dass dieser Referent sein Missverständnis gleich mit der Zurechtweisung eines anderen verband.
Erstens: Seit es eine wissenschaftliche Vorurteilsforschung gibt, wird unter „Vorurteil“ nicht nur ein x-beliebiges Urteil verstanden, das ohne Grundlage sei, ein Urteil, das lediglich — negativ — auf das „Verhalten“ von Menschen ziele und lediglich als kognitive Verirrung bezeichnet werden könnte, sondern von Anfang an verstand die wissenschaftliche Auseinandersetzung unter „Vorurteilen“ auch die — negative — affektive Dimension dieses Einstellungssyndroms. Sie erfasste auch Vorurteile, die sich auf angebliche Charaktereigenschaften und so weiter von anderen Menschen beziehen, und sie schloss — dieses vor allem — ganz ausdrücklich auch die „Ressentiments“ der betreffenden Menschen mit ein.
Natürlich, man kann verstehen, dass der psychologische Laie Broder hier einem Irrtum erlag: „Vorurteil“, das klingt in der Tat nach einem ausschließlich kognitiven Phänomen, „Ressentiment“ hingegen, mit seinem Wortursprung „sentire“ gleich „empfinden“, ausschließlich nach „Gefühl“. Aber beides ist falsch, und ein selbstkritischerer Kopf, als Broder es ist, hätte das natürlich erstmal überprüft, ehe er allzu selbstbewusst Richtiges als Fehler bezeichnet.
Zweitens: Die Tatsache, dass der Begriff des „Vorurteils“ auch die Dimension der „Ressentiments“ umfasst, gilt insbesondere für jene Untersuchungen im Bereich der Vorurteilsforschung, die sich als allererste derart tiefgreifend mit dem Antisemitismus beschäftigten, für die Studien des — damals — US-amerikanischen Forschungsteams um Theodor W. Adorno herum zum „Autoritären Charakter“.
Bei diesem mehrjährigen Forschungsprojekt zu „Autorität und Vorurteil“ — man beachte: „Vorurteil“! — wurden, überwiegend mit psychoanalytischen Methoden sowie auf der Basis psychoanalytischer Theorie, auch die Ressentiments der betreffenden Personen untersucht, mächtige Gefühlsantriebe im Innern des sogenannten „autoritären Charakters“, Misstrauen etwa und Angst, Abwehrmechanismen und Feindseligkeit bis hin zu Vernichtungsimpulsen in der Psyche der betreffenden Menschen.
Das bedeutet: Der Knalleffekt, mit dem Broder vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages auftrat, löste sich eigentlich schon zu Beginn in lauter Luft auf. Broder korrigierte seiner Auffassung nach den Irrtum eines Kollegen und bekundete damit nur seine eigene Unwissenheit. Er verniedlichte das, was er „Vorurteile“ nannte, und machte eine Lappalie daraus. Und er dämonisierte im Gegenzug den Begriff der „Ressentiments“, als ob ein jeder, der „Ressentiments“ hege, unvermeidlicherweise auch gleich mit der Guillotine im Kopf herumlaufen müsse. Warum diese Dämonisierung? Nun, wir werden sehen!
„Ressentiment“ ist ein Begriff, der ohnehin bis heute nicht zuhause ist in den einschlägigen Wissenschaften — in der Psychologie zum Beispiel, in der Soziologie, Politologie oder einer entsprechend orientierten Geschichtswissenschaft. „Ressentiment“ kann als mehr oder minder dauerhaftes Gefühl negativen Inhalts definiert werden, als „heimlicher, stiller Groll“ oder auch „ohnmächtiger Hass“ und „Neid“, wie das DUDEN-Fremdwörterbuch mitteilt. „Ressentiment“ zielt keinesfalls sofort und in jedem Fall auf die Existenz eines anderen Menschen oder einer anderen Gruppe.
Ich zum Beispiel lief die ersten anderthalb Jahrzehnte meines Lebens mit handfesten Ressentiments gegenüber den Katholiken im Kopf herum — der mütterlichen Protestantenerziehung sei Dank! —, und demzufolge waren alle Katholiken unehrlich, falsch, heimtückisch-aggressiv, aber man glaube mir: den Revolver hatte ich dabei keinesfalls seelisch-affektiv in der Hand. Und meine durchaus auch stark emotional gefärbte Vorsicht vor Rothaarigen — meiner Mutter zufolge alles hochexplosiv-jähzornige Zeitgenossen —, auch diese Furcht hatte nicht das Lebensende der Betreffenden im Sinn.
Wieso erzählte das Broder aber an diesem Tag den Mitgliedern des Innenausschusses? Nun, seine nachfolgenden Aussagen sollten noch zeigen, warum. Er brauchte diese Verknüpfung von Emotionalität und Vernichtungswahn, von Wesensbezogenheit und Existenzbedrohung, um Kritik an Israel als Neoform des Antisemitismus in den Bereich der Zerstörungswünsche transportieren zu können — und zugleich seine, Broders, These in den Bereich der Nichtwiderlegbarkeit. Denn weiß man, wie’s im tiefsten Innern eines Menschen aussieht? — Eben!
Infolgedessen „leistete“ das Neudefinieren von Antisemitismus durch Henryk M. Broder schon zu Beginn seines Vortrags das Folgende:
-
- Die „Ressentiments“, die — wie sich zeigen wird — gegen Israel gerichtet sein sollen, stellen Broder zufolge keine Lappalie wie bloße Vorurteile dar, nein, sie sind eine Sache auf Leben und Tod;
- diese „Ressentiments“ machen Broder zufolge aus der politischen Kritik an Israel einen Konflikt, der durch Verhaltensänderungen nicht zu beseitigen ist;
- diese „Ressentiments“ machen Broder zufolge aus einem vorwiegend kognitiven Problem — dieses angeblich die Eigenschaft von „Vorurteilen“ —, das prinzipiell und seiner Eigenart nach noch Argumenten und Beweisführungen zugänglich wäre, ein tiefsitzendes emotionales Problem, ein Problem mithin, an dem keine rationale Auseinandersetzung etwas zu ändern vermag; und schließlich:
- diese „Ressentiments“, die angeblich ausnahmslos die Israelkritik bestimmen, machen Broder zufolge aus einer Beweisbarkeitssache einen Tatbestand der Unwiderlegbarkeit. Wer behauptet, Antisemitismus sei nicht „Vorurteil“, sondern „Ressentiment“ — und das später am Beispiel der Kritik an der israelischen Politik exemplifiziert —, wer damit alles in die Bereiche irgendwelcher emotionalen Antriebe verschiebt, der immunisiert sich gleichsam gegen jede Widerlegung
Dieser furchtbaren Beschuldigung, die Kritik an der israelischen Politik sei in Wahrheit antisemitisch motiviert, kann man keinen empirisch überprüfbaren Gegenbeweis entgegensetzen. Immer wird der Ankläger — hier Broder — antworten können, dass die gegenteiligen Aussagen nur Beteuerungen seien, Selbstschutzfinten.
Der Beschuldigte sei also tief in seinem Innern genau das, was ein Broder zum Beispiel ihm vorwirft, und je mehr sich der Beschuldigte auf Selbstverteidigungen einlässt, desto mehr bestätigt er den Beschuldiger. Im Volksmund lautet das so: „Wer sich entschuldigt, klagt sich an“ — nach einem Sinngedicht von Magnus Gottfried Lichtwehr (1719 bis 1783). Wenn nach dieser Maxime auch vor Gericht geurteilt würde: „Gute Nacht, Rechtsstaat!“
Und wie schlägt nun Broder den Bogen von seiner Allgemeindefinition dessen, was Antisemitismus sei — ein „Ressentiment“ —, zu den aktuellen, ganz konkreten Debatten über die israelische Politik?
Jeder Israelkritiker ein Antisemit?
Nun, zunächst auf einem Gedankenweg, der uns durchaus zutreffend — auch durch die entsprechende Antisemitismus-Forschung belegt — die folgenden Aussagen präsentiert:
Station eins: Broder stellt als Allererstes fest:
„Der Antisemit nimmt den Juden sowohl die Abgrenzung wie die Anpassung übel. Reiche Juden sind Ausbeuter, arme Juden sind Schmarotzer, kluge Juden sind überheblich und dumme Juden — ja, die gibt’s auch — eine Schande für das Judentum. Der Antisemit nimmt dem Juden prinzipiell alles übel, auch das Gegenteil.“
Ein Blick in „Mein Kampf“ von Adolf Hitler, ein Blick in die nationalsozialistische Propaganda, zum Beispiel in das erste NS-Parteiprogramm, bestätigt das: Juden konnten sein oder machen, was sie wollten, immer war es falsch. ‚Irgendwie’ waren sie Kommunisten und Kapitalisten zugleich, arrogant und kriecherisch, neureich-‚overdressed’ oder heruntergekommen. Aber, so Broder:
Station zwei: Das ist gar nicht mehr der aktuelle Antisemitismus — jedenfalls nicht der Antisemitismus, der noch ernst zu nehmen wäre. Broder:
„Der Antisemitismus, über den wir immer noch am liebsten reden, stammt aus der Asservatenkammer des letzten und vorletzten Jahrhunderts. (…) Diese Art des Antisemitismus ist hässlich, aber politisch irrelevant, ein Nachruf auf sich selbst.“
Gut formuliert, möchte man sagen, auch wenn schon dieses wiederum nicht so ganz stimmt: Gefährlich, mehr als nur „hässlich“, das ist auch dieser überkommene Antisemitismus noch — oder schon wieder.
Brandanschläge auf Synagogen beweisen dies, auch tätliche Angriffe auf Juden in den letzten Jahren. Doch ganz so entscheidend sind diese Untertreibungen Broders, was die ‚alten’ Erscheinungsformen von Antisemitismus betrifft, nicht. Diese Obsoletheitserklärung des brutalen Antisemitismus von einst — der nur hin und wieder auch heute noch seine hässliche Fratze zeigt — könnte man ja auffassen als dringend erforderlichen Hinweis auf latente Formen des Antisemitismus heute oder auf einen neuen Antisemitismus sozusagen mit Pli.
Kurz: als Sensibilisierungsrat und Genauigkeitstipp, der auch den heutigen Antisemitismus des guten Benehmens ins Blickfeld rückt. Entsprechend deswegen auch Station drei des Broderschen Gedankengangs:
„Der moderne Antisemit tritt ganz anders auf. Er hat keine Glatze, dafür Manieren, oft auch einen akademischen Titel.“
Zustimmung bis hierhin, jedenfalls von meiner Seite aus, auch wenn zu korrigieren wäre — Broder liebt halt diese Vereinfachungen; Differenziertheit ist seine Sache nicht: Genau diesen feinen, gebildeten, akademischen Antisemitismus gab’s auch schon in „vormoderner“ Zeit.
In Deutschland zum Beispiel kurbelten Ende des 19. Jahrhunderts vor allem diverse Akademiker den Antisemitismus an oder sonst welche Leute, die zur Kultur-Elite zählten, „ehrenwerte“ Männer etwa wie Richard Wagner mit seiner unsäglichen Schrift über das „Judenthum in der Musik“ — wahrlich kein Skinhead —, der Hofprediger Adolf Stoecker und der Geschichtsprofessor Heinrich von Treitschke, dem das Hetzwort „Die Juden sind unser Unglück“ zu ‚verdanken’ ist.
Aber sei’s drum. Nicht alles muss bei Broder auf die Goldwaage kommen. Entscheidend ist etwas anderes, nämlich Station vier des Broderschen Gedankenganges, und hier beginnt die Sache, „schräg“ zu werden.
Broder belegt seinen „modernen“ Antisemitismus-Verdacht nicht mit den Treitschkes, Stoeckers und Wagners von heute, sondern, man gestatte mir das Zungenbrecherwort, mit den Anti-Antisemiten! — O-Ton Broder:
„Der moderne Antisemit (…) trauert um die Juden, die im Holocaust ums Leben gekommen sind, stellt aber zugleich die Frage, warum die Überlebenden und ihre Nachfahren aus der Geschichte nichts gelernt haben und heute ein anderes Volk so misshandeln, wie sie selber misshandelt wurden.“
Wir sind am entscheidenden Punkt der Broderschen Argumentation. Er fügt zwei Personen zu einer Kunstfigur zusammen, zur heutigen Inkarnation des Antisemiten: den echten Anti-Antisemiten einerseits, soweit es sich um die früheren Verfolgungen der Juden handelt, und den ressentimentgesteuerten Kritiker der israelischen Politik andererseits, soweit es um die heutigen Juden geht. Zwischen diesen beiden Einstellungen oder Haltungen, so die Suggestion Broders, existiere ein Widerspruch, doch unter dem Strich, so Broder, in der Vereinigung dieser Positionen präsentiere sich der eine, der neue, der „moderne“ Antisemit.
Der Gedanke, dass es die von ihm diagnostizierte Schizophrenie in dieser Kunstfigur nicht gibt, dass — ganz im Gegenteil — derselbe Abscheu, dieselbe Menschlichkeit und dasselbe Menschenrechtsdenken dem Entsetzen über den mörderischen Antisemitismus des nazistischen Deutschland und der Kritik an der oft menschenfeindlichen und menschenrechtsfeindlichen Politik der israelischen Regierungen zugrunde liegen, dieser Gedanke kommt Broder offenbar nicht.
Weder bei diesem Vortrag vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages noch sonstwo hat das dieser Journalist je reflektiert — meines Wissens jedenfalls. Im Gegenteil, eigentlich fordert Broder seinerseits Bewusstseinsspaltung von uns: Den Unrechtstaten heute sollen wir zustimmen, nur an Unrechtstaten ablehnen, was zu NS-Zeiten geschah. Broder fordert also im Klartext eine Halbierung unserer Humanität und unserer Empathie, nicht die Aufhebung einer Schizophrenie.
Broder ist auf seinem Weg von der Verwandlung des Antisemitismus aus einem „Vorurteil“, das lediglich auf das veränderbare Verhalten von Menschen ziele, in ein „Ressentiment“, das die Existenz des verachteten Menschen in Frage stelle, bei der Existenz des Staates Israel gelandet.
Das bedeutet: Kritik an der israelischen Politik, so Broder, das ist der einzige zeitgenössische Antisemitismus, der von Bedeutung ist. Was natürlich mit anderen Worten heißt: Es geht um die Installierung eines Kritikverbotes schlechthin, und nicht einmal das Fragen ist noch erlaubt, das Fragen nach Misshandlungen — wir haben es von Broder hören beziehungsweise bei ihm lesen müssen. Und damit sind wir auch bei Station fünf seines Gedankenganges angelangt, bei jener Stelle in seinem Vortrag, da dieses alles auch expressis verbis ausgesprochen wird. Broder wörtlich:
„Der moderne Antisemit glaubt nicht an die ‚Protokolle der Weisen von Zion’, dafür fantasiert er über die ‚Israel-Lobby’, die Amerikas Politik bestimmt, so wie ein Schwanz mit dem Hund wedelt.“
Ich frage: Stimmt tatsächlich, dass jeder, der um die Juden trauert, die im Holocaust auf entsetzlichste Weise ums Leben gekommen sind, einer Weltverschwörungstheorie anhängt, die den USA — nicht „Amerika“, wie Broder schreibt! — derartige Abhängigkeit von Israel, oder gar dem „Weltjudentum“, unterstellt?
Stimmt überhaupt dieser Vergleich, der die antisemitische Erfindung des zaristischen Geheimdienstes auf eine Stufe stellt mit der — empirisch jederzeit überprüfbaren — Politik der US-amerikanischen Administration; einer Politik, die immer wieder Maßnahmen gegen die menschenfeindliche und menschenrechtsfeindliche Politik der israelischen Administration zu unterbinden hilft, in der UNO zum Beispiel? — Doch weiter im Broderschen Originaltext:
„Der moderne Antisemit gedenkt selbstverständlich jedes Jahr der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar, zugleich aber tritt er für das Recht des Iran auf atomare Bewaffnung ein.“
Ich frage: Stimmt es tatsächlich, dass die Befürworter einer humanen und friedensstiftenden Politik von Seiten des Staates Israel die atomare Bewaffnung des Irans gefordert hätten — und offenkundig vor allem jene, die jährlich der Befreiung von Auschwitz gedenken?
„Der moderne Antisemit findet den ordinären Antisemitismus schrecklich, bekennt sich aber ganz unbefangen zum Antizionismus, dankbar für die Möglichkeit, seine Ressentiments in einer politisch korrekten Form auszuleben.“
Ich frage: Stimmt es tatsächlich, dass Anti-Zionismus — wenn Zionismus sich derart menschenfeindlich und menschenrechtsfeindlich zu realisieren versucht wie in der derzeitigen Regierungspolitik Israels — als willkommener Unterschlupf für einen politisch-korrekten Antisemitismus herhalten muss?
Und nicht zuletzt: Stimmen auch die folgenden Sätze?:
„Der Antizionist hat die gleiche Einstellung zu Israel wie der Antisemit zum Juden. Er stört sich nicht daran, was Israel macht oder unterlässt, sondern daran, dass es Israel gibt. Und deswegen beteiligt er sich leidenschaftlich an Debatten über eine Lösung der Palästina-Frage, die für Israel eine Endlösung bedeuten könnte, während ihn die Zustände in Darfur, in Zimbabwe, im Kongo und in Kambodscha kalt lassen, weil dort keine Juden involviert sind.“
Um es deutlich zu sagen: Ich kenne keinen einzigen Israelkritiker, den kalt ließe, „was Israel macht oder unterlässt“. Das Gegenteil ist richtig. Ich kenne keinen Israelkritiker, der die furchtbare, die brutale Politik der israelischen Regierungen gegenüber den Palästinensern beklagt und gleichzeitig Israel selber vernichtet sehen will. Ich kenne keinen Israelkritiker, dessen Lösungsvorschläge für die Beendigung der Konflikte in Nahost identisch wären mit einer „Endlösung“ für Israel. Nebenbei: ein ungutes ‚Wortspiel’, dieses „Lösung der Palästina-Frage“ und „Endlösung für Israel“.
So furchtbar das Ende eines Staates Israel aus meiner Sicht wäre, „Endlösung“, also millionenfache, fabrikmäßig betriebene Ermordung von Menschen, wäre das nicht. Die Polen haben rund 150 Jahre auf Eigenstaatlichkeit verzichten müssen, von 1772 bis 1918. Schlimm genug. Aber schlimmer wäre gewesen, man hätte sie alle in diesem Zeitraum umgebracht.
Existenz und Existenzrecht von Staaten haben einen hohen Rang. Aber Existenz und Existenzrecht von Menschen zählen für mich wahrhaft mehr. Und schließlich: Ich halte in dem oben zitierten Absatz aus Broders Vortrag für blanke Erfindung, dass Menschenrechtler, die entsetzt sind von Israels menschenfeindlicher und menschenrechtsfeindlicher Politik, unbewegt lassen würde, was in anderen Regionen der Welt an genau solcher Politik zu beklagen ist. Wie kommt Broder eigentlich darauf?
Natürlich trifft zu, dass Menschenrechtler, die sich im Nahostkonflikt engagieren, sich nicht gleichzeitig auch engagieren können in Darfur oder Zimbabwe, im Kongo oder in Kambodscha — übrigens eine Aufzählung, die höchst unvollständig ist! Natürlich trifft zu, dass Menschenrechts-Engagement noch bei jedem Menschen auf Grenzen des Leistbaren stößt, von der Zeit her, von der Arbeitskraft her, von der geistig-seelischen Belastbarkeit her. Aber daraus das Indiz für einen Neo-Antisemitismus konstruieren zu wollen, was eigentlich ist das?
Um Broders Antisemitismus-Verdacht zu entgehen, müsste ein jeder Menschenrechtler ein Übermensch sein, anzutreffen gleichzeitig an allen Krisenpunkten der Welt. Könnte uns Herr Broder sagen, wie das gehen soll?
„Antisemitismus und Antizionismus sind zwei Seiten derselben Münze“, formulierte Broder zum Abschluss seines Vortrags vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestages — ganz so, als ob in der israelischen Politik tatsächlich Zionismus realisiert würde und nicht eine Perversion desselben.
„Der (…) moderne Antisemit verehrt Juden, die seit 60 Jahren tot sind, nimmt aber lebenden Juden übel, wenn sie sich zur Wehr setzen.“
Als Selbstverteidigung also gibt Broder die menschenfeindliche und menschenrechtsfeindliche Politik der israelischen Regierung aus. Und sein letzter Rat an die Mitglieder des Innenausschusses lautete so:
„Überlassen Sie die Beschäftigung mit dem Antisemitismus à la Horst Mahler den Archäologen, den Antiquaren und den Historikern. Kümmern Sie sich um den modernen Antisemitismus im Kostüm des Antizionismus und um dessen Repräsentanten, die es auch in Ihren Reihen gibt.“
Damit hat sich, für Broder jedenfalls, der Kreis geschlossen; lediglich das antisemitische „Ressentiment“ gegen Israel ist von Belang, lediglich Kritik an der israelischen Regierung ist noch Antisemitismus, der ernst zu nehmen ist.
Antisemitismus, das ist Menschenrechts-Kritik an der menschenfeindlichen und menschenrechtsfeindlichen Politik des Staates Israel. Dies die Kernbotschaft des WELT-Journalisten. Und das bedeutet nichts anderes, als dass die UN-Menschenrechts-Charta vom 10. Dezember 1948 der furchtbarste antisemitische Text ist, der nach der Beseitigung des Nationalsozialismus auf deutschem Boden das Licht der Welt erblickt hat. Man fasst es nicht.
Einforderung der Menschenrechte kein Antisemitismus
Das, was Ellen Diederich in ihren beeindruckenden Berichten vor einiger Zeit auf www.hinter-den-schlagzeilen.de geschildert hat, dem Webmagazin von Konstantin Wecker für „Rebellion & Kultur“, diese furchtbaren Auswüchse einer furchtbaren Politik, ist erbärmlich in seiner Erbarmungslosigkeit.
Das humane Entsetzen darüber auch nur in die Nähe von Antisemitismus zu rücken, ist demzufolge selber von entsetzlicher Inhumanität.
Und auch dieses sei deutlich gesagt: Diese Brutalitäten der israelischen Politik, diese Menschendemütigungen und Menschenquälereien als Zionismus bezeichnen zu wollen, käme entweder einer unsäglichen Verharmlosung dieser Taten gleich oder einer Verteufelung des Zionismus.
Broder hat an dieser Stelle in seinem Vortrag den Zionismus hineinverteidigt in einen menschenrechtsfernen Bereich. Aber der Zionismus wollte niemals eine solche Politik, und er benötigt sie auch heute nicht.
Der originale Zionismus hat niemals in seiner Geschichte einen solchen Freibrief für Menschenrechtsverletzungen jedweder Art ausgestellt, und auch der heutige Zionismus ist nicht angewiesen auf einen solchen Freibrief. Der originale Zionismus bezog sich vor allem auf das Buch Jesaja im Alten Testament, Kapitel 2, Verse 3ff, in dem Doppeltes verhießen wurde: Heimstatt für die Juden in Palästina und Frieden zwischen den Völkern dort; die berühmte Wendung „Schwerter zu Pflugscharen“ findet sich hier.
Der Rabbiner Jehuda Alkalay (1798 bis 1878) verband 1843 in seiner Schrift „Höre Israel“ bereits vor Theodor Herzl seine zionistische Sehnsucht mit Ideen einer modernen demokratischen Politik. Und Herzl selbst, der eigentliche Begründer des Zionismus, wollte stets nur jüdische Ansiedlungen in Kongruenz mit dem Völkerrecht.
Er träumte Zeit seines Lebens davon, dass auch die Araber einen neuen friedlichen Staat Israel begrüßen würden, so unter anderem in seinem Roman „Altneuland“ aus dem Jahr 1902. Schon in der „Balfour-Deklaration“ vom 2. November 1917 wurde festgehalten, dass die Rechte der Palästinenser gewahrt werden müssten, und Chaim Weizmann, damaliger Vertreter der „World Zionist Organisation“, der WZO, und später der erste Staatspräsident Israels (1948/49 bis 1952) stimmte dem ausdrücklich zu.
Kurz: Der militaristische, der aggressive, der expansionistische Zionismus, dem Broder in seinem Vortrag implizit das Wort geredet hat, ist nicht der Zionismus schlechthin. Er stellt höchstenfalls eine bestimmte Fraktion innerhalb der zionistischen Bewegung dar.
Und was ist mit den Aggressionen der Gegenseite, mit den Kriegen diverser arabischer Länder gegen Israel, mit den furchtbaren Selbstmord-Attentaten von Palästinensern? — Nun, auch wenn es mein Thema hier nicht ist — „Israelkritik gleich Antisemitismus?“ —, ist meine Antwort diesen Akteuren gegenüber klar: Es darf keine aggressiv-eskalierende Politik geben, auch nicht von dieser, der anderen Seite aus! Gerade, indem ich diese doppelte Distanz zu einer Unrechts-Politik auf beiden Seiten formuliere, bekunde ich meine Nähe zu den Menschen hüben wie drüben.
Von Beginn an lebte der Staat Israel in Angst vor seinen arabischen Nachbarn, und es hat wahrlich Gründe gegeben für diese Angst, wieder und wieder. Doch die daraus erwachsene aggressive — oft auch präventiv-aggressive — Politik hat aufgrund der darauffolgenden Gegenaggressionen diese Angst objektiv wie subjektiv nur noch verstärkt. Die Angst-Aggressions-Spirale im Nahen Osten ist unverkennbar. Und die Juden und Palästinenser — beides „semitische“ Völker übrigens! —, diese beiden Parteien gleichen eigentlich einem einzigen Heer, das sich selber umbringt.
Annexionen und Enteignungen, Kriegshetze und Raketenangriffe, Erschießungen und Folter, Vertreibungen und Inhaftierungen, Verelendung und Schikanen, Attentate und Vorenthaltung von Bürgerrechten — egal, was wir uns anschauen: Auf beiden Seiten sind von beiden Seiten aus furchtbare Wunden geschlagen worden, furchtbare Verluste an Menschenleben zu beklagen. Demütigungen und Kränkungen und Verletzungen und traumatische Erfahrungen sind eingegangen in die Geschichte der Familien auf beiden Seiten dieses entsetzlichen Konflikts.
Aus subjektiven Gründen, aus Angst, vermehrt man fortdauernd auf beiden Seiten die objektiven Gründe für Angst, die Anzahl der bewaffneten Einsätze, die Anzahl der Attentate und und und. Auf beiden Seiten haben es demzufolge die Verständigungsbereiten und Friedfertigen ungeheuer schwer. Der Schmerz setzt noch dem Friedfertigsten zu.
Und was uns Menschen im fernen Europa betrifft, uns Deutsche vor allem: Wir sollten die allerletzten sein, die den Juden in Israel — deshalb, weil sie einmal Opfer waren oder Nachfahren von Opfern sind — mehr Moral und Reife abverlangen als allen anderen Menschen auf dieser Welt. Nach der „Sonderbehandlung“ von einst also die Forderung nach einer „Sondermoral“ jetzt! Nein, es geht um Rückkehr zu einer menschenrechtsorientierten und friedensstiftenden Politik, zu der sämtliche Menschen und Nationen auf diesem immer enger werdenden Raumschiff Erde verpflichtet sind.
Humanität ist nicht teilbar und keine Lotterie. Gerade deswegen trifft die Aussage zu: Die Maßstäbe der Humanität gelten für die Vergangenheit und die Gegenwart, sie gelten für alle Beteiligte an diesem Konflikt und für alle Menschen auf diesem Erdball, sie gelten — nicht zuletzt — auch für uns, für Außenstehende wie Broder und mich.