Nekrophilie: Wie kranke Seelen Politik und Gesellschaft beeinflussen
Biophilie, die Liebe und das Interesse für Pflanzen und Tiere, die Freude an Naturspaziergängen (siehe dazu meinen Artikel vom Freitag), ist nicht unbedingt nur eine Nebensächlichkeit. Dies wird deutlich, wenn wir ihr Gegenteil betrachten: die Nekrophilie, die Orientierung am Tod und am Toten. Nekrophilie ist eine destruktive Unterströmung unseres Zeitgeists, die wir uns zu wenig bewusst machen. Sie zeigt sich in scheinbar nicht miteinander zusammenhängenden Phänomenen wie Faschismus, Ökonomismus, Autoritarismus, Virtual Reality, der einseitigen Liebe zu, Künstlichen und Technischen. Der Gegensatz Biophilie/Nekrophilie eignet sich trefflich, um konstruktive Ideologien innerhalb ein- und desselben politischen Spektrums von den destruktiven zu unterscheiden. (Roland Rottenfußer)
Der Begriff „Biophilie“ wurde von dem Psychotherapeuten und Philosophen Erich Fromm geprägt und bezieht sich zunächst auf eine Charakterorientierung. Er besitzt sogar eine ethische Komponente. „Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen“ heißt eines der wesentlichen Bücher Fromms zum Thema. Dort leitet er Biophilie zunächst von deren Gegenteil ab: der Nekrophilie (Liebe zum Tod oder zum Toten). Die spanischen Faschisten in den 30er-Jahren gefielen sich in dem Ausspruch „Viva la muerta!“ (Es lebe der Tod). Der spanische Philosoph Unamono bezeichnete diesen Ausspruch während der Franco-Diktatur öffentlich in Anwesenheit eines Generals als einen „nekrophilen und sinnlosen Ruf“. Damit gebrauchte er laut Fromm die Bezeichnung „nekrophil“ erstmals in einem psychologischen Kontext, löste ihn also aus dem Zusammenhang der körperlich vollzogenen Leichenschändung heraus.
Erich Fromm folgte dieser Deutung und definierte: „Ein Mensch mit nekrophiler Orientierung fühlt sich von allem Nicht-Lebendigen, von allem Toten angezogen und fasziniert: von Leichen, Verwesung, Kot und Schmutz.“ Diese Deutung erhält rasch einen politischen Beigeschmack, wie ja auch bereits die Findung des erweiterten Nekrophilie-Begriffs durch Fromm auf den Faschismus verweist. Nekrophile Charaktertypen sind „kalt, auf Distanz bedacht und bekennen sich zu Gesetz und Ordnung. (…) Charakteristisch für den nekrophilen Menschen ist seine Einstellung zur Gewalt. Gewalt ist die Fähigkeit, einen Menschen in einen Leichnam zu verwandeln.“ Nicht immer ist hierzu aber ein physischer Tötungsvorgang notwendig. Es genügt oftmals, einem Menschen seine Lebendigkeit in einem Maß zu rauben, die ihn unbegrenzt kontrollierbar und verfügbar macht. Als „Kadavergehorsam“ bezeichnet Ignatius von Loyola eine der Pflichten der Jesuiten. Der Unterworfene solle sich gegen einen Befehl ebenso wenig wehren, wie sich ein Leichnam dagegen sträuben kann, hierhin und dorthin gezerrt zu werden.
Der tote Mensch ist das Kulturideal der Faschisten, der Technokraten und der Militärs. Sie wollen nicht immer den Leib töten, sofern dieser ihnen noch nützlich sein kann. Immer aber wollen sie die Lebendigkeit der Seele auf ein ihren Absichten zuträgliches Maß herunterdimmen – etwa durch Demütigung und Freiheitsberaubung. Wer ganz lebendig ist, gehorcht nicht gern. Es zeigt sich bei nekrophil orientierten Menschen und Systemen z.B. die Tendenz, Menschen zu maschinenhaft funktionierenden größeren „Körpern“ anzuordnen – man denke etwa an die quadratischen Soldatenkolonnen auf dem Reichsparteitagsgelände zu Nürnberg oder an die Aufmärsche in anderen Diktaturen. Diese aus willenlos gewordenen Einzelmenschen zusammengesetzten „Maschinen“ funktionieren nach dem Willen des Kommandierenden, also eines Nekrophilen.
Je mehr Menschen gebrochen, je weniger sie also lebendig sind, desto durchlässiger sind sie für den Willen ihres Zwingherren. Dies kann grundsätzlich auch an Arbeitsplätzen oder in privaten Machtverhältnissen funktionieren. Auch Überwachung oder die lückenlose Durchsetzung von Gesetzen und Verkehrsregeln sind insofern in der Tendenz nekrophil – mögen sie auch Argumente für sich haben (Schutz der Bürger vor Verletzungen usw.). Das radikal chaotische Leben soll gemäß einem (tatsächlich oder vermeintlich) überlegenen, übergeordneten Willen gebändigt werden. Das Wesen jedes Autoritarismus, auch in seiner gemäßigten, noch demokratisch maskierten Form, ist die Angst. So schreibt Erich Fromm über den Nekrophilen: „Eine tiefe Angst vor dem Leben erfüllt ihn, weil das Leben seinem Wesen nach ungeordnet und unkontrollierbar ist.“
Hierzu gehört auch die Angst vor allem Fremden, vor einer allzu „bunten Republik Deutschland“. Konstantin Wecker zitiert daher in seinem Büchlein „Dann denkt mit dem Herzen“ Erich Fromm im Zusammenhang mit den zunehmenden rechtsradikalen Anschläge im Jahr 2015. „Wer Molotov-Coctails in Flüchtlingsheime wirft, dem ist der Tod näher als das Leben“, so Wecker. Umgekehrt ist Fremdenfreundlichkeit biophil im Sinne Erich Fromms: „Die lebende Substanz hat die Tendenz zur Integration und Vereinigung; sie tendiert dazu, sich mit andersartigen und gegensätzlichen Wesenheiten zu vereinigen und einer Struktur gemäß zu wachsen.“ Diese Eigenschaft, die sich etwa bei Zellen und pflanzlichen Organismen zeigt, betrifft auch die Seelenebene. „Wer das Leben liebt, fühlt sich vom Lebens- und Wachstumsprozess in allen Bereichen angezogen. Er will lieber neu schaffen als bewahren. Er vermag zu staunen und erlebt lieber etwas Neues, als dass er in der Bestätigung des Altgewohnten Sicherheit sucht.“
Nekrophilie, mag sie auch nicht immer so genannt worden sein, kann auf eine „ehrwürdige“ geistesgeschichtliche Tradition zurückblicken. So betrachtete René Descartes, der am Anfang der philosophischen Moderne stand, Tiere als Automaten. Er folgerte: “Ihre Schmerzensschreie bedeuten nicht mehr als das Quietschen eines Rades!” Descartes wurde damit zum Vorläufer moderner Achtlosigkeit und Grausamkeit gegenüber Tieren. In einer amerikanischen Fachzeitschrift für Schweinezüchter heißt es: „Vergessen Sie, dass das Schwein ein Tier ist. Behandeln Sie es genauso wie eine Maschine in einer Fabrik. Gehen Sie beim Umgang mit den Schweinen wie beim Ölen eines Gerätes vor.“ (Zitiert nach John Robbins: „Ernährung für ein neues Jahrtausend“) Die Fleischproduzenten der Welt haben diesen Rat beherzigt – und genauso sieht unsere Welt heute aus.
Ein weiteres literarisches Zeugnis für Nekrophilie finden wir bei Joris Karl Huysmans. Der französische Autor schuf in seinem Roman „Gegen den Strich“ (1884) mit der Figur „Des Esseintes“ den Prototyp des Décadents. Huysmans beschreibt seine Romanfigur bezeichnenderweise so: „Übrigens schien das Künstliche Des Esseintes das kennzeichnende Merkmal des menschlichen Geistes zu sein. Er pflegte zu sagen, die Natur sei überholt; durch die abstoßende Einförmigkeit ihrer Landschaften und ihres Himmels habe sie endgültig die aufmerksame Geduld des Raffinierten ermüdet.“ Konsequenterweise zieht der feinsinnige Adelige Kunstblumen den natürlichen vor. Die Schönheit der Frauen, findet er, werde durch die der von Menschen geschaffenen Maschinen übertroffen. „Gibt es hienieden ein in den Freuden des Fleisches erzeugtes und aus den Schmerzen der Gebärmutter entstandenes Wesen, dessen Modell, dessen Typ glänzender und blendender ist als jener der beiden Lokomotiven, die auf den Linien der Nordbahn fahren?“
Dies ist krank, ja. Und tatsächlich fällt Des Esseintes am Ende des Romans dem Wahnsinn zum Opfer. Wenn heute jedoch jemand Autos und Technik „geiler“ findet als das organische Leben, gilt dies als zeitgemäß und „cool“. Unsere Realität als Ganzes nimmt in Zeiten wuchernder Großstand-Moloche, wo sterile Architektur und technische Apparaturen das Bild beherrschen, immer mehr den Charakter des Künstlichen an. Das von Menschen Gemachte verdrängt das Natürliche, wodurch selbst der Körper als Relikt unserer Tierhaftigkeit „verdächtig“ wird. Schon streben „Transhumanisten“ eine zunehmende Verschmelzung des Organischen mit dem Technischen an. Die Zukunft, so scheint es, gehört dem Cyborg, der in Science fiction-Filmen oft liebevoll beschrieben wird. Robocop, Transformers und die glubschäugigen Autos des Trickfilms „Cars“ gewinnen die Herzen des Filmpublikum, während die gleichgeschalteten „Borg“ im Star Trek Universum wenigstens noch Beklemmung verursachen. Aber sind wir nicht längst Mensch-Maschinen, auch wenn unsere Körper (noch) nicht verdrahtet und von Implantaten entstellt sind? Haben wir nicht den Maschinen und den von ihnen erzeugten synthetischen Träumen die Kontrolle über unser Leben in einem Ausmaß überlassen, das schon an Dystopien wie „The Matrix“ erinnert?
Leben verlangt nach Wachstum und Ausbreitung, es will seinem inneren Bedürfnis gemäß gedeihen, ist ungebändigt und unvorhersehbar. Dagegen, so Fromm, „liebt der nekrophile Mensch alles, was nicht wächst, alles, was mechanisch ist. Der nekrophile Mensch wird von dem Verlangen getrieben, Organisches in Anorganisches umzuwandeln, das Leben so mechanisch aufzufassen, als ob alle lebendigen Menschen nichts anderes seien als Dinge.“ Das Lebendige als mechanisch auffassen und das Mechanische als lebendig – dies ist die große und gefährliche geistige Verwirrung unserer Epoche, die man gleichzeitig als dekadent und als nekrophil charakterisieren kann. Tamagochis und Cyber-Sex gehören ebenso zu ihren gruseligen Leitsymptomen wie eine Industrie der Zerstörung, Zerstückelung und Verfügbarmachung: Waffenhandel, Menschenhandel, Fleischindustrie.
Der Neoliberalismus kann sich vom Vorwurf der Nekrophilie nicht zu Lasten seines weniger subtilen Bruders, des Faschismus, freisprechen. Zur nekrophilen Charakterstruktur gehört ebenso das Besitzdenken. So schreibt Erich Fromm: „Der Nekrophile kann zu einem Objekt – einer Blume oder einem Menschen – nur dann in Beziehung treten, wenn er sie besitzt; daher bedeutet ihm eine Bedrohung seines Besitzes eine Bedrohung seiner selbst; verliert er den Besitz, so verliert er den Kontakt mit der Welt.“ Dies beschreibt die Haben-Orientierung im Kapitalismus sehr treffend. Ebenso das Wirken bestimmter Juristen, die „das Leben einsperren in Paragrafen“ (Konstantin Wecker). Große Denker und Schriftsteller warnten daher vor der Todesorientierung. So Thomas Mann an einer entscheidenden Stellen in seinem Roman „Zauberberg“: „Der Mensch soll um der Liebe und der Güte willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“
Eine konsequent biophile Haltung nahm neben Erich Fromm auch der umstrittene Psychotherapeut Wilhelm Reich ein. Er betrachtete Therapie als eine Methode zur Befreiung vitaler Energien und engagierte sich – was weniger bekannt ist – aus eben diesem Grund auch politisch. Er gründete die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“, wo er die Probleme von Menschen aus dem Arbeitermilieu studierte und erforschte, welche Auswirkungen Libidostau und gesellschaftliche Rahmenbedingungen auf den Gesundheitszustand hatten. Aufgrund dieser Erfahrungen kritisierte Reich Freuds Schriften als „Kulturanpassungslehre“ und beklagte „die Angst der Psychoanalytiker vor den sozialen Konsequenzen der Psychoanalyse“. Er forderte umfassende Maßnahmen zur „Neurosenprophylaxe“, die auch gesellschaftliche Reformen im Sinne von Marx mit einschlossen.
„Freiheit definieren ist identisch mit Definition der sexuellen Gesundheit“, schrieb Wilhelm Reich. „Es gibt eine sexualphysiologische Verankerung der sozialen Unfreiheit im menschlichen Organismus.“ So lässt sich Reichs Unbehagen an herkömmlichen, das System stabilisierenden Therapieformen mit einem Satz Adornos zusammenfassen: „Indem der Geheilte dem irren Ganzen sich anähnelt, wird er erst recht krank.“ Letzte Konsequenz seines politischen Engagements war 1931 die Gründung eines „Reichsverbands für Proletarische Sexualpolitik“ als Unterorganisation der KPD. Später überwarf sich der Psychotherapeut allerdings mit den politisch und sexuell zunehmend repressiv agierenden Parteiführern. In der Tat war es mit der biophilen Orientierung der realsozialistischen Genossen nicht immer so weit her. Zumindest variierte sie je nach Persönlichkeitsstruktur. So liebte Rosa Luxemburg ihre Kohlmeisen, währen Mao Tse Tung zeitweise Blumen in privaten Wohnräumen als Ausdruck bourgeoiser Gesinnung verbieten ließ.
Der Gegensatz Biophilie/Nekrophilie eignet sich trefflich, um konstruktive Ideologien innerhalb ein- und desselben politischen Spektrums von den destruktiven zu unterscheiden. Fäkalsprache, eine Vorliebe für Totenköpfe, Horrofilme und die Farbe Schwarz sind somit auch, wenn sie im „linken“ Milieu auftreten, ein Alarmsignal. In der Folge des bisher Gesagten ist auch die ganz praktische Biophilie, die Liebe und das Interesse für Pflanzen und Tiere, die Freude an Naturspaziergängen, nicht unbedingt nur eine Nebensächlichkeit. Freilich kann es verschiedene Interessenschwerpunkte geben. Der technikaffine Bastler kann ein trefflicher Antifaschist sein und seine Gegner online wirksam bekämpfen. Allerdings ist eine generelle Scheu vor der Welt „draußen“, eine einseitige Faszination für Technik, Stadtlandschaften, für die pflanzen- und lichtlosen Kunstwelten der Kellerlokale und Diskotheken unter dem Gesichtspunkt der psychosomatischen Gesundheit zumindest bedenklich.
Das echte Leben findet noch immer Offline statt, nur dort kann man es befühlen, schmecken und riechen – mag auch das Betrachten von Blumenbilder im Internet an kalten Wintertagen einen probaten Ersatz darstellen. Der Protest gegen das, was uns kaputt macht, ökologisches Bewusstsein und die Fürsorge für unsere eigene Gesundheit fließen in der biophilen Lebensorientierung wunderbar zusammen. Nekrophilie ist nicht die alleinige Wurzel allen Übels, aber es gibt wohl kaum ein verdammenswertes Phänomen auf unserer Erde, das nicht wenigstens auch einen Beigeschmack von Nekrophilie enthält. Wir bekämpfen Nekrophilie nicht allein durch – wieder computergestützte – intellektuelle Diskurse; wir bekämpfen sie vor allem durch unser praktisches Leben, durch unseren Körper und durch die Tat. „Wieder barfuß auf dem Boden, wieder dort, wo uns die Welt losgelöst von Muss und Moden ansatzweis‘ zusammenhält.“ (Konstantin Wecker)