Niemand kann die Zeit recyceln

 In Philosophie

Weihnachtsansprache von Gunter Sosna, Redakteur von „Neue Debatte“. Die Freiheit liegt dem Kollegen am Herzen – wie auch uns von Hinter den Schlagzeilen. Aber selbst in bestmöglichen politischen Verhältnissen könnte es vorkommen, dass wir uns als Gefangene des hartnäckigsten Tyrannen fühlen: der Zeit. Ihr Vergehen bestimmt unsere Gedanken unsere Zukunftsperspektiven und den Rhythmus unserer Tage. Wir können ihren Einfluss nur zurückdrängen, indem wir so oft und so lange wie möglich ein  Gefühl der Zeitlosigkeit in uns erzeugen und ins Jetzt zurückkehren, als wären wir Kinder. Gunther Sosna

 

Jetzt bin ich wieder einmal sehr spät dran mit meinen weihnachtlichen Grüßen. Die Zeit verrinnt so schnell, schon wieder ist ein Jahr (fast) vorbei. Oder besser gesagt: Verflogen ist ein Teil der Lebenszeit, die begrenzte Ressource, die weder in Gold noch Diamanten aufgewogen werden kann. Ihr Verbrauch ist ultimativ – zu meinem Bedauern.

Niemand wird sie recyceln. Keine Bank kann sie lagern, kein Archäologe ausgraben, kein Astrologe wird sie in der Endlosigkeit des Universums einsammeln und kein Wissenschaftler kann sie konservieren. Das Leben ist flüchtig wie ein Edelgas; futsch ist futsch.

Deshalb sollte jede Gelegenheit willkommen sein, die es erlaubt, sich vom Takt der Uhr zu befreien und die Gedanken an Zeit, die so schnell vergeht, abzuschütteln.

Sind die Sekunden, Minuten und Stunden, diese Kerben in den Zifferblättern der Zivilisationen, geschwind gestrichen aus der Liste der Wichtigkeiten, geht es an die Dimension der Tage, Wochen, Monate und Jahre.

Routiniert sind sie eingeklammert in Kalendern – früher auf Papier und heute digital; smart und clean. So oder so (er)mahnen sie zur (zeitlichen) Optimierung. Vielleicht ist das ein Grund dafür, warum sich Menschen im Laufschritt durch die Städte bewegen. Und warum der gemütliche und ruhige Charakter in einer Metropole auf der Rolltreppe zur U-Bahn ganz rechts stehen soll, damit er links überholt werden kann – von jenen, die es besonders eilig haben, ohne aber signifikant früher am Ziel zu sein.

Wird sich aus diesem Sprint in den Stillstand herausgehalten, sieht es freundlicher aus: dann heißt es nicht mehr „Lost in Time“, sondern „Freedom at all Times“.

Es ist ein charmanter Gedankensplitter. Er bringt die Kindheit für einen Moment zurück; und wenn man so will, die Leichtigkeit des Seins. Was ist für ein Kind schon Zeit? Die Tage sind lang oder kurz, sie sind warm oder kalt, hell oder dunkel … Für das Kind hat nur das Jetzt Bedeutung. Es ist diese positive Eigenschaft, die die Freiheit ausmacht und die mehr und mehr geknebelt wird.

Auf was treffen Kinder heute? Auf Zäune, Mauern, Stacheldraht und Schilder, errichtet von eben jenen Kindern, die keine Kinder mehr sind. Spielen verboten! Betreten verboten! Eltern haften für ihre Kinder! Verboten, verboten, verboten. Und diese Freiheit der Verbote, die die Leichtigkeit bändigt, die wollen die Kinder von gestern, die nun erwachsen sind, hegen und pflegen. Das ist ganz erstaunlich, wie ich finde. Ist vielleicht der Neid auf das Kind in uns das Motiv?

Oh, wie schön einfach und frei könnte die Welt doch sein, würde die Kindheit niemals enden. Würde die Freiheit in uns bewahrt vor der Domestizierung, wir würden die Mauern und Zäune niederreißen … sie einfach niederreißen. Dass ist das Kind in uns, der Rebel, der zeitlos Widerspenstige, der bewahrt werden sollte.

Genug mit der philosophischen Vorrede. Ich wünsche euch und all jenen Menschen, die ihr liebt und ins Herz geschlossen habt, angenehme Weihnachtstage und schon jetzt einen entspannten Übergang ins neue Jahr; mit einem Prosit auf die kostbare Zeit, die vor uns allen liegt … und die an der einen oder anderen Kreuzung etwas Mut erfordert, eine Unze kindliche Naivität und ein Quäntchen Glück, um den Weg zum persönlichen Ziel, das jeder sucht, zu finden …

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