Mensch oder Untier?
Lässt sich der Mensch auch aus einem inneren Blickwinkel definieren? Wann ist ein Mensch ein Mensch? So könnte man in Anlehnung an Herbert Grönemeyer fragen. Was hindert uns – nicht alle, aber die meisten von uns –, in den Worten von Goethe „tierischer als jedes Tier zu sein“? Ist ein Unmensch nicht im Grunde auch ein Mensch – so wie ein Unkraut nur eine besondere Art von Kraut? Wir müssen über Menschlichkeit neu nachzudenken beginnen. Der Autor spricht hier hellsichtig „von einem gesunden, vitalen Misstrauen gegenüber allem, was das Lebendige in seiner Entwicklung oder Entfaltung hemmt; von einem prüfenden Misstrauen allem Normativen gegenüber, allen Denk- und Fühlvorschriften gegenüber, allen Situationen und Einrichtungen gegenüber, denen das Menschliche weniger wert ist als der situative oder institutionelle Selbsterhalt.“ Letztlich zählt vor allem eines: Empathiefähigkeit. Bobby Langer
Den Menschen zu definieren, ist gar nicht so einfach. Feststeht, dass es sich bei uns um Tiere der Gattung Homo aus der Familie der Menschenaffen handelt. Der große, selbstgefällige Rest – der Umgang mit Symbolen, Bewusstsein, Sinnfragen – ist mehr oder weniger Kultur, auf die wir mehr oder weniger stolz sein, mit der wir uns mehr oder weniger – lieber weniger – identifizieren können oder wollen. Aber ist es nicht an der Zeit, den Menschen auch von innen her zu definieren?
Nur Menschen können Untiere sein
Nicht umsonst gibt es das Adjektiv „menschlich“ in seiner Doppelbedeutung: einmal „menschlich“ als Antonym zu „tierhaft“, also etwa in „Kunst als menschlichem Verhaltensausdruck“, zum anderen „menschlich“ gegenüber „unmenschlich“. Es gibt also, zumindest in der europäischen Kultur, das Meme eines menschlichen Verhaltens, das zum Beispiel Ausdruck gefunden hat in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten“.
Sehr schön ist in diesem Zusammenhang das Wort „Untier“, besagt es doch, dass wir Tiere von Untieren unterscheiden. Tiere verhalten sich „humaner“ als Untiere. Bezeichnenderweise beschränkt sich nämlich der Titel „Untier“ auf Menschen, nicht auf andere Tiere.
Wir sind nicht mordbereit
Eine Beschreibung des Menschen von innen her könnte man beginnen mit wünschenswerten Ähnlichkeiten zu anderen Gattungen. Wir wissen zwar nicht, was Bienen, Hamster oder Störche fühlen, wir wissen aber, dass sie sich nicht gegenseitig systematisch umbringen, allenfalls und selten im Kampf Mann gegen Mann. Nachdem davon auszugehen ist, dass jedem äußeren Verhalten ein mentales Muster parallelgestellt ist – also etwa ein „Gefühl von Hunger“ parallel zum Verhalten der Nahrungssuche oder ein Gefühl von Zuneigung parallel zum Paarungsverhalten –, dürfte es auch bei anderen Gattungen (Bienen, Hamstern, Störchen) ähnliche psychischen Parallelen geben; folglich auch eine innere Hemmung, welche die gegenseitige Ausrottung unterbindet. Ein erstes, innermenschliches Merkmal wäre von daher eine grundsätzliche Tötungshemmung seinen Mitmenschen gegenüber, um es wenigstens den anderen Tieren gleichzutun. Die meisten von uns kennen diese natürliche Hemmung und sind damit einverstanden. Mörder sowie mordbereite Menschen – Soldaten sowie ihre militärischen oder politischen Vorgesetzten – wären also dieser menschlichen Kategorie nicht zuzuschlagen.
Unsere Empathiefähigkeit ernst nehmen
Damit wäre der Anfang einer inneren Definition des Menschlichen gemacht, mit der wir Menschen von Untieren unterscheiden können. Daran lässt sich anknüpfen, indem wir unsere Fähigkeit zur Empathie betrachten, uns auf sie einlassen, sie würdigen und leidenschaftlich ernst nehmen. Denn wieso sollten wir eine Tötungshemmung empfinden, wenn uns der andere, selbst der Fremde, egal wäre? Wieso rühren uns kleine Kinder so an? Weshalb gilt der Mord an ihnen als besonders abscheuliches Verbrechen? Unsere – hier im doppelten Sinn – menschliche Fähigkeit des Mitgefühls kommt Kindern gegenüber besonders stark zur Geltung. Weshalb besonders stark? Neben einer genetischen Komponente spielt es gewiss eine Rolle, dass wir Kindern und insbesondere Säuglingen gegenüber noch keine vorgefassten, das Mitgefühl hemmenden Bewertungen haben. Es sind die mentalen „Injektionen“ und „Abrichtungen“ unseres jeweiligen kulturellen Umfelds, die unser Mitgefühl nicht nur ausbremsen, sondern sogar in sein Gegenteil, nämlich Hass, umschlagen lassen können, uns also zu Untieren werden lassen. Mitgefühl, Empathie ist also das eigentliche, vielleicht tiefste, innere Merkmal des Menschlichen.
Hellsichtig mit der Intuition fließen
Grundlage des Mitgefühls ist eine seelische Offenheit für die Botschaften, die auf uns einströmen; Offenheit für das Leben, das uns innerlich durchpulst, und für die Mitwelt, die uns umspült und in der wir uns bewegen. So fällt es menschlichen Menschen auch leicht, Leid und Schmerz anderer Wesen zu erfahren oder doch wenigstens nachzuvollziehen. Wir tun das ganz von alleine, niemand muss uns dazu nötigen. Wir erkennen hellsichtig Eigenschaften in uns selbst und in anderen sowie Muster, Zwänge und Narrative, die uns vom Lebendigen zurückdrängen oder gar abschneiden wollen, und wehren uns instinktiv dagegen. Lieber fließen wir mit der Intuition als im Nachvollzug vorgegebener oder verordneter Meinungen. Menschliche Menschen sind hellsichtig intuitiv.
Misstrauen gegenüber allem Unmenschlichen
Das macht sie misstrauisch; nicht misstrauisch im Sinne einer Angst vor dem Neuen und Fremden, sondern misstrauisch wie ein Reh, das beim Äsen witternd seinen Kopf hebt, weil es eine existenzielle Bedrohung spürt. Die Rede ist von einem gesunden, vitalen Misstrauen gegenüber allem, was das Lebendige in seiner Entwicklung oder Entfaltung hemmt; von einem prüfenden Misstrauen allem Normativen gegenüber, allen Denk- und Fühlvorschriften gegenüber, allen Situationen und Einrichtungen gegenüber, denen das Menschliche weniger wert ist als der situative oder institutionelle Selbsterhalt. Dazu gehören auch die eigenen Glaubenssätze, Vorurteile, Ängste und Erwartungen. Verhindern können wir sie nicht, weder um uns noch in uns, doch menschliche Menschen hegen ein untrügliches Misstrauen allem Unmenschlichen gegenüber.
So ist es die Pflege unserer Empathiefähigkeit, unserer hellsichtig intuitiven Offenheit und unseres Misstrauens gegenüber allem Unmenschlichen, das uns vor der Verwandlung zum Untier schützt.
Hoffentlich.