Schuld ist keine Tatsache, sondern ein Deutungsversuch
Wir werden dem Phänomen „Schuld“ nicht gerecht, wenn wir sie allein als Tatsache betrachten. Vielmehr ist Schuld als der (oft untaugliche) Versuch zu betrachten, eine leidvolle Erfahrung zu deuten. Es ist hierzu eine Art „kopernikanische Wende“ im Bewusstsein nötig. Wir erinnern uns: Der Mensch im Mittelalter meinte, die Sonne bewege sich quasi um ihn herum; durch Kopernikus, den begnadeten Astronomen, lernte der Mensch: Nicht die Sonne war es, die sich bewegte, er selbst war es. Genauer gesagt: die Erde, auf der er stand. In ähnlicher Weise sollten wir in Schuldfragen versuchsweise die Perspektive umkehren, indem wir nicht den Beklagten, sondern den Kläger in den Mittelpunkt der Beobachtung stellen. Auszug aus dem Buch “Schuldentrümpelung”, mit Monika Herz, Goldmann Verlag Roland Rottenfußer
Manchmal können wir gegen uns gerichtete Schuldvorwürfe auf den Adressaten zurückwerfen wie einen Lichtstrahl, der von einem Spiegel reflektiert wird. Wenn der andere den Vorwurf erhebt: „Durch dich habe ich mein Leben verpfuscht“, können wir antworten: „Du bist mit deinem Leben unzufrieden und findest es bequemer, mir daran die Schuld zu geben.“ Es ist wichtig zu begreifen, dass Schuldvorwürfe großenteils eine Frage der Interpretation sind.
Die Deutung leidvoller Erfahrung als Schuld findet nicht im luftleeren Raum statt. Wir alle sind in eine Kultur hineingeboren worden, in der Schuld das gängigste, teilweise das einzige Deutungsmuster für negative Erlebnisse ist. Man merkt dies an vielen Kleinigkeiten des Alltags. Wenn wir etwa an einen fremden Menschen mit einer Frage herantreten, starten wir das Gespräch mit dem Wort „Entschuldigung“. „Entschuldigen Sie, ich hätte da eine Frage…“ Dies sagen wir schon bevor klar geworden ist, ob sich der Angesprochene überhaupt gestört fühlt. Vielleicht ist unsere Frage für ihn ja der Beginn eines überaus anregenden Gesprächs. Der „höfliche“ Mensch aber ent-schuld-igt sich zunächst, worin ein gegen ihn selbst gerichteter Schuldvorwurf verpackt ist.
Wie stark unsere Kultur auf Schuld fixiert ist, zeigt sich vielfach schon in der Sprache. So kennt das Deutsche für moralische Verfehlungen und für finanzielle Verbindlichkeiten nur den einen Wortstamm: „Schuld“ bzw. „Schulden“. Im Englischen unterscheidet man sauber zwischen „guilt“ (moralisch) und „debt“ (finanziell). Der rein formale Vorgang, dass ein anderer Mensch Ihnen Geld geliehen hat, wird auf diese Weise mit einem Aroma moralischer Verwerflichkeit getränkt. Ja selbst einen religiösen Anstrich erhält der Vorwurf der Kreditvergabe dadurch („Kredit“ von lat. „credere“ = glauben). Vielen klingt dabei noch in den Ohren, was ihnen auf harten Kirchenbänken durch hundertfache Wiederholung in die Seele eingebrannt wurde: „Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld.“ Die Identität von „guilt“ und „debt“ im Deutschen hat für den „Gläubiger“ (ebenfalls ein religiös klingender Begriff) den Vorteil, dass sich der Schuldner wegen seines geliehenen Geldes doppelt zerknirscht fühlt.
Auch der Ausdruck „Grundschuld“ bezeichnet eigentlich nur ein sachliches Vertragsverhältnis, z.B. eines Hauskäufers gegenüber seiner Bank. Der Begriff „Schuld“ macht daraus unterschwellig aber etwas ethisch Verwerfliches. Nicht nur finanzielle Verbindlichkeiten, auch Verantwortung und Pflichtgefühl werden mit dem Schuldbegriff eingefärbt – also quasi mit Kategorien von Verbrechen und Strafe. Ihre Kinder gut zu erziehen ist die „verdammte Pflicht und Schuldigkeit“ der Eltern. Gemeint ist: Die Eltern sind für ihre Kinder zuständig, sie tragen eine Verantwortung für ihre Zukunft. Sprachlich wird aber das Wort „Schuld“ verwendet, das eine Verfehlung in der Vergangenheit andeutet. Schuldig könnten die Eltern ja nur dann werden, wenn sie ihrer Verpflichtung nicht nachkommen sollten. Diese zukünftige und nur mögliche Schuld wird jedoch behandelt, als sei sie real: „Ich schulde meinen Eltern Respekt“. „Ich schulde meinem Arbeitgeber Loyalität“ usw. Auch die „Dankesschuld“ ist eine solche Wortbildung. Gemeint ist eine Pflicht des Beschenkten, dem Schenker positive Gefühle entgegen zu bringen.
Umgangssprachlich wird der Schuldbegriff schließlich oft verwendet, wo in Wahrheit nur ein kleines Missgeschick geschehen ist. „Sorry, meine Schuld!“, sagen wir z.B. wenn wir einen Schlüssel verlegt oder ein Glas mit Saft ausgegossen haben. Gemeint ist eigentlich nur: „Ich bin der Urheber des Problems“. Manchmal ist dies mit Unannehmlichkeiten verbunden, wenn etwa unser Gastgeber den Saft vom Boden aufwischen muss. Aber mit „Schuld“ haben wir für diesen harmlosen Vorgang sogleich einen denkbar dramatischen Begriff gewählt. Im Englischen würde man eher von „my fault“ (mein Fehler) als von „my guilt“ sprechen, wodurch die ganze Sache von vornherein nicht so hoch gehängt wird. Denn über einen Fehler kann man vielleicht großzügig hinweg sehen; eine „Schuld“ dagegen kann nur durch strenge Buße getilgt werden. „Buß und Reu knirscht das Sündenherz entzwei“ beginnt eine Arie in Bachs „Matthäuspassion“.
Schuld ist vor allem ein Deutungsmuster für menschliches Leid. Unmittelbar erfahrbar ist für den Menschen zunächst nur das Leid selbst. Der Mensch der Frühzeit sah sich in eine oft harte, arbeitsreiche, ja als erbarmungslos empfundene Lebenssituation geworfen. Er war mächtigen Kräften ausgeliefert, die er in keiner Weise kontrollieren konnte, die jedoch seinen Wohlstand und seine Existenz fortwährend bedrohten: dem Wechsel der Jahreszeiten und der Witterung, der Abfolge von guten und schlechten Ernten, Dürre, Überschwemmung, Frost und Ungezieferbefall. Auch die Abhängigkeit von der Kooperation anderer Stammesmitglieder konnten dem archaischen Menschen zu schaffen machen – ebenso wie plötzliche vernichtende Überfälle berittener Horden aus fernen Steppenregionen. Unberechenbar, launisch und gefährlich waren diese Kräfte, und selbst der eigene Körper war für den medizinisch noch uninformierten Menschen ein Abgrund, aus dem jederzeit unvermittelt Krankheit, Qual und Tod hervorbrechen konnten.
Aus diesem Grundgefühl der existenziellen Unsicherheit und Bedrohung muss nun das Schuldkonzept entstanden sein. Es hatte die beruhigende Wirkung, dass es Vorgänge erklärbar und somit veränderbar erscheinen ließ. Unmittelbar gegeben war nur die Erfahrung: „Es geschieht“. Z.B. konnte „es“ plötzlich regnen, wodurch der Boden fortgeschwemmt und die Ernte verdorben war. „Es“ konnte auch geschehen, dass die Kuh nicht kalbte oder nur kranke, lebensuntüchtige Kälber warf. Auch die Krankheit war so ein „Es“, eine fremde, radikal bedrohliche Macht. Die Angst vor den „Mächten“ nötigte die Menschen nun, diese zu personifizieren, ihnen ein Gesicht zu geben. Der Regen hatte kein Mitleid, von einem Regengott konnte man solches aber vielleicht erhoffen. Man konnte die nun zu Personen gewordenen Kräfte ansprechen, sie um Schonung oder um Segen bitten.
Gottheiten waren es zunächst, die man beschwören, denen man opfern, die man gewogen stimmen konnte: durch Wohlverhalten, das bestimmten in der Gemeinschaft ausgehandelten moralischen Regeln folgte. Diesen Gottheiten gegenüber konnte man sich „schuldig machen“ bzw. ihnen etwas „schuldig bleiben“. Wer ihren Zorn erregte, verhielt sich verantwortungslos, auch der Gemeinschaft gegenüber. Die Sünde eines einzelnen konnte den Fluch eines Gottes über den ganzen Stamm herab beschwören. Den Schuldigen zu entlarven, ihn zu bestrafen und zu vertreiben, konnte den Mächtigen dagegen versöhnlich stimmen und das Verhältnis zwischen dem Stamm und ihrem göttlichen Beschützer wieder ins Lot bringen.
Neben dieser indirekten Schuld, die darin bestand, den Unmut der Götter zu erregen und damit eine kollektive Strafe zu provozieren, gab in der Vorstellung der Menschen immer auch das Konzept einer direkten, einer „magischen“ Schuld. Gerechterweise hätte man die Gottheiten selbst verantwortlich machen, sie der Schuld an Naturkatastrophen und Krankheiten anklagen müssen. Aber mit derart mächtigen „Personen“ möchte sich niemand anlegen, man kann sie nicht vor ein Gericht zerren. Praktischer erschien es also, nach menschlichen Schuldigen zu fahnden. Wenn die Kuh nicht kalbte, musste es eine dingfest machbare Einzelperson geben, die dafür verantwortlich war. Meist war es eine Außenseitergestalt im Dorf, ein schrullige Frau etwa, die den „bösen Blick“ hatte. Deren Fluch konnte die Unfruchtbarkeit einer Kuh, ja auch die einer Frau bewirkt haben. Diese „Zauberin“ zu bestrafen oder zu töten konnte den Fluch abwenden. Wenn man nicht nachweisen konnte, dass die Frau im Stall an der Kuh einen schädlichen Eingriff vorgenommen hat, nahm man kurzerhand magische Beeinflussung an: die schädliche Kraft negativer Gedanken. Zusätzlich wird natürlich eine böse Absicht unterstellt, und fertig ist das Konstrukt der Schuld.
Die Deutung von Ereignissen als Schuld hat für eine Gesellschaft große Vorteile. Sie macht etwas Unverständliches scheinbar verstehbar, etwas Unkontrollierbares scheinbar kontrollierbar. Wir fühlen uns hilflos gegenüber einem unversehens hereinbrechenden Unglück. Durch die Deutung des Geschehens als bewusste Tat, durch Tätersuche, Anklage und Strafvollzug können wir die gefährdete Weltordnung jedoch scheinbar wieder ins Lot bringen. Der Schaden kann nicht wieder gutgemacht werden, aber wenigstens lassen wir – zum Milderung unserer Ohnmachtserfahrung – einen „Täter“ leiden.
Daher ist ein Geschehnis ohne Täter auch für viele Menschen schwer erträglich. Beim Gletscherbahn-Unglück von Kaprun im November 2000 kamen 155 Menschen ums Leben. Als das Gericht befand, dass kein individuelles menschliches Versagen vorlag und die 16 Angeklagten frei sprach, ging eine Welle der Empörung durch die Presse. Das durfte doch nicht sein, dass niemand schuld war! Vielfach können wir in den Medien beobachten, dass die Suche nach einem Schuldigen ein Hauptinteresse der Menschen ist, wenn ein Unglück geschehen ist. Selbst bei einem Flugzeugabsturz, bei dem klar ist, dass der Pilot selbst gestorben sein muss, wirkt es auf die Öffentlichkeit offenbar beruhigend, ihn klar als den Schuldigen identifizieren zu können. Durch die Analyse dieser Schuld meint man, derartige Unglücke in Zukunft vermeiden zu können – z.B. durch psychologische Untersuchungen von Piloten.
Es mag sein, dass diese Strategie manchmal Erfolg hat; viele „Fälle“ sind allerdings derart verwickelt, dass die Frage „Wer ist schuld?“ so sinnlos erscheint wie die Frage, wer Sieger in einem Streichquartett ist. Das Leid, das in manchen Partnerschaften erzeugt wird, ist ein typisches Beispiel für Co-Kreation (gemeinsame Schöpfung). Der Mann geht fremd, weil die Frau sich ihm sexuell „verweigert“ – und die Frau verweigert sich, weil sie ihm nicht mehr vertraut. Oder: Die Frau „verfolgt“ den Mann mit eindringlichen Gesprächsangeboten, weil er sich ihr mehr und mehr entzieht – und er entzieht sich ihr, weil er ihre Verfolgungsbetreuung nur mehr schwer ertragen kann. Im Scheidungsrecht wurde diesem Umstand 1976 unter dem Stichwort „Zerrüttungsprinzip“ Rechnung getragen. Es löste das zuvor gültige Schuldprinzip ab.
„Schuldig geschieden“ wurde z.B., wer Ehebruch begangen hatte. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass vielleicht eine lange Geschichte der Vernachlässigung und seelischen Grausamkeit seitens des „betrogenen“ Partner voraus gegangen war. Auch in Fällen, in denen mit Händen zu greifen war, dass beide Partner gemeinsam „schuld“ waren, verlangte das Gesetz, dass ein Schuldiger benannt wurde. Angesichts der mit der Schuldfrage verbundenen finanziellen Vorteile bzw. Nachteile war klar, dass oft ein erbitterter Streit darum entbrannte. Erst wenn der Grundsatz „Jemand muss schuld sein“ allgemein akzeptiert ist, besteht überhaupt einen Notwendigkeit, diese Schuld von sich weg und auf andere abzuwälzen. Wo keine Schuld, da besteht kein „Fahndungsdruck“ bei der Suche nach einem „Täter“.
Das Prinzip der „Zerrüttung“ oder der Co-Kreation ehelicher Probleme ermutigt Menschen, andere Sichtweisen jenseits des Opfer-Täter-Denkens zu entwickeln. Wie schon die Redewendung „Eine Hand wäscht die andere“ andeutet, braucht es für manche Vorgänge immer zwei Menschen. Man kann nicht allein schmusen und nicht allein streiten. Neben der Deutung „Beide sind schuld“ wäre es gut, auch eine andere, vielleicht noch revolutionärere in Erwägung zu ziehen: „Keiner ist schuld“. Man braucht nicht einmal ein Psychotherapeut zu sein, um zu solchen Einsichten zu kommen. In einem Lied der Popgruppe ABBA heißt es: „Neither you nor I’m to blame, when all is said and done“: Weder bist du schuld noch bin ich es – das ist schön, einfach und weise. Und der Dichter dieser Zeilen, Björn Ulvaeus, hatte damals tatsächlich gerade seine Scheidung von Agnetha hinter sich.
Schuld ist zum großen Teil ein kulturelles Konstrukt. Das bedeutet nicht, dass wir leugnen, dass Menschen Menschen unsägliches Leid zufügen können. Es gibt Fälle, in denen Täter und Opfer sehr wohl deutlich voneinander unterschieden werden können. Denken wir etwa an Einbruchsdiebstähle, denen ja keine schon länger bestehende „Beziehungsdynamik“ zwischen dem Dieb und dem Bestohlenen vorausging. Wenn ich hier von einem „kulturellen Konstrukt“ spreche, dann meine ich: Schuld ist ein Konzept, das nur von denkenden, analysierenden Wesen erschaffen werden kann. Tiere fügen einander Leid zu, aber sie kennen keinen Schuldbegriff. Es gibt für menschliches Empfinden empörende Fälle von Grausamkeit in der Natur. So können wir beobachten, dass Katzen mit Mäusen „spielen“, bevor sie sie fressen. Dennoch ist die Frage nach der „Schuld“ im Tierreich problematisch, denn Tiere verfügen nicht über moralisches Empfinden.
Ja. Gehört sich so. Kann nicht einfach ich-bezogen jeden auf gut Glück anquasseln, der sich möglicherweise gerade mit psychomathematischen Lösungsansätzen beschäftigt, vieleicht seit Jahren schon, ich daherkomme und ein Teil Lebenswerk vergeige, ein paar Sekunden vor Abschluß, wegen Zeitbestimmung oder Richtungsorientierung aus egoistischer Interessenlage heraus.
Hartz IV-Gesuche könnte man dahingehend schon vor Antragsstellung auf ein angemessenes Schuldbewusstsein in Untersuchungshaft überprüfen.
Acht Euro mehr Grundsicherung sind Grund genug für eine pietätvolle Danksagung an den Schenker.