Marx und Gesell – ein Brückenschlag

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Fairconomy-Heft mit Titelfoto: Silvio Gesell

Karl Marx thematisierte vor allem den Klassengegensatz zwischen Unternehmer und Werktätigen, Silvio Gesell die Sphäre des Geldes und die Probleme, die sich aus dem Zins ergeben. Der eine prägte eine Epoche, die in halb Europa dominierte, der andere bleibt bislang eher ein “Insidertipp”. Eine Annäherung zwischen den beiden “Milieus”, die sich um die Lehren der beiden großen Theoretiker bildeten, findet bisher nicht statt. Das ist schade, denn beide könnten einander bestens ergänzen und befruchten. Dieser Doppelbeitrag erschien ursprünglich in der Zeitschrift “fairconomy”, herausgeben von der Initiative für Natürlich Wirschaftsordnung (INWO). Wir veröffentlichen daraus zuerst das Editorial von Chefredakteurin Beate Bockting, danach den ausführlichen Beitrag “Silvio Gesell und Karl Marx – ein historisch verpasstes Bündnis” von Johannes Heinrichs.

 

 

Marx und Gesell

(Beate Bockting)

In diesem Jahr seines 200. Geburtstags steht Karl Marx im öffentlichen Interesse. Das ist gut so. Die Auseinandersetzung mit Marx bietet aber auch Gelegenheit, sich genauso mit einem seiner Kritiker zu befassen: Silvio Gesell. Was unterscheidet Gesell von Marx?

Gesells ganze Theorie beruht auf der Beobachtung von Marktverhältnissen und Preisen. Die herrschende Ökonomie, die die Finanzkrise weder hat kommen sehen (wollen), geschweige denn, diese nachhaltig gelöst hat, aber auch die linken Ökonomen, müssen sich die Frage gefallen lassen: Hat sich Gesells Theorie nicht in der Finanzkrise bestätigt? Und haben nicht die Zinssenkungen Schlimmeres verhindert, wenn auch die leistungslosen Einkommen aus Boden und Ressourcen noch weiter sprudeln?

Gesell als Kaufmann und Praktiker beobachtete den Moment, in dem der Geldbesitzer abwarten kann, der Geldleiher jedoch nicht; den Moment, in dem der Gläubiger die Unverderblichkeit des Geldes für sich ausnutzen kann. Er erlebte die Wirkmacht dieser Eigenschaft schon während seiner Zeit in Argentinien, als die Währung zeitweise deflationäre Tendenzen zeigte.

Marx als Philosoph und Theoretiker untersuchte dagegen lang und breit die historischen Bedingungen, was denn dem Geld auf lange Sicht seinen Wert verleiht und unter welchen gesellschaftlichen Verhältnissen dieser Wert zustande kommt.

Beides hat seine Berechtigung. Doch um die großen gesellschaftlichen Probleme der heutigen Zeit lösen zu können, sollte endlich der konkrete Gesellsche Lösungsansatz in seiner enormen Wirksamkeit erkannt und umgesetzt werden:

Gesell stellt Gläubiger und Schuldner gleichberechtigt auf ein Stufe und schafft den Jokervorteil des Geldes (Dieter Suhr) ab. Eine Gebühr auf das Horten von Bargeld hält dieses in Umlauf und ermöglicht ebensolche Negativzinsen, die ökonomisch angebracht sind, auf Bankguthaben.

Noch heute bewegt mich die große Gelassenheit und Friedfertigkeit, mit der Gesell und seine Mitstreiter vor 100 Jahren in der Münchner Räterepublik ans Werk gingen, in einer Zeit geprägt von den Wirren und Schrecken des Ersten Weltkrieges und den Gemetzeln widerstreitender revolutionärer Gruppen. Magna quies in magna spe! – Eine große Ruhe liegt in der Hoffnung auf Großes! – Wenn wir doch heute in den Wirren der Gegenwart mit der gleichen Zuversicht den gleichen Mut beweisen und Geld und Boden reformieren könnten!

Karl Marx

Silvio Gesell und Karl Marx – ein historisch verpasstes Bündnis

Die Frage, ob Silvio Gesell mit seiner Marx-Kritik in der »Natürlichen Wirtschaftsordnung« Recht hatte, führte den Autor zu einer ausführlichen Beschäftigung mit den Standpunkten der beiden Kapitalismuskritiker und zum Versuch eines Brückenschlags. (Johannes Heinrichs)

 

Die Geldreform-Bewegung, die sich auf Silvio Gesell beruft, hat allen Grund, sich selbstkritisch zu fragen: Was ist in der Geschichte schief gelaufen, daß ein scheinbar so plausibles, praktikables, für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung vorteilhaftes Angebot zur Gesellschaftsreform über den Weg eines radikal reformierten Geldwesens bis heute nicht angenommen, ja geradezu totgeschwiegen wird? Warum kam es nicht zu einem Schulterschluss zwischen Gesell und den besonnenen “Marxisten”, zu denen bis zur Spaltung der SPD alle Sozialdemokraten gezählt werden konnten? Gesells historische Rolle bei der Novemberrevolution 1918 und in der kurzen bayerischen Räterepublik der “Kommunisten” im März 1919 wartet noch auf eine eigene, unparteiische Aufarbeitung. Solche Geschichtsbeurteilung setzt jedoch einen sachlichen Einblick in die Kontroverse Gesell-Marx voraus.

Gegenseitige Diffamierung

Die Mißachtung, ja Diffamierung von Marx beginnt bei Silvio Gesell selbst. Sie ist einer der Geburtsfehler der Freiwirtschaftsbewegung, wenn es richtig ist, daß Marx nicht allein in Bezug auf Gemeineigentum an Boden, sondern auch in Bezug auf den Zins zumindest dieselbe Diagnose hatte oder voraussetzte wie Gesell. Dieser kommentiert jedoch Marx’ Analyse, die Verwandlung des Geldes in Kapital, d.h. in sich selbst vermehrendes Geld, sei unmöglich „aus der doppelten Übervorteilung des kaufenden und verkaufenden Warenproduzenten, durch den sich parasitisch zwischen sie schiebenden Kaufmann“, also unmöglich aus „bloßer Prellerei“ im Kaufvorgang zu erklären (Kapital I, S. 178), auf folgende Weise:

„Hier sowohl wie da ist er (Marx) vollkommen im Irrtum. Und da er sich im Geld irrte, diesem Zentralnerv der ganzen Volkswirtschaft, so muß er überall im Irrtum sein. Er beging – wie alle seine Jünger es taten – den Fehler, das Geldwesen aus dem Kreis seiner Betrachtungen auszuschalten.” (NWO, S. 313).

Allein die Behauptung, das Geldwesen sei „aus dem Kreis der Betrachtungen“ von Marx ausgeschaltet, ist angesichts des Verfassers der dreibändigen, weltbewegenden Werkes “Das Kapital” mit tiefschürfenden Kapiteln über Geld und auch über Zins, geradezu absurd.

Zins speziell im Kapitalismus (nach Marx)

Eigentümlicherweise kommt Marx [allerdings] erst im dritten Band des Kapitals systematisch und ausführlich auf den (auch vorher immer einschlußweise behandelten) Zins zurück, dort aber mit einer analytischen und dialektischen Eindringlichkeit, die ihresgleichen sucht: Erst im Zinswesen zeige das Kapital voll seine wahre Natur als “Geld heckendes Geld” (Kapital III, S. 405).

Marx würde Gesell entgegenhalten (und er hält es Proudhon mehrfach entgegen), daß mit einem einfachen Erpressungs-Mehrwert das Wesen des Zinses keineswegs erfaßt ist, vor allem nicht im Sinne des modernen Kapitalismus. Marx handelt nicht von zeitlosen Wesen wie Zins, Geld und Arbeit, sondern er sieht diese Größen in einer bestimmten geschichtlichen, der kapitalistischen Gesellschaftsformation. (Daß der Zins im kapitalistischen Sinne nicht mehr dasselbe ist wie in antiken und feudalen Zeiten, diente den Kirchen gerade zur Rechtfertigung, das altkirchliche Zinsverbot fallen gelassen zu haben.)

Dabei trifft Marx eine folgenreiche Unterscheidung: “Es ist in der Tat nur die Trennung der Kapitalisten in Geldkapitalisten und industrielle Kapitalisten, die einen Teil des Profits in Zins verwandelt, die überhaupt die Kategorie Zins schafft; und es ist nur die Konkurrenz zwischen diesen beiden Sorten Kapitalisten, die den Zinsfuß schafft” (Kapital III, S. 383).

Jede Berufung auf oder Kritik an Marx, die diese wichtige Unterscheidung von Unternehmern und Kapitalgebern vernachlässigt, muß also mindestens der unerlaubten Vereinfachung geziehen werden. Nicht umsonst können die Nachkriegsgewerkschaften nicht mehr viel mit Marx anfangen: Ihre grobschlächtige Entgegensetzung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat mit Marxens Analysen nichts zu tun. Die Unternehmer als produktive „industrielle Kapitalisten“ (s. o.) nimmt Marx geradezu in Schutz gegen die „Geldkapitalisten“.

Marx sieht den Zins – in der kapitalistisch-industriellen Gesellschaft – nicht als eine Übervorteilung von Mensch zu Mensch, der man mit individualethischen Sprüchen, Mahnungen und Verboten beikommen könnte (wie, mit geringem Erfolg, in Antike und Mittelalter), sondern als eine systemisch vermittelte Angelegenheit. Es sieht seinen Ursprung nicht in einer räuberischen Erpressung aufgrund des vorausgesetzten körperlichen Vorteils des Geldes, nicht zu verderben, sondern als Abzweigung der charakteristischen Funktion des Kapitals: seiner Fähigkeit, durch den Arbeitsprozeß mehr zu werden und zugleich diese Quelle des Mehrwerdens. Erst wenn nämlich die Kapitalseite sich aufspaltet in Geldkapitalisten und produktive Kapitalisten (Unternehmer), ergibt sich die Spaltung von Unternehmergewinn und Zins in zwei qualitativ ungleiche Bestandteile des Profits. Doch die Verhältnisse sind systemisch verschleiert:

“Das zinstragende Kapital hat als solches nicht die Lohnarbeit, sondern das fungierende Kapital zu seinem Gegensatz; der verleihende Kapitalist steht als solcher direkt dem im Reproduktionsprozeß wirklich fungierenden Kapitalisten gegenüber, nicht aber dem Lohnarbeiter. (…) Der Unternehmergewinn bildet keinen Gegensatz zur Lohnarbeit, sondern nur zum Zins” (Kapital III, S. 392).

Deshalb wird die Ausbeutung der Arbeitenden durch das Kapital nicht offensichtlich: Der Unternehmer kann sich mit gewissem, meist großem Recht selbst als Agent und Ausgebeuteter des Geldkapitalisten fühlen. Ein Gedanke von erheblicher Aktualität für unsere derzeitigen Kämpfe zwischen “Arbeitgebern” und “Arbeitnehmern”, die in diesem Licht gesehen großenteils nur Scheinfronten darstellen! Die eigentliche Front verläuft seit jeher – nur heute noch offensichtlicher – zwischen Kapitalbesitzern und arbeitenden Kapitalverwertern (d.h. Unternehmer und deren Mitarbeiter).

“Der Zins ist ein Verhältnis zwischen zwei Kapitalisten, nicht zwischen Kapitalist und Arbeiter” (K III, 396). Zins im modernen Sinn tritt in Erscheinung als ein Verhältnis zwischen zwei „Sorten von Kapitalisten“, dem geldgebenden und dem produktiven. Marx blickt weit voraus: Im fortgeschrittenen Kapitalismus der Aktiengesellschaften werden diese Rollen anonym, also noch weiter systemisch verschleiert. Es „bleibt nur der Funktionär und verschwindet der Kapitalist als überflüssige Person aus dem Produktionsprozeß” (Kapital III, S. 401).

Das ändert nichts am System und nichts an der Herkunft des Zinses als Teil des von den Arbeitern (einschließlich des unternehmerischen Arbeiters) erwirtschafteten Mehrwerts.

Vollendeter Fetischcharakter des Kapitals

Gerade auf dem Höhepunkt seiner langwierigen Analysen erweist sich Marx, der angeblich nichts über Geld und Zins zu sagen wußte, als brillanter Zinstheoretiker:

“Im zinstragenden Kapital erreicht das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form. Wir haben hier G – G’, Geld, das mehr Geld erzeugt, sich selbst verwertenden Wert, ohne den Prozeß, der die beiden Extreme vermittelt. (…) In der Form des zinstragenden Kapitals erscheint dies unmittelbar, unvermittelt durch Produktionsprozeß und Zirkulationsprozeß. Das Kapital erscheint als mysteriöse und selbstschöpferische Quelle des Zinses, seiner eigenen Vermehrung. (…) Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und es trägt in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr. (…) Es wird so ganz Eigenschaft des Geldes, Wert zu schaffen, Zins abzuwerfen, wie die eines Birnbaums, Birnen zu tragen. (…) Für die Vulgärökonomie (…) ist natürlich diese Form ein gefundenes Fressen, eine Form, worin die Quelle des Profits nicht mehr erkenntlich und worin das Resultat des kapitalistischen Reproduktionsprozesses – getrennt vom Prozeß selbst – ein selbständiges Dasein erhält” (Kapital III, S. 405 f).

Silvio Gesell erklärt demgegenüber: „Um den von Marx in der Formel G.W.G’ aufgedeckten Widerspruch glatt zu lösen, werde ich keine solche Kette von Mittelgliedern nötig haben. Ich werde dem Zins die Angel vor das Maul werfen und ihn geradeswegs aus seinem Elemente ziehen, für jedermann erkennbar. Die Kraft, die zu der Tauschformel G.W.G’ gehört, werde ich unmittelbar im Tauschvorgang enthüllen” (NWO, S. 315).

Gerade diese “Unmittelbarkeit” ist es, über die Marx sich anläßlich von Proudhons utopischen Versuchen wie auch in den zitierten Texten lustig macht: Es gehöre zum System, daß das Kapital seine Eigen-Fruchtbarkeit als arbeitendes Geld darstelle, aber dabei zugleich dessen Herkunft aus dem Produktionsprozeß verschleiere. Die einfache Wahrheit der komplexen Darstellung des Kapitals bei Marx lautet: Der Zins muß, ebenso wie der unternehmerische Mehrwert und als ein Teil dessen, erarbeitet werden. Genau das wird verschleiert und als Wesen des scheinbar selbst produktiven Geldes ausgegeben. Ohne die Erarbeitung im Produktionsprozesse bliebe der Zins-Mehrwert die Sache vorübergehender Erpressung und Täuschung wie in vorkapitalistischen Zeiten, nicht aber ein weltgeschichtlich einmalig effektiv funktionierendes System der scheinbaren Eigenproduktivität des Geldes, dessen rasante ‚Globalisierung’ geradezu die Voraussetzung ist für seinen endlichen Zusammenbruch.

Das Körnchen Wahrheit in der Gesellschen Kritik liegt darin, daß bei Marx das Medium Geld noch nicht zu einer eigenen geldsystemischen Betrachtung ausgeprägt ist. Dies ist auch bei Gesell nur implizit der Fall (…). Er hat aus einer theoretischen Not eine pragmatische Tugend gemacht. Das Unvermittelte hat Gesell sich zur Tugend gemacht und einen beachtlichen praktischen Griff gefunden: die Umlaufsicherung durch Negativzins. Worin ich seinen einzigen großen Beitrag sehe.

Autoreninfo:

Johannes Heinrichs (Jg. 1942), Philosoph und Theologe, hatte von Herbst 1998 bis Frühjahr 2002 die Gastprofessur für Sozialökologie (Nachfolge Rudolf Bahro) an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Neben zahlreichen Veröffentlichungen hält er Vorträge in aller Welt, u.a. zur von ihm postulierten Vierstufigkeit des sozialen Systems, die er in einem viergegliederten Parlamentarismus demokratisch politisch konkretisieren will.

 

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