Lückenhaftes Theoriegebäude (2/3)

 In FEATURED, Philosophie, Politik, Wirtschaft

Was Karl Marx übersehen hat. Entweder man hasst ihn oder man vertraut seiner Lehre blind wie viele Christen ihrer Bibel. Dazwischen gibt es fast nichts, wenn sich die Diskussion um Karl Marx, den Schöpfer des Ökonomie-Klassikers „Das Kapital“ dreht. Dabei würde der große Theoretiker aus Trier eine differenzierte Betrachtungsweise verdienen. 30 Jahre nach dem Scheitern des realsozialistischen Experiments ist es an der Zeit für eine Wiederentdeckung von Karl Marx. Diese sollte jedoch nicht kritiklos sein. Mohssen Massarat plädiert für ein erneuertes Marx-Bild ohne Bart. Dabei zielt er aber nicht so sehr darauf ab, was in den Ländern, die sich auf seine Lehre beriefen, schief gelaufen ist. In der marxistischen Theorie selbst spürt er blinde Flecken und Unstimmigkeiten auf. Hier geht es vor allem um die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit.  Mohssen Massarrat

Lückenhaftes Theoriegebäude. Was Karl Marx zu sagen vergaß. Teil 1.
Teil I, zweiter Abschnitt
Arbeit in Produktion und Zirkulation, in einfacher und kapitalistischer Warenproduktion

Versuche von Marx, den Unterschied zwischen den Tätigkeiten in den beiden Sektoren — Produktion und Zirkulation — werttheoretisch zu begründen, münden oft in Tautologie ein, wie man es zum Beispiel an folgender Stelle sehen kann:

„Hat der industrielle Kapitalist, der sein eigner Kaufmann ist, nun außer dem Zusatzkapital, womit er neue Ware kauft, ehe sein in Zirkulation befindliches Produkt in Geld rückverwandelt ist, außerdem noch Kapital (Bürokosten und Lohn für kommerzielle Arbeiter) vorgeschossen für die Realisierung des Wertes seines Warenkapitals, also für den Zirkulationsprozeß, so bilden diese zwar zusätzliches Kapital, aber keinen Mehrwert. Sie müssen aus dem Wert der Waren ersetzt werden; denn ein Wertteil dieser Waren muss sich wieder umsetzen in diese Zirkulationskosten; aber hierdurch wird kein zusätzlicher Mehrwert gebildet“ (1).

Im Zirkulationsprozess würde demnach kein Wert gebildet, dort entstehen Kosten — Zirkulationskosten. Diese müssten, so Marx, schließlich aus dem Wert der Waren ersetzt werden. Wenn also die Aussage, dass in der Zirkulation kein Wert entsteht, auf einer Fiktion, auf einer nicht weiter begründeten Annahme, beruht, dann ist es auch tautologisch, hinter den dort entstandenen Lohn- und Kapitalkosten keine Arbeitskraft und keinen dadurch geschaffenen zusätzlichen Wert zu sehen und diese (Zirkulations-)Kosten als einen Abzug von den schon im Produktionsprozess geschaffenen Warenwerten aufzufassen. Ungeachtet der fehlenden Begründung, dass die in der Zirkulation aufgewandte Arbeit keinen Wert schafft, macht Marx aus seiner Annahme im zweiten Band des „Kapitals“ bei der Analyse der Zirkulationskosten sogar ein „allgemeines Gesetz“:

„Das allgemeine Gesetz ist, dass alle Zirkulationskosten, die nur aus der Formverwandlung der Ware entspringen, dieser letztren keinen Wert hinzusetzen. Es sind bloß Kosten zur Realisierung des Werts oder zu seiner Übersetzung aus einer Form in die andre. Das in diesen Kosten ausgelegte Kapital (eingeschlossen die von ihm kommandierte Arbeit) gehört zu faux frais der kapitalistischen Produktion“ (2).

Die Marx’sche Charakterisierung der Arbeit in der Zirkulation als Kosten beruht auf einer weiteren, ebenso nicht näher begründeten Annahme, dass nämlich der Wert der produzierten Waren — wie man das in den oben zitierten und anderen Stellen sehen kann — sich erst in der allerletzten Stufe der Zirkulation und erst, wenn die Konsumenten die Waren gegen Geld ausgetauscht haben, realisiert. Mag sein, dass Marx aus der Perspektive der Konsumenten — deren Konsumbedürfnis die eigentliche Voraussetzung für die Warenproduktion darstellt, ohne die die ganze Kette rückwärts in allen Zirkulationsstufen und letztlich auch in der Produktion ins Stocken geraten und unterbrochen würde — meint, den Kaufakt der Konsumenten als Moment der Wertrealisierung betrachten zu müssen.

Diese für seine Argumentation entscheidende Annahme, dass der im Produktionsprozess erzeugte Wert erst in der allerletzten Stufe der Zirkulation, und zwar beim eigentlichen Konsumenten, realisiert wird, ist meines Erachtens weder logisch zwingend, noch entspricht sie empirisch der Realität, ganz im Gegenteil. In der Praxis realisiert der Kapitalist die in seiner Fabrik produzierten Warenwerte, sobald die produzierte Ware das Fabrikgelände verlässt, um in den Besitz des Händlers überzugehen, der die Ware bestellt hat.

Genau diese Überführung der Ware aus dem Besitz des Fabrikanten in den Besitz des Händlers macht zweifellos das erste Moment des Tausches von Ware in Geld und damit also auch die Wertrealisierung für den Produzenten aus. Zwar produziert der Fabrikant in letzter Instanz für die Konsumenten und für die Befriedigung von deren Bedürfnissen. Dem Konsumenten ist es jedoch einerlei, ob der Fabrikant die Ware unmittelbar nach der Fertigung einem Mittler für den Weiterverkauf überlässt oder ob er sie selbst auf dem Markt veräußert. Im ersteren Fall findet die Wertrealisierung ganz klar und ohne den geringsten Zweifel beim Verkauf der Ware an den Händler statt. Und im letzteren müsste er durch einen zusätzlichen Arbeitsaufwand die Tätigkeit des Händlers übernehmen.

Marx selbst scheint sich der Richtigkeit seiner so entscheidenden Annahme beziehungsweise des „Allgemeinen Gesetzes“, dass in der Zirkulation kein Wert entsteht, auch nicht ganz sicher zu sein. Vor allem macht er mit Bezug auf den Transportsektor, den er als ein Glied der Zirkulationskette betrachtet, von diesem Gesetz eine Ausnahme:

„Produktionsmassen vermehren sich nicht durch ihren Transport. Auch die durch ihn etwa bewirkte Veränderung ihrer natürlichen Eigenschaften ist mit gewissen Ausnahmen kein beabsichtigter Nutzeffekt, sondern ein unvermeidliches Übel. Aber der Gebrauchswert von Dingen verwirklicht sich nur in der Konsumtion, und ihre Konsumtion mag ihre Ortsveränderung nötig machen, also den zusätzlichen Produktionsprozeß der Transportindustrie. Das in dieser angelegte produktive Kapital setzt also den transportierten Produkten Wert zu, teils durch Wertübertragung von den Transportmitteln, teils durch Wertzusatz vermittelst der Transportarbeit. Dieser letztre Wertzusatz zerfällt, wie bei aller kapitalistischen Produktion, in Ersatz von Arbeitslohn und in Mehrwert“ (3).

Marx schließt seine Analyse der Zirkulationskosten im Transportsektor mit einem mir wichtig erscheinenden ergänzenden Satz ab, den ich zitieren möchte:

„Die Transportindustrie bildet einerseits einen selbstständigen Produktionszweig, und daher besondre Anlagesphäre des produktiven Kapitals. Andrerseits unterscheidet sie sich dadurch, dass sie als Fortdauer eines Produktionsprozesses innerhalb des Zirkulationsprozesses und für den Zirkulationsprozeß erscheint“ (4).

Bei einer genaueren Betrachtung und vom Standpunkt der Werttheorie aus treffen jedoch alle wichtigen Merkmale des Transportsektors auch auf den Handelssektor und umgekehrt auch alle Merkmale der Handelssphäre auf den Transportsektor zu: Erstens sind alle Tätigkeiten in beiden Sektoren notwendige Tätigkeiten, damit die produzierten Gebrauchswerte bei den Konsumenten ankommen.

Zweitens findet im Handel wie beim Transport keine Formveränderung der Waren statt. Im Handel müssen genauso wie im Transportsektor Angestellte und Lohnarbeiter beschäftigt werden, die in vielen Abteilungen, beispielsweise der Verwaltung der Handelsunternehmen, in der Werbebranche und schließlich im Groß- und Einzelhandel, in den Warenhäusern und Lebensmittelgeschäften durch Auspacken, Sortieren, Verkaufen et cetera mit dafür sorgen, dass die produzierten Waren zu den Konsumenten gelangen. Warum die hier eingesetzte Arbeitsmasse bloß eine notwendige, aber unproduktive und daher auch keinen Wert und Mehrwert schaffende sein soll, während die für die Ortsveränderung durch Transport eingesetzte Arbeitsmasse Wert und Mehrwert produziert, bleibt ein Rätsel.

Schließlich sind sämtliche Arbeitsvorgänge im Handel, nachdem die Tätigkeit des Transportsektors mit der Auslieferung der Waren und der Lagerung in den Lagerhallen der Handelshäuser endet, nichts anderes als die Fortsetzung der Tätigkeiten in der Transportindustrie. Diese umfassen Auspacken, Sortieren, in Regalen unterbringen und stellen selbstverständlich Ortsveränderungen, wenn auch bei kleineren Entfernungen innerhalb der Warenhäuser, dar. Tätigkeiten im Transportsektor haben auch technisch eine größere Ähnlichkeit mit den Tätigkeiten im Handel als mit den Tätigkeiten im Produktionsprozess. Marx erklärt die Transportindustrie jedoch kurzerhand und mehr oder weniger willkürlich als „Fortdauer eines Produktionsprozesses innerhalb des Zirkulationsprozesses“ und den Handel als notwendiges Element für die Wertrealisierung.

Vom Standpunkt der Werttheorie im Sinne von Wert als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft in der Waren produzierenden Gesellschaft — und nur von dieser Perspektive ausgehend — sind sämtliche Tätigkeiten in der gesamten Reproduktionskette, in den Produktionsbetrieben, im Transportsektor, in sämtlichen Warenhäusern und in den Lebensmittelgeschäften objektiv Wert produzierende Tätigkeiten, so dass dem ursprünglichen, in der Produktion entstandenen Warenwert bei jeder weiteren Stufe stets neue Wertbestandteile zugeführt werden und letztlich insgesamt den Marktwert der Waren ausmachen, der im letzten Akt aller Stufen der Reproduktionskette, im Austausch gegen Geld der Konsumenten, realisiert wird. Dabei macht es keinen Unterschied, ob Transport und Handel durch kleine Ein-Mann-Unternehmen oder durch größere Unternehmen ausgeführt werden, in denen Arbeitskräfte beschäftigt sind.

Im ersteren Fall entsteht ein zusätzlicher Wert, der dem Wert der Arbeit des Selbstunternehmers entspricht. Und im letzteren Fall entsteht ein zusätzlicher Wert, der aus der Summe der Werte der Arbeit aller im Unternehmen beschäftigten Arbeitskräfte besteht, wobei hier der neu entstandene Wert sich in Arbeitslohn und Mehrwert des Kapitalisten auflöst. In jedem Fall wird menschliche Arbeitskraft verausgabt und dadurch — Warenproduktion vorausgesetzt — auch Wert produziert.

Es ist also offenkundig, dass man vom werttheoretischen Standpunkt aus einen qualitativen Unterschied zwischen den verschiedenen Stufen in der gesamten Reproduktionskette nicht machen kann. Welche nicht artikulierten Überlegungen könnten jedoch Marx zu seiner These veranlasst haben, dass Werte aus seiner Sicht nur im Produktionsprozess und dass bei der Zirkulation keine Werte, sondern Kosten entstehen — oder dass die Transportindustrie ein Wert produzierender Sektor ist, der Handel jedoch keinen Wert innerhalb des Zirkulationsprozesses produziert.

Diese Frage schafft sicherlich Raum für viele Spekulationen. Denkbar scheint mir jedoch der Sachverhalt von wahrnehmbar unterschiedlichen Arbeitsinstrumenten in diversen Stufen des Reproduktionsprozesses eine Rolle gespielt zu haben. So richtig auch die technisch bedingten Unterschiede in diversen Reproduktionsphasen sind und so klar diese Unterschiede auch ins Auge stechen mögen, auf der abstrakten Wertebene sind derartige Unterscheidungen rein subjektiv und willkürlich. Marx scheint mit der unterschiedlichen Charakterisierung von Arbeit in Produktion und Handel, die er in seinem Gesamtwerk und allen drei Bänden durchgehend vornimmt, hier und da allerdings auch selbst zu hadern.

„Der kommerzielle Arbeiter“, schreibt er bei der Analyse des kaufmännischen Kapitals im dritten Band des „Kapitals“, „produziert nicht direkt Mehrwert. Aber der Preis seiner Arbeit ist durch den Wert seiner Arbeitskraft, also deren Produktionskosten, bestimmt, während die Ausübung dieser Arbeitskraft als eine Anspannung, Kraftäußerung und Abnutzung, wie bei jedem andren Lohnarbeiter, keineswegs durch den Wert seiner Arbeitskraft begrenzt ist. Sein Lohn steht daher in keinem notwendigen Verhältnis zu der Masse des Profits, die er dem Kapitalisten realisieren hilft. Was er dem Kapitalisten kostet und was er ihm einbringt, sind verschiedene Größen. Er bringt ihm ein, nicht indem er direkt Mehrwert schafft, aber indem er die Kosten der Realisierung des Mehrwerts vermindern hilft, soweit er, zum Teil unbezahlte, Arbeit verrichtet“ (5).

Was soll und wozu dient diese doch sichtbare Verrenkung und Wortspielerei, um schließlich zu sagen, dass die kommerzielle Arbeit dem Handelsunternehmer keinen Mehrwert einbringt, sondern diesem „die Kosten der Realisierung des Mehrwerts vermindern hilft“, dass also der kommerzielle Mehrwert nicht direkt, sondern nur indirekt ein Mehrwert ist.

Noch deutlicher zeigt Marx die Ungereimtheit seiner Annahme von unproduktiver, also nicht Wert erzeugender Arbeit im Handel, indem er im allerletzten Satz seiner Analyse des kaufmännischen Kapitals genau das Gegenteil von seiner Annahme konstatiert:

„Dem industriellen Kapital erscheinen und sind die Zirkulationskosten Unkosten. Dem Kaufmann erscheinen sie als Quelle seines Profits, der — die allgemeine Profitrate vorausgesetzt — im Verhältnis zur Größe derselben steht. Die in diesen Zirkulationskosten zu machende Auslage ist daher für das merkantile Kapital eine produktive Anlage. Also ist auch die kommerzielle Arbeit, die es kauft, für es unmittelbar produktiv“ (6).

Mittelbar oder unmittelbar, direkt oder indirekt: Fakt ist, dass auch nach Marx selbst im Handel Mehrwert, also auch Wert, erzeugt wird. Eine ähnlich widersprüchliche Aussage lässt sich bei Marx auch bei der Herstellung öffentlicher Güter wie zum Beispiel der Tätigkeit von Lehrenden finden. Obgleich im Lehrbetrieb nach Marx’ grundsätzlicher Annahme kein Wert und auch kein Mehrwert entsteht, schreibt er bei der Analyse des absoluten und des relativen Mehrwerts im ersten Band des „Kapitals“, dass „nur der Arbeiter, der Mehrwert für den Kapitalisten produziert oder zur Selbstverwertung des Kapitals dient“, produktiv ist.

„Steht es frei“ schreibt er weiter, „ein Beispiel außerhalb der Sphäre der materiellen Produktion zu wählen, so ist ein Schulmeister produktiver Arbeiter, wenn er nicht nur die Kinderköpfe bearbeitet, sondern sich selbst abarbeitet zur Bereicherung des Unternehmers. Daß letztrer sein Kapital in einer Lehrfabrik angelegt hat, statt in einer Wurstfabrik, ändert nichts an dem Verhältnis“ (7).
Entrümpelung problematischer Begriffe

Wir haben oben gesehen, dass die Unterscheidung der produktiven von der unproduktiven Arbeit vom Standpunkt der Wertproduktion eher Irritationen hervorruft und eigentlich analytisch auch keinen Sinn ergibt. Von der Perspektive der Warenproduktion und auch der kapitalistischen Warenproduktion aus ist jede Arbeit produktiv, die in der gesamten Reproduktionskette verausgabt wird. Es gibt so gesehen überhaupt keine Waren produzierende Arbeit, die unproduktiv ist.

Mit der durch die Wertproduktion definierten Produktivität ist also nicht eine echte, Fortschritt und Wohlstand herbeiführende Produktivität gemeint, sondern eine Produktivität im Kontext der Warenproduktion. So gesehen ist selbst die Arbeit, die mit Umweltzerstörung einhergeht, ja auch die Arbeit, die in der Rüstungsindustrie verausgabt wird, im Sinne der Warenproduktion und der Werttheorie produktive Arbeit. Dies gilt auch, obgleich man solche Tätigkeiten mit moralischen Maßstäben als gesellschaftlich zerstörerische und Kosten verursachende Arbeit klassifizieren und politisch darauf hinwirken muss, derartige Tätigkeiten auf eine gegen null tendierende Größe zu reduzieren.

Etwas anderes ist die Aussage, dass Arbeiten unterschiedlich produktiv sind. Für diesen Unterschied hat Marx, wie unten noch näher erläutert wird, die Begriffe „einfache“ und „komplizierte“ Arbeit entwickelt und den Unterschied auch werttheoretisch begründet.

Problematisch und irreführend ist meines Erachtens die begriffliche Aufteilung des gesamten Reproduktionsprozesses in einen Produktions- und einen Zirkulationsprozess. Schon die Zuordnung des Transportsektors zum Produktionsprozess durch Marx, obwohl er diesen Sektor als Teil der Zirkulationssphäre definiert hat, zeigt, dass eine solche Aufteilung nicht durchgehend aufrechtzuerhalten ist. Zudem schafft eine derartige begriffliche Differenzierung die Illusion, dass die Waren in einem Kreislauf nach der Produktion lediglich zirkulieren, also von der einen Hand als Ware gegen Geld in die nächste Hand weitergereicht werden bis sie schließlich gegen Geld bei den Konsumenten ankommen. Möglicherweise ist allein eine solche begriffliche Aufteilung die Ursache dafür, dass Marx den Produktionsprozess als Wert erzeugend und den Zirkulationsprozess als Kosten verursachend unterschieden hat.

Es kann natürlich auch umgekehrt die Annahme, dass Werte nur bei der stofflichen Formveränderung — also im Produktionsprozess — entstehen, Marx veranlasst haben, diese begriffliche Unterscheidung vorzunehmen. So oder so geht die Unterscheidung zwischen Produktion und Zirkulation vom Standpunkt der Werttheorie an der Realität vorbei und kann daher auch methodisch nicht helfen, die Realität präziser abzubilden. Vielmehr ist es werttheoretisch stringenter, die gesamte Reproduktionskette in Produktion, Lagerhaltung, Transport, Handel und Vermarktung zu zergliedern. Denn nur so kann man jenseits der rein subjektiven Wahrnehmung von Produktion und Zirkulation objektiv feststellen, dass in allen diesen Stufen Wert und, sofern die Arbeit dem Kommando des Kapitals untergeordnet ist, auch Mehrwert erzeugt wird.

Jede Arbeit ist Teil eines gesamtgesellschaftlichen Arbeitsquantums

Nach Marx‘scher Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit wären sämtliche Tätigkeiten im Kreditwesen und im öffentlichen Sektor zwar notwendig, aber letztlich unproduktiv, damit also nicht Wert schaffende und erst recht nicht Mehrwert produzierende Tätigkeiten. Nach einer solchen Charakterisierung von Tätigkeiten tragen diese nicht zum nationalen Wertprodukt bei, vielmehr verursachten sie Kosten und müssten folglich vom nationalen Wertprodukt sogar abgezogen werden. Hier sieht man am deutlichsten, dass die Begrifflichkeiten — Produktion und Zirkulation, produktive und unproduktive Arbeit — an der ökonomischen Realität vorbei zu fragwürdigen Schlussfolgerungen führen.

Dagegen eröffnet die werttheoretisch korrekte Annahme, dass jede in der Waren produzierenden Gesellschaft geleistete Arbeit Teil des gesamtgesellschaftlich verausgabten Arbeitsquantums ist, methodisch auch den Weg, alle Tätigkeiten innerhalb des gesamten Reproduktionskreislaufs nach werttheoretischen Kriterien zu klassifizieren. Demnach gehören auch die Tätigkeiten in der Kreditwirtschaft und im öffentlichen Sektor — in beiden Sektoren werden die allgemeinen Bedingungen für den gesamten Reproduktionskreislauf hergestellt — selbstverständlich Wert erzeugende Tätigkeiten. Sie erzeugen auch Mehrwert, sofern sie, wie beispielsweise im Kreditsektor, kapitalistisch organisiert sind. Selbst Tätigkeiten zur Herstellung von öffentlichen Gütern, die durch Privatisierung unter der Regie des Kapitals stattfindet, sind nicht nur Wert, sondern auch Mehrwert produzierende Tätigkeiten.

Diese hier vorgenommene Charakterisierung der Tätigkeiten spiegelt sich folgerichtig auch in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung kapitalistischer Gesellschaften wider: Hierbei werden auf der Ebene der Entstehung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sämtliche im Jahr produzierten Waren und Dienstleistungen zusammengezählt, während sich auf der Ebene der Verwendung das Bruttoinlandsprodukt aus der Summe sämtlicher Einkommen, also der Löhne und Gehälter der Beschäftigten, der Gewinne der Unternehmer, der Miet- und Pachteinnahmen der Immobilienbesitzer sowie der Zinseinnahmen der Geldverleiher ergibt. Diese Erfassungsmethode ist in der kapitalistischen Wirtschaft weder zufällig noch willkürlich entstanden, sondern sie ergibt sich aus der ökonomischen Realität.

Einfache und kapitalistische Warenproduktion

Anders als die Unterscheidung zwischen Produktion und Zirkulation ist die Marx‘sche Unterscheidung zwischen einfacher und kapitalistischer Warenproduktion fundamental, sowohl hinsichtlich der Warenproduktion in vorkapitalistischen Produktionsweisen wie auch innerhalb des Kapitalismus selbst. Hierauf wird hier in aller Kürze lediglich aus Gründen der Vollständigkeit im Kontext des Themas eingegangen. Die einfache Warenproduktion umfasst alle Tätigkeiten von selbstständig beschäftigten Einzelpersonen oder Familien, die teilweise oder ganz für den Markt produzieren. Sie ist ihrem Wesen nach Ausdruck der historisch ersten Arbeitsteilung zwischen Landwirtschaft und Handwerk, zwischen rein agrarischer Produktion und Viehzucht und schließlich auch zwischen Stadt und Land.

Diese Arbeitsteilung besteht somit seit mehreren Tausend Jahren und war ein wichtiges Glied aller vorkapitalistischen Gesellschaften, in allen orientalischen staatszentrierten Gesellschaften, im antiken Rom, im alten Griechenland und im europäischen Feudalismus. Auch im entwickelten Kapitalismus existiert sie weiter und durchaus flächendeckend fort. Hier produzieren Menschen beispielsweise in den Bereichen Handwerk, Landwirtschaft und Einzelhandel von vornherein für den Markt. Die einfache Warenproduktion dürfte auch im Postkapitalismus nicht verschwinden.

Die kapitalistische Warenproduktion ist dagegen eine Erscheinung jüngeren Datums. Sie beruht auf der Produktion von Mehrwert und darauf, dass die Produzenten nicht selbständig sind und daher auch nicht für sich selbst arbeiten, sondern ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten verkaufen. Bedürfnisbefriedigung ist bei dieser Produktionsweise nicht der Hauptzweck, sondern lediglich das Mittel zur Mehrwertproduktion und Profitsteigerung.

Einfache und komplizierte Arbeit

Eine weitere und meines Erachtens auch grundlegende Unterscheidung der Arbeitsformen, die Marx — allerdings nur beiläufig — vorgenommen hat, ist jene zwischen einfacher und komplizierter Arbeit. Bereits im ersten Abschnitt im ersten Band des „Kapitals“ bezeichnet Marx die „menschliche Arbeit“ als „Verausgabung einfacher Arbeitskraft, die im Durchschnitt jeder gewöhnliche Mensch, ohne besondere Entwicklung, in seinem leiblichen Organismus besitzt. Die einfache Durchschnittsarbeit selbst wechselt zwar in verschiedenen Ländern und Kulturepochen ihren Charakter, ist aber in einer vorhandenen Gesellschaft gegeben“.

Im Unterschied dazu gilt „komplizierte Arbeit nur als potenzierte oder vielmehr multiplizierte einfache Arbeit, so dass ein kleineres Quantum komplizierter Arbeit gleich einem größeren Quantum einfacher Arbeit. (…) Die verschiednen Proportionen, worin verschiedne Arbeitsarten auf einfache Arbeit als ihre Maßeinheit reduziert sind, werden durch einen gesellschaftlichen Prozess hinter dem Rücken der Produzenten festgesetzt und scheinen ihnen daher durch das Herkommen gegeben“ (8).

Durch die Unterscheidung dieser beiden Arbeitsformen ist es möglich, die unterschiedliche Bewertung von diversen Arbeiten werttheoretisch nachvollziehbar zu machen. Die „komplizierte“ Arbeit (9) stellt einen höheren Wert dar als die einfache Arbeit. Alle Menschen können einfache Tätigkeiten bewältigen. Aber nicht jeder ist in der Lage, alle Anforderungen an komplexere Tätigkeiten zu erfüllen. Die speziellen Anforderungen an Tätigkeiten setzen in der Regel die Aneignung von Wissen durch Ausbildung und besondere Erfahrungen, letztlich höhere Qualifikationen unterschiedlicher Stufen voraus.

Diese Qualifikationen erfordern zusätzliche Anstrengung und zusätzlichen geistigen Kraftaufwand, schließlich auch die Bereitschaft und den Willen, die zusätzlichen Anstrengungen hinzunehmen. Eine Arbeit wird dadurch höher qualifiziert, dass für ihre Qualifikation ein zusätzliches Arbeitsquantum in die ursprüngliche Arbeitskraft einfließt. Der für die Qualifikation erforderliche zusätzliche Arbeitsaufwand ist jedenfalls der Grund für die Höherwertigkeit der qualifizierteren Arbeit.

Dabei kann nicht übersehen werden, dass das natürliche Talent sowohl bei der Auswahl wie bei dem Erwerb von Qualifikationen auch eine wichtige Rolle spielt. Nicht jeder kann oder will Arzt werden. Und nicht jeder, der es geschafft hat, Arzt zu werden, kann oder will Chirurg werden. Das Talent hat eine wichtige Koordinations- und Organisationsfunktion. Durch das Talent werden Wissen und Erfahrung optimal miteinander kombiniert. Insofern kann das Naturtalent per se als eine von der Natur her gegebene Qualifikation angesehen werden, so dass sich die Arbeit eines mit Talent ausgestatten Menschen im Wertbildungsprozess als eine höherwertige Arbeit darstellt.

Menschen sind nicht nur mit unterschiedlichen Formen, sondern auch mit verschiedenen Talentmengen ausgestattet. Insgesamt werden menschliche Arbeiten gesellschaftlich nach dem Maß ihrer Qualifikation und dem Ausmaß ihrer Begabungen bewertet und auch vergütet. Es gibt also durchschnittlich talentierte Facharbeiter, Ingenieure, Chirurgen, Sänger, Rechtsanwälte, Fußballspieler et cetera.

Es gibt allerdings auch eine kleine Gruppe von Menschen mit seltenen Naturbegabungen. Es gibt also Facharbeiter mit einer seltenen Fähigkeit, die sie in die Lage versetzt, besonders komplexe feinmechanische, elektronische oder chemische Arbeitsprozesse zu bewältigen, wozu nicht jede qualifizierte Fachkraft in der Lage ist. Es gibt Ingenieure mit Erfindungsgeist, Chirurgen, die fehlerfrei hochkomplexe neurologische Operationen durchführen, es gibt Sänger mit außergewöhnlich guter Stimme, es gibt Rechtsanwälte, die überdurchschnittlich viele Gerichtsverfahren gewinnen, und es gibt auch nur eine kleine Schar von Fußballspielern und Rennfahrern, die Spitzenleistungen erbringen. Derart seltene menschliche Fähigkeiten sind wie alle nicht reproduzierbaren Naturkräfte und Rohstoffe in der Regel monopolisierbar (10).

Die Vergütung dieser verhältnismäßig kleinen Gruppe von Menschen, die oft tausendfach und mehr als die Vergütung von durchschnittlich talentierten Menschen verdienen, resultiert allerdings nicht daraus, dass ihre Arbeit auch einen tausend und mehr mal höheren Wert darstellt. Vielmehr ist das Monopol, über das diese Menschen verfügen, der Hauptgrund für ihre unvergleichbar höheren Einnahmen.

Solche Einnahmen sind daher nicht Ausdruck einer auf ihrem Talent beruhenden Wertschöpfung, sondern wie bei jedem Monopol — ich komme im Zusammenhang mit der Immobilienrente im Abschnitt 7 noch einmal darauf zurück — Ausdruck der Wertübertragung von der Konsumentenseite auf die Anbieter der Leistung. Wenn also die Besitzer von IT-Konzernen innerhalb von wenigen Jahren zu den größten Milliardären aufgestiegen sind, dann nicht nur auf Grund von Wert- und Mehrwertproduktion in ihren Betrieben, sondern vor allen Dingen vor dem Hintergrund ihres Monopols, das sie in die Position versetzt, immense Kaufkraftsummen aus der ganzen Welt einzusammeln (11).

Die Beschäftigung mit diversen Arbeitsformen, wie ich sie oben dargelegt habe, ist durchaus keine rein akademische Angelegenheit. Sie ist vielmehr nicht nur hinsichtlich einer Debatte über gerechte Vergütung von Menschen im heutigen Kapitalismus — zumal bei global zunehmender Einkommens- und Vermögensungleichheit — eine hochpolitische Aufgabe. Es ist auch perspektivisch für die Gestaltung von sozialen Beziehungen und Lohnabstufungen in einer auf Chancengleichheit beruhenden nichtkapitalistischen Gesellschaft von zentraler Bedeutung.

Quellen und Anmerkungen:

(1) Karl Marx, 1969: Das Kapital, Dritter Band, Berlin, S. 302f
(2) Karl Marx, 1966: Das Kapital, Zweiter Band, Berlin, S. 150.
(3) Ebenda, S. 151
(4) Ebenda, S. 153
(5) Karl Marx, 1969: Das Kapital. Dritter Band, Berlin, S. 311
(6) Ebenda, S. 313
(7) Karl Marx,1969, Das Kapital, Erster Band, Berlin, S. 532
(8) Ebenda, S. 59
(9) Hier wäre angebracht zu fragen, ob der von Marx gewählte Begriff „kompliziert“ besser durch den Begriff „komplex“ ersetzt werden müsste. Von seiner inhaltlichen Bedeutung scheint mir der Begriff „kompliziert“ im Sinne von schwierig, ungünstig etc. für den Sachverhalt, der damit zum Ausdruck gebracht werden soll, ungeeignet zu sein. Marx meint mit „kompliziert“ im Grunde „komplex“ im Sinne von umfassend, auf höherer Stufenleiter befindend etc.
(10) Die Frankfurter Rundschau vom 26. März 2019 stellt — um den Sachverhalt an einem aktuellen Beispiel anschaulich zu machen — fest, dass das Jahreseinkommen des deutschen Formel-1-Rennfahrers Sebastian Vettel von 37,13 Millionen Euro in 2017 sage und schreibe 2.065 mal höher ist als der gesetzliche Mindestlohn von 17.976 Euro in Deutschland.
(11) Wenn die Herstellungskosten der Smartphones, wie inzwischen bekannt geworden ist, lediglich ein Zehntel des Preises ausmachen, dann ist es klar, dass in den neun Zehnteln des Preises ein gehöriger Bestandteil Oligopolprofit drin steckt, den sich die großen Anbieter ohne eine Gegenleistung aneignen.

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