Unser anderes Leben

 In FEATURED, Kultur, Philosophie

Soll die Welt nicht unter der Macht des Faktischen versteinern, muss das Wirkliche durch das Mögliche ergänzt werden. Dazu ist es nötig, das Denken zu befreien. Die Realität macht Angst. Die Rede ist von dem Druck, den sie erzeugt und dem man sich angeblich zu beugen hat, und von der Alternativlosigkeit, die keinerlei Entscheidungsfreiheit zu gewähren scheint. Wer den Versuch unternimmt, die Dinge und Ereignisse um ihn herum einer differenzierten Betrachtung zu unterziehen, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, unter Realitätsverlust zu leiden. Es scheint, als habe sich die Welt der Tatsachen, in der wir uns bewegen und die wir zugleich selbst bewegen, gegen uns verschworen. Stefanie Golisch

 

Indem das westliche Denken die Welt zum Objekt herabwürdigte und dadurch von der lebendigen Wirklichkeitserfahrung abtrennte, sind wir in einen Entfremdungsprozess eingetreten, in dem die objektive Realität und die subjektive Wirklichkeit als Antipoden erscheinen. Unversöhnlich stehen überzeugte Daten- und Faktenchecker denjenigen gegenüber, die sich auf ihre eigene Wahrnehmung der Wirklichkeit berufen und damit die in ihr enthaltenen Möglichkeiten in den Blick rücken.

Wirklichkeit und Möglichkeit sind nämlich aufeinander bezogen wie der Seiltänzer und die Gefahr, ohne die seine Kunst hinfällig wird. Stürzt er oder stürzt nicht? Und wenn ja, wird er überleben, oder wird er als tragischer Held in die Annalen seiner Zunft eingehen?

Leben ist Risiko, und gerade in der Ungewissheit liegt die Herausforderung beschlossen, Wirklichkeit täglich neu zu erfinden. Die Realität, die immer schon vorher weiß, wie eine Sache am Ende ausgeht, ist Wirklichkeit, die ihre Lebendigkeit vergaß.

Um die Potenziale von Wirklichkeit, aus deren Fülle heraus sich immer neue und überraschende Formen entwickeln, wusste die deutsche Frühromantik, die an der Epochenschwelle um 1800 Gedanken, Intuitionen und poetische Einfälle formulierte, in denen die komplexen Zusammenhänge aufblitzen, die unser Leben ausmachen.

Zusammenhänge, die wir uns nicht ausgesucht haben, sondern die uns vorgegeben sind und die wir nicht ignorieren können, ohne uns selbst zu verlieren.

Die Revolution des Bewusstseins, wie sie der Kreis um Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte, vorantrieb, war auf Ganzheitlichkeit angelegt, auf den Dialog von Physik und Metaphysik, von Natur und Kultur, die versöhnt werden sollten, damit der Mensch erst zum Menschen werde.

Was die jungen Dichter und Denker des Jenaer Kreises bei aller Unterschiedlichkeit der Begabungen eint, ist der Wunsch, die materielle Wirklichkeit zu überschreiten — und zwar nicht, weil sie an sich zu wenig oder falsch wäre, sondern um sie durch die Erforschung ihrer geistigen Hintergründe zu vertiefen. Novalis nennt diese Denkbewegung das „Romantisieren der Welt“ und versteht darunter ausdrücklich keine Sentimentalitäten, sondern eine gesteigerte Aufmerksamkeit für alle Dinge umher, die man poetische Vernunft nennen könnte.

Was den Romantiker antreibt, ist die Suche nach dem Besonderen im Gewöhnlichen, das ausnahmslos jeder Manifestation des Lebendigen seine einzigartige Würde verleiht. Die Kruste der Wirklichkeit durch eine zunehmende Verfeinerung des Fühlens und Denkens aufzubrechen ist das Ziel eines geheimnisvollen inneren Weges mit offenem Ausgang. Ausdrücklich geht es hierbei nicht um eine ausformulierte Theorie, sondern um einen großzügigen Vertrauensvorschuss, der darin besteht, dass der Mensch für fähig befunden wird, aus eigener Kraft die Wirklichkeit denkerisch zu durchdringen und nach seinen Vorstellungen zu gestalten.

Es ist das Jahr 1798. In Jena gründet der gerade einmal 26-jährige Friedrich Schlegel die Zeitschrift Athenäum, eine Textsammlung von außerordentlicher künstlerischer und philosophischer Qualität, deren charakteristische Form das Fragment ist — und zwar nicht als defizitärer Rest einer ursprünglichen Vollkommenheit, sondern als selbstbewusste Form eines sich entgrenzenden Denkens. Aufgrund seiner prinzipiellen Unabgeschlossenheit, einer Offenheit nach allen Seiten hin, erscheint das Fragment als idealer Ausdruck eines neuen künstlerischen und menschlichen Selbstverständnisses jenseits der klassischen Ideale von Sinn- und Sittenhaftigkeit. Nicht die Darstellung von Wissen steht dabei im Vordergrund, sondern der lebendige Prozess der Wissenserkundung, der Paradox und Widerspruch zu den produktiven Herausforderungen eines neuen, beweglichen Denkens erklärt.

Die Wahrheit des Fragments liegt in dieser prinzipiellen Unabgeschlossenheit. Sein bewusstes Abbrechen, die ausgesparte Vollendung, wird zur Erkennungsmarke eines Begriffs von Modernität, der sich dadurch auszeichnet, dass er sich in vollkommener geistiger Autonomie selbst hervorbringt.

Keine Trauer also über abgeschlagene Gliedmaßen, verlorenes Ebenmaß. Keine nostalgische Verklärung der Vergangenheit, sondern die optimistische Proklamation einer neuen Qualität des Lebens als souveränes Spiel mit Möglichkeiten: die Verweigerung erster und letzter Sätze, einer vernünftigen Schlussfolgerung, einer veritablen Moral.

Das Fragment, wie Friedrich Schlegel und sein Freundeskreis es kultivieren, ist ein Geistesblitz im beständigen Stadium des Werdens, ein selbstbewusstes Fragezeichen und Leitbild eines beweglichen Denkens jenseits der Frage nach der Realisierbarkeit der Ideen.

„Fantasie an die Macht“ — noch in diesem Motto der Pariser Studentenbewegung von 1968 schwingt die Unerschrockenheit mit, die vor über 200 Jahren eine kleine Gruppe junger Männer und Frauen in einer preußischen Provinzstadt beflügelte, über den Tellerrand hinaus ins Freie zu blicken. „Ganz begreifen werden wir uns nie, aber wir werden und können uns weit mehr als begreifen“, lautet ein Fragment von Novalis, dessen dunkle Paradoxie einen großzügigen Echoraum menschlicher Selbstvergewisserung eröffnet, von dem die Apologeten des Realitätsprinzips nicht einmal zu träumen wagen.

Dieser Überschwang! Dass er nicht von Dauer sein konnte, überrascht kaum. Von Schlegels Athenäum erschienen zwischen 1798 und 1800 gerade einmal sechs Ausgaben. Der geniale Novalis stirbt 1801, neunundzwanzigjährig, an der Schwindsucht.

Der Kreis zerfällt. Das 19. Jahrhundert tritt auf den Plan. Es wird den modernen Nationalstaat erfinden, den Weltgeist, den Verbrennungsmotor, die Eisenbahn, den Arbeiter und den Bürger, den Klassenkampf und die modernen Waffen, die all seine zivilisatorischen Errungenschaften in einem Weltkrieg von bisher unbekanntem Ausmaß hinwegfegen werden.

1918 ist die Welt von gestern ein Trümmerhaufen. Der technische Fortschritt hat seinen Januskopf gezeigt. Alles, was man industriell innerhalb von kürzester Zeit herzustellen vermag, kann ebenso schnell wieder zerstört werden. Das ist die ambivalente Realität des Maschinenzeitalters: dieselben eisernen Ungeheuer, die den Spießbürger zum Weltenbummler machen, ermöglichen zugleich die Massentransporte europäischer Soldaten an die Frontlinien, wo sie als Versuchskaninchen für moderne Kriegstechnik, verraten und verkauft von ihren eigenen Kriegsherren, einem elenden Tod vorherbestimmt sind.

Die Werke des deutschen Expressionismus, namentlich diejenigen von Otto Dix und Georg Grosz, vermitteln ein eindrückliches Bild von der Zeit nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung. Die Niederlage traf die Bevölkerung, die durch massive Kriegspropaganda jahrelang verblendet worden war, durchaus unvorbereitet. Erst durch die Rückkehr der an Leib und Seele schwer gezeichneten Soldaten wurde das wahre Ausmaß der Katastrophe deutlich. Hunger und Inflation taten das ihre, um die Gesellschaft in Kriegsgewinner- und -verlierer zu spalten.

Der mechanischen Welt der Dinge, als deren Beherrscher man sich gefühlt hatte, stand plötzlich das persönliche Erleben einer von sozialen und politischen Verwerfungen zerrütteten Gesellschaft gegenüber, deren unverarbeitete Traumata — wie könnte es anders sein? — sich in Hass und Gewalt entluden. Von Fortschritt keine Spur.

Zugleich ist dieses geistige Vakuum aber auch die Stunde des Neuen: politischer Parteien und Bündnisse, der Lebensreformbewegung und einer Vielzahl von künstlerischen Avantgarden, die nun einen radikalen Bruch mit der Tradition vollziehen. Spätestens nach Kasimir Malewitschs „Schwarzem Quadrat auf schwarzen Grund“ von 1915 ist nichts mehr, wie es war. Seine undurchdringliche Schwärze, die Weigerung, noch irgendetwas auszusagen oder womöglich dem kunstbeflissenen Publikum gefallen zu wollen, ist Ende und Anfang zugleich. In Petersburg, wo es zum ersten Mal ausgestellt wurde, bestand der Maler darauf, dass es an jenen Ort gehängt wurde, der in der orthodoxen Tradition den Ikonen vorbehalten ist: den sogenannten schönen Winkel, sprich übereck in Schrägposition unterhalb der Decke. Ein Foto von diesem vor Vitalität vibrierenden Raum kann man sich im Internet anschauen.

An Malewitschs schwarzem Quadrat wird in Zukunft, unabhängig davon, ob man es kennt oder nicht, kein Weg mehr vorbeiführen. So rätselhaft ist seine Schwärze, so grenzenlos die Möglichkeiten, die in ihr beschlossen liegen, dass man seine Wirkung vielleicht am ehesten mit einem Ausdruck Robert Musils als „taghelle Mystik“ beschreiben kann.

Bereits 1899 hatte der junge Rainer Maria Rilke in seinem Gedicht „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“ das Grauen angesichts einer vollkommen ausgeleuchteten Welt beschworen, in der Menschen und Dinge in ihren Namen versteinern und der Zauber der lebendigen Wirklichkeit erlischt.

Was Rilke hier antizipiert, ist das Realitätsprinzip, das in der klassischen Psychoanalyse nach Freud als Antipode des Lustprinzips fungiert und das in diesem Zusammenhang die Hegemonie der materiellen über die geistige Wirklichkeit meint, die sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts über alle Kriege und Krisen hinweg in den westlichen Industriegesellschaften immer weiter verfestigt hat.

„Wir begreifen die Welt in der Sprache der toten Dinge“, stellt der junge nigerianische Psychologe und Philosoph Bayo Akomolafe fest und meint damit im Grunde nichts anderes als Novalis, der in seinem Romanfragment „Die Lehrlinge zu Sais“ (1799) bemerkt: „Es mag lange gedauert haben, ehe die Menschen darauf dachten, die mannigfachen Gegenstände ihrer Sinne mit einem gemeinschaftlichen Namen zu bezeichnen und sich entgegen zu setzen. Durch Übung werden Entwicklungen befördert, und in allen Entwicklungen gehen Teilungen, Zergliederungen vor, die man bequem mit den Brechungen des Lichtstrahls vergleichen kann. So hat sich auch nur allmählich unser Inneres in so mannigfaltige Kräfte zerspaltet, und mit fortnehmender Übung wird auch diese Zerspaltung zunehmen.“

Wie weit die Entfremdung des Menschen von seinem Wesensgrund, der Vielfalt der Erscheinungsformen des Lebendigen, getrieben werden kann, das konnte Novalis freilich nicht ahnen. Seine Intuitionen, ein schwarzes Quadrat auf schwarzem Grund, ein Vers von Rainer Maria Rilke erinnern uns jedoch an die schmale Spur eines uralten Wissens um tiefere Zusammenhänge, die nur darauf warten, wiederentdeckt und verlebendigt zu werden.

„Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“, lautet ein Satz, mit dem Ernst Bloch, der Philosoph der Utopie, uns dazu ermutigt, dem Realitätsdruck zu widerstehen und ins Freie zu denken. Wir müssen es einfach glauben: dass nichts verloren gehen kann, was einmal irgendwo gedacht wurde. Und dass es möglich ist, das Versehrte und Entstellte jederzeit zu neuen Visionen der Wirklichkeit wieder zusammenzufügen.

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