Sind wir alle “im Grunde gut”?

 In Buchtipp, FEATURED, Philosophie, Wolf Schneider

Der Mensch ist des Menschen Wolf. In jedem schläft ein Monster, das durch entsprechende Umstände nur aufgeweckt werden muss. So denken viele. Und Versuchsanordnungen wie das “Milgram-Experiment” oder Wärter-Gefangenen-Experimente scheinen das Vorurteil zu bestätigen. Doch es kommt ganz darauf an, worauf man den Fokus legt. Rutger Bregmann lenkt unseren Blick in seinem neuen Buch “Im Grunde gut” auf Fälle, in denen sich Menschen besonders edel und gütig verhalten haben. Eine kleine Weltgeschichte des Guten. Wolf Schneider hat das Buch gelesen.

 

Aktivismus ist in. Die Welt retten zu wollen, war noch vor Kurzem ein Zeichen von Größenwahn. Das ist es ja auch. Dann sagten die Aktivisten unter uns dies schmunzelnd von sich selbst. Sie hofften, damit Beifall zu gewinnen, anstatt ob ihres Anspruchs verhöhnt zu werden. Dann schlich sich das ein in die Selbstdarstellung von immer mehr Menschen, im Internet ebenso wie in die Intro-Talks im nicht gefilmten Alltag, den gibt es ja auch noch.

Entführungen und Lösegeld

Andererseits gibt es auch die Suche nach dem, was wahr ist. Die Algorithmen der mächtigen Maschinen, die heute unsere Kommunikation dominieren, bevorzugen Fake-News gegenüber Wahrheiten, weil das Empörende unsere Aufmerksamkeit mehr anzieht als das Beruhigende. Dieses Prinzip gilt seit langem auch schon für Tageszeitungen, Abendnachrichten und die Yellow Press. Heute ist dieser Trend mit Facebook, Google & Co jedoch viel mächtiger geworden.

Unsere Aufmerksamkeit wird von diesen Unternehmen höchst professionell eingefangen und entführt. Das Lösegeld, mit dem wir uns aus dieser Gefangenschaft freikaufen können, ist hoch; es heißt: Mensch, erkenne dich selbst! Schon die Weisen der Antike wussten um dieses Lösegeld aus den Fängen der Manipulatoren, nur waren die Kidnapper damals noch nicht so raffiniert wie heute. Dem zu entkommen, was Suchmaschinen, soziale Netzwerke und die Serien von TV und Netflix heute mit uns machen, verlangt ein Ausmaß Einsicht und Disziplin, über das kaum jemand verfügt.

Wer wagt da Optimismus?

Nun betreten zwei Historiker die Bühne und lenken unsere Aufmerksamkeit auf genau diese Tatsachen. Der erste ist Harari, mit seinen Bestsellern aus den Jahren 2015, 16, 18 und 20. Über ihn habe ich hier im Blog schon viel geschrieben und Links zu Youtube-Filmen mit ihm gesetzt. Der zweite ist der Niederländer Rutger Bregman, der bisher vor allem durch seinen Einsatz für das bedingungslose Grundeinkommen auffiel, für das er in Utopien für Realisten (2017) warb, seinem ersten Buch auf Deutsch. Nun erschien im vergangenen Jahr Im Grunde gut – eine neue Geschichte der Menschheit. Nachdem Harari dieses Buch empfohlen hatte, gab mir eine öffentliche Debatte der beiden den letzten Kick, es zu bestellen.

In dieser Debatte versuchte die Chefredakteurin des Economist im Gespräch mit den beiden herauszufinden, ob unsere Zukunftsaussichten eher schlecht sind, weil die Gefahren von KI, Überwachung, Atomwaffen und der Erhitzung unseres Planeten so groß sind. Davor warnt Harari – zu Recht, meine ich. Oder ob doch alles gut ausgehen wird, weil wir Im Grunde gut sind, wie Rutger Bregman standfest behauptet. Er belegt diese Überzeugung auch noch mit so vielen wissenschaftlichen Studien, dass Harari zugeben muss: Ich bin beeindruckt.

Ich bin es auch. Rutger Bregman ist 32 Jahre alt, im April wird er 33. Er hat in Utrecht und Los Angeles studiert und arbeitet jetzt als Journalist für die niederländische Nachrichtenplattform De Correspondent, die so erfolgreich ist, dass sich daraufhin in anderen Sprachen ähnliche gegründet haben, etwa der deutschsprachige Krautreporter.

Im Grunde gut

Bregmans Buch ist eine phänomenale Aufzählung von Geschichten, wissenschaftlichen Untersuchungen und Metauntersuchungen zu der Frage, ob der Mensch im Grunde gut ist. Sein Fazit: Ja, wir sind im Grunde gut. Zwei Tatsachen halten uns jedoch davon ab, dies zur Grundlage unseres Bewusstseins zu machen. Die erste ist, dass wir als in der Steinzeit evolutionär entstandene Menschen auf vermeintlich drohende Gefahren stärker reagieren als auf positive Nachrichten. Die zweite ist, dass, wie oben schon erwähnt, die Nachrichtenmedien davon leben, uns zu Sensationen aufgebauschte Gefahren zu präsentieren.

Soldaten wollen nicht schießen

Bregman zählt in seinem Buch einige populäre Mythen auf, die zu dem weltbeherrschenden Paradigma geführt haben, der Mensch sei im Grunde schlecht, und nimmt sie eine nach der anderen auseinander.

Einer dieser Mythen besagt, dass Soldaten kämpfen, weil sie dahin manipuliert wurden. Weil sie brainwashed sind und deshalb ihren jeweiligen Gegner hassen. Nein, stimmt nicht, sagt Bregman. Beispiel: Die Schlacht von Gettysburg 1863 im amerikanischen Bürgerkrieg. Sie gilt als eine der heftigsten Schlachten, die je auf diesem Kontinent gefochten wurden. Die Nordstaaten siegten und nahmen zigtausend Soldaten der Südstaaten gefangen. Dann schauten sie sich die Gewehre der Gefangenen an. Von dem mehr als 27.000 Musketen (das sind Vorderlader) waren 90% noch geladen. Selbst in diesem heftigen Nahkampf und in höchster Lebensgefahr haben offenbar neun von zehn Soldaten nicht auf ihren Gegner schießen wollen. Unzählige weitere Untersuchungen aus der Militärgeschichte ergeben, dass die meisten Soldaten nicht töten wollen. Oft kämpfen sie zwar selbst in aussichtslosen Situationen unverdrossen weiter, aber das Hauptmotiv dabei ist, ihre Kameraden nicht im Stich zu lassen, nicht der Hass auf den Feind.

Das Wunder der Dänen

Als die Nazis Anfang der 40er Jahre einen Großteil Europas besetzt hielten und auf der Wannseekonferenz im Januar 1942 beschlossen, aus den besetzten Gebieten die Juden in Vernichtungslager abzutransportieren, gelang ihnen das in erschreckend hohem Maß. Im Oktober 1943 war das besetzte Dänemark dran. Dort lebten ungefähr 8.000 als Juden etikettierte Menschen. Mehr als 7.000 von ihnen konnten vor dem Abtransport in die Vernichtungslager gerettet werden und nach Schweden entfliehen. Ein wesentlicher Grund für diese Rettung ist, dass die dänische Bevölkerung sich von der SS nicht einschüchtern ließ. Auch auf die Gefahr hin, als Verräter hingerichtet zu werden, halfen sie ihren jüdischen Mitbewohnern, zu entkommen.

Herr der Fliegen

Wenn die von der Zivilisation anerzogene Oberfläche mal von uns abfällt, gehen wir »wie die Wilden« aufeinander los. Das ist seit Thomas Hobbes Leviathan (1651) ein Paradigma der europäischen Politiktheorie und auch der populären Weltanschauung. Es ist auch die Grundlage des absolutistischen Staates und die zentrale Behauptung des Romans »Herr der Fliegen« von William Golding, der 1954 erschien. Dieses Buch erzählt die Geschichte von sechs nach einem Flugzeugabsturz auf einer Insel gestrandeten Jungs, die dann untereinander gewalttätig werden. Es wurde nicht nur ein Weltbestseller, sondern auch ein weithin empfohlenes Schulbuch, und sein Autor Golding erhielt dafür 1983 zu Recht den verdienten Nobelpreis. Falsch, sagt Rutger Bregman. Diese Geschichte hatte sich der Autor ausgedacht, weil er mit sich selbst und dem Leben nicht gut klarkam, ohne Anhaltspunkt in einem realen Ereignis. Nach langem Suchen fand Bregman tatsächlich eine reale Geschichte, wie sechs Jungen auf einer unbewohnten Insel landeten, die ein Überleben für Menschen nicht leicht machte. Sie blieben in diesem schwierigen Ambiente anderthalb Jahre, bis sie gefunden wurden. Sie halfen einander in der Not, schlichteten Streit und blieben ihr Leben lang Freunde.

Das Stanford Prison Experiment

Um der Obrigkeit zu gehorchen, sind wir bereit, fast grenzenlos zu quälen. Das ist das Fazit des Stanford Prison Experiments des Psychologen Philip Zimbardo von 1971. Er hatte per Anzeige Studenten für dieses Experiment gefunden, denen dafür 15 $ pro Tag versprochen worden waren. Per Münzwurf wurden sie in 9 Gefangene und 9 Gefängniswärter eingeteilt. Schon nach zwei Tagen nahmen die Grausamkeiten der Wärter extrem zu. Am dritten Tag gab es einen Aufstand der Gefangenen, der von den Wärtern mit Gewalt niedergeschlagen wurde. Nach sechs Tagen wurde das Experiment, das für zwei Wochen geplant war, wegen der ausufernden Gewalt abgebrochen.

Das Fazit dieses Experimentes findet man heute in fast jedem Standardwerk der Psychologie sowie in unzähligen erfolgreichen Filmen, Netflix-Dokus und Bestsellern wie The Tipping Point von Malcolm Gladwell: Auch ganz normale, gut erzogene Menschen können durch geringe Veränderungen in ihrer Umgebung zu Monstern gemacht werden.

Die Milgram-Experimente

Noch bekannter als das Stanford Prison Experiment sind die Milgram-Experimente, bei denen Probanden bei Fehlleistungen bis zu 450 Volt als Strafe verabreicht wird. Das Fazit auch dieser Experimente war – und ist bis heute – dass Menschen autoritätshörig sind und auf Befehl imstande sind, schuldlose Mitmenschen grausam zu bestrafen.

Der historische Zeitpunkt von Milgrams erstem Experiment hätte nicht besser gewählt sein können, schreibt Bregman. An dem Tag, an dem der erste Proband Milgrams Labor betrat, begann die letzte und entscheidende Woche der Verurteilung von Adolf Eichmann dem Architekten des Holocaust, vor den Augen und Ohren von 700 Journalisten, unter ihnen die Philosophin Hannah Arendt, die für die Zeitschrift New Yorker berichtete.

In der israelischen Gefangenschaft war Eichmann mehrfach von Ärzten und Psychologen getestet worden. Keiner von ihnen fand an ihm Verhaltensauffälligkeiten. Das Einzige, was einem von ihnen auffiel, war, dass er als »normaler als normal« erschien. Aus dieser und anderen Beobachtungen speiste sich Hannah Arendts Fazit der »Banalität des Bösen«, mit dem sie zu den größten Philosophen des 20. Jahrhundert gezählt wird. Die Milgram-Experimente schienen ihre Thesen zu bestätigen. Sie wurden von Fachkollegen wie Muzafer Sherif gepriesen als »der größte Beitrag im Feld der Sozialpsychologie, vielleicht sogar der Psychologie im Allgemeinen, der je gemacht wurde«. In jedem von uns steckt ein Eichmann, das haben die Stanford Prison Experiment und die Milgram-Experimente beweisen, so lautet das Fazit dieser Experimente in der Weltöffentlichkeit bis heute.

Inszenierungen statt Untersuchungen

Doch weder die Milgram-Experimente noch das Stanford-Experiment konnten unter Bedingungen wiederholt werden, in denen die ausgeübten Grausamkeiten nicht vom Versuchsleiter oder seinen Assistenten gezielt hervorgerufen wurden. Neuere Untersuchungen der Versuchsberichte von damals zeigen, dass die Experimente viel eher Inszenierungen erwünschter Ergebnisse waren als echte Untersuchungen. Das Motiv der ausführenden Psychologen war allem Anschein nach, mit dem Ergebnis Karriere zu machen, was ja auch über alle Maßen hinaus gelang.

Grausam gegenüber »Unmenschen«

Bregman zeit noch an vielen weiteren Beispielen, wie gut wir Homo sapiens im Grunde sind. Jedenfalls in Gruppen bis zu etwa 150, wo wir noch jeden kennen können. Grausamkeiten wie Kriege, Genozid und die Unterdrückung von Minderheiten, ja, die gibt es. Aber um solche Gräueltaten zu begehen, müssen wir Menschen erstmal dazu gebracht werden. Ein Mittel dazu ist, die Opfer als Unmenschen oder Ungeziefer darzustellen, das ausgerottet werden muss. Oder als Gefahr für die eigene Familie, Nation oder Religion. Auch diesen Einflüssen widmet Bregman einen großen Teil seines Buchs. Er kehrt aber immer wieder zu Berichten von der grundsätzlichen Freundlichkeit der Menschen gegenüber ihren Artgenossen zurück.

Dazu gehört auch das »Fraternisieren« an der Westfront an Weihnachten 1914. Da lagen auf beiden Seiten der Front in den Schützengräben Christen. Sie kämpften für ihre Nation oder um ihre Kameraden nicht im Stich zu lassen. An Heiligabend aber, dem größten christlichen Fest, kamen viele von ihnen aus ihren Schützengräben hervor und sangen mit ihren Feinden gemeinsam Weihnachtslieder. Ohne die Offiziere im Hintergrund hätten sie nach dieser »Verbrüderung« wahrscheinlich nicht weitergekämpft.

Aktivist und Journalist zugleich

Das Buch von Bregman ist brillant geschrieben, brillant erzählt und als solches so gut, dass ich zum Schluss anfange, der Erzählung zu misstrauen. Die Auswahl der Geschichten hat ja er getroffen, mit der Absicht zu belegen, dass der Mensch gut ist. Das ist ein bias, eine vorgefasste Absicht. Durch diese Brille, diesen Filter schaut Bregman auf die Welt, und zu diesem Zweck demontiert er Stereotype, die das Gegenteil behaupten. Er tut das auf überzeugende Weise, besser als ich es hier kann, in dieser Rezension. Auch wenn Belege seiner These im einzelnen richtig sein mögen (ich vermute, dass sie es sind), ist seine These als Ganzes ein Filter, nach dem er die im Buch angeführten Einzelfälle auswählt.

Mit anderen Worten: Rutger Bregman ist Aktivist und Wissenschaftsjournalist zugleich. Als Aktivist ist er überaus sympathisch. Aber dadurch, dass er in so starkem und überzeugendem Maße Aktivist ist, kann als Wissenschaftsjournalist, was das Ganze anbelangt nicht mehr neutral sein. Aber wer ist das schon, auch unter den Wissenschaftlern? Wir sind doch alle, inklusive der Wissenschaftler unter uns, von Narrativen gesteuerte Wesen. Da ist es mir schon lieber, einer ist von dem Narrativ gesteuert, zu beweisen, dass wir Menschen im Grunde gut seien. Das ist viel besser als von der Überzeugung gesteuert zu sein, wir wären im Grunde schlecht, denn die zweite Überzeugung führt zu Misstrauen und Krieg, die erste zu Vertrauen und Frieden.

Bregman will das Paradigma, dass der Mensch im Grunde gut ist, als sich selbst erfüllende Prophezeiung in die Welt setzen. Möge das gelingen, wünscht man sich nach dem Lesen dieses Buchs! Jedenfalls mir gegenüber gelingt ihm das recht gut, und wenn man den Amazon-Rezensionen trauen will, gelingt ihm das auch bei vielen anderen. Nicht nur Fake-News und Viren können sich exponentiell verbreiten, auch Vertrauen und Friedfertigkeit können das.

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