Ohnmacht

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire, Peter Fahr

Wie gehen wir mit eigensinnigen Kindern um? Wie verhalten wir uns gegen widerspenstige Schüler? Eine Kurzgeschichte des Poeten und Essayisten Peter Fahr.

 

Daniel war ein zierlicher Junge, nett, liebenswürdig, von Statur eher schmächtig und strohblond. Wenn die anderen miteinander spielten, stand er immer etwas abseits und schaute ihnen mit geringem Interesse zu. Versunken in eine eigene, unergründbare Welt, schien er der Wirklichkeit entrückt. Er war folgsam und bei seinen Eltern und den Lehrern sehr beliebt. Ohne zu murren erledigte er, was ihm aufgetragen wurde. Die Schulaufgaben meisterte er glänzend, zu Hause half er tatkräftig mit. Daniel war ein Junge, an dem die Erzieher ihre helle Freude hatten.

Mit acht Jahren begann er die Nägel zu kauen. Mit neun stand er nicht mehr abseits, sondern lag auf dem Bett in seinem Zimmer und verschlang Abenteuerromane. Mit zehn schrieb er die ersten Gedichte.

Mit elf wurde Daniel in ein Internat gesteckt. Für ihr begabtes Kind, so waren sich die Eltern einig, kam nur eine von Geistlichen geführte Bildungsanstalt in Frage. Mit feierlicher Miene teilten sie dem Jungen mit, wie sie sich seine Zukunft vorstellten und dass sie von ihm erwarteten, nicht enttäuscht zu werden. Das Kind nickte und versprach, weiterhin anständig, strebsam und fleißig zu sein.

So wurde aus dem zwölfjährigen Musterschüler ein Musterzögling. Das Leben im Internat war hart, doch Daniel biss auf die Zähne und kaute die Nägel. Er gab sich große Mühe, auch in den neuen Fächern einer der Besten zu werden. Mit Eifer vertiefte er sich in seine Studien, lernte Griechisch und Latein, büffelte Philosophie und Arithmetik und kam bei den Mitschülern bald einmal in Verruf, ein Streber zu sein. Wieder stand er abseits.

Die Priester aber waren zufrieden mit ihm. Sie belohnten seine Leistungen mit guten Noten und übertrugen ihm das Amt des Obersakristans.

Der dreizehnte Geburtstag brachte die Wende in Daniels Leben. An diesem Tag entdeckte er die Begabung, mutwillig in Ohnmacht zu fallen. Diese Fähigkeit verwandelte den zierlichen, liebenswürdigen Jungen in einen unberechenbaren Lehrerschreck. Wurde er jetzt zu etwas gezwungen, breitete er die Arme aus und sackte zusammen. Dann standen die Erzieher vor seinem erschlafften Körper und waren machtlos.

Erst entschied die Anstaltsleitung, dem Benehmen des widerspenstigen Zöglings keinerlei Aufmerksamkeit beizumessen. Man benachrichtigte die Eltern und legte ihnen nahe, den Sohn zurechtzuweisen. Als sie anreisten, fiel er in Ohnmacht.

Monate vergingen und je öfter Daniel Widerstand leistete, desto problematischer wurde die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. Sein Beispiel drohte Schule zu machen. Deshalb wurde ein Psychiater hinzugezogen. Mit dessen Hilfe gelang es den Geistlichen, dem widerspenstigen Zögling Herr zu werden. Er wurde aus dem Internat entfernt und zur Beobachtung in eine Klinik überführt.

Daniel wehrte sich auf seine Weise – er fiel nun täglich in Ohnmacht. Die Flucht aus der Wirklichkeit endete freilich jedes Mal mit einem bösen Erwachen. Als er einmal für kurze Zeit unbeaufsichtigt war, öffnete er die Balkontür, kletterte auf die Brüstung, breitete die Arme aus, sprang und fiel vom achten Stockwerk in den ewigen Schlaf.

 

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