Es ging der Menschheit noch nie so gut wie heute. So scheint es jedenfalls, wenn wir den Denkergebnissen von Autoren wie Nicholas Kristof und Stephen Pinker glauben. Aber sind diese Behauptungen nicht allzu optimistisch? Sind sie etwa staatstragende Ausgeburten eines überzogenen Fortschrittsoptimismus? Und kann man Glück überhaupt messen? Charles Eisenstein
In George Orwells Roman 1984 gibt es eine Stelle, an der die Partei eine Erhöhung der Schokoladenration – von dreißig auf zwanzig Gramm – ankündigt. Niemand außer der Hauptfigur, Winston, scheint zu bemerken, dass die Ration gesunken, nicht gestiegen ist.
„Genossen!“ rief eine eifrige jugendliche Stimme. „Achtung, Genossen! Wir haben herrliche Nachrichten für euch. Wir haben die Erzeugungsschlacht gewonnen! Die jetzt abgeschlossenen amtlichen Berichte über die Produktion aller Kategorien von Gebrauchsgütern zeigen, dass der Lebensstandard im Vergleich zum vergangenen Jahr sich um nicht weniger als zwanzig Prozent erhöht hat. In ganz Ozeanien fanden heute Morgen spontane Demonstrationen statt, bei denen die Arbeiter aus den Fabriken und Büros herausmarschierten und mit Fahnen durch die Straßen zogen, um dem Großen Bruder ihre Dankbarkeit für das neue, glückliche Leben zum Ausdruck zu bringen, mit dem uns seine weise Führung beschenkt hat.
Der Nachrichtensprecher fährt fort und verkündet eine Statistik nach der anderen, die alle beweisen, dass sich alles zum Besseren verändert. Die Formulierung „unser neues, glückliches Leben“ ist in Mode. Natürlich ist es, genau wie mit der Schokoladenration, ganz offensichtlich, dass die Statistiken gefälscht sind.
Diese Worte, „unser neues, glückliches Leben“, kamen mir beim Lesen zweier erst kürzlich erschienener Artikel in den Sinn. Den einen, von Nicholas Kristof, las ich in der New York Times und den anderen, der von Stephen Pinker stammt, im Wall Street Journal. Beide behaupten anhand ausführlicher Statistiken, dass es der Menschheit im Allgemeinen noch nie zuvor in der Geschichte so gut gegangen sei wie heute. Heute kämen weniger Menschen in Kriegen, bei Autounfällen, durch Flugzeugabstürze oder Waffengewalt zu Tode. Nie zuvor seien so niedrige Armutsquoten verzeichnet worden. Die Lebenserwartung sei gestiegen, und noch nie habe es so viele Menschen gegeben, die lesen und schreiben können, die Zugang zu Strom und fließend Wasser haben und in Demokratien leben.
So wie in 1984 wird in diesen Artikeln die grundlegende Ausrichtung der Gesellschaft gelobt und gefeiert. Wir bewegen uns in die richtige Richtung. Mit geschniegelter Selbstsicherheit sagen sie uns, dass wir dank der Vernunft, der Wissenschaft und des aufgeklärten, politischen Denkens der westlichen Welt auf eine bessere Welt zusteuern.
So wie in 1984 haben diese Argumente, die so unverblümt der bestehenden Ordnung dienen, etwas Trügerisches.
Anders als in 1984 ist der Trugschluss nicht das Produkt gefälschter Statistiken.
Bevor ich diesen Trugschluss und das, was sich auf seiner Kehrseite befindet, beschreibe, möchte ich Ihnen versichern, dass dieser Essay nicht beweisen will, dass alles immer schlechter wird. Tatsächlich teile ich den grundlegenden Optimismus von Kristof und Pinker, dass sich die Menschheit auf einem positiven Weg der Entwicklung befindet. Damit diese Entwicklung jedoch voranschreitet, ist es notwendig, dass wir den Schrecken, das Leid und den Verlust, die vom verherrlichenden Narrativ des zivilisatorischen Fortschritts einfach ausgelassen werden, anerkennen und mit einbeziehen.
Was sich hinter den Zahlen versteckt
Mit anderen Worten: Wir müssen uns mit genau jenen Dingen auseinandersetzen, die in Stephen Pinkers Statistiken weggelassen werden. Es ist doch im Allgemeinen so, dass auf Messdaten basierende Studien, so objektiv sie auch scheinen mögen, die Voreingenommenheit derjenigen in sich tragen, die entscheiden, was gemessen wird, wie es gemessen wird und was nicht gemessen wird. Außerdem entwerten sie all jene Dinge, die wir nicht messen können, oder die an sich unmessbar sind. Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen.
Nicholas Kristof zeigt sich erfreut darüber, dass die Zahl der Menschen, die von weniger als zwei Dollar pro Tag leben, sinkt. Was könnte sich hinter dieser Statistik verbergen? Na ja, jedes Mal, wenn ein indigener Jäger und Sammler oder eine traditionelle Dorfbewohnerin von ihrem Land vertrieben werden und auf einer Plantage oder in einem Ausbeutungsbetrieb arbeiten gehen, steigt ihr tägliches Einkommen von null auf mehrere Dollar. Die Zahl sieht gut aus. Das BIP steigt. Jedoch bleibt die eigentliche Verschlechterung unsichtbar.
Während der letzten paar Jahrhunderte flohen auf der Südhalbkugel Massen von Menschen vom Land in die boomenden Städte. Die meisten von ihnen hatten weitgehend außerhalb der Geldwirtschaft gelebt. In einem kleinen Dorf in Indien oder Afrika beschafften sich die meisten dieser Menschen ihre Lebensmittel, bauten ihre Unterkünfte, stellten ihre Kleidung her und sorgten für Unterhaltung. All dies geschah im Rahmen einer Subsistenzwirtschaft oder Schenkökonomie, ohne dass dabei Geld eine große Rolle gespielt hätte. Wenn ganze Nationen aufgrund der Entwicklungspolitik und der Weltwirtschaft zur Erwirtschaftung von Devisen genötigt werden um ihre Schulden zu begleichen, dann führt dies immer zu Urbanisierung. In einem Slum von Lagos oder Kalkutta sind zwei Dollar am Tag eine Misere, während sie in einem traditionellen Dorf Reichtum bedeuten können. Wenn man den Trend der Entwicklung und Urbanisierung als selbstverständlich ansieht, ja, dann ist es eine gute Sache, wenn das Einkommen dieser Slumbewohner von zwei Dollar auf, sagen wir, fünf Dollar täglich steigt. Sich auf diese Zahlen zu fokussieren, verdeckt jedoch die tieferliegenden Prozesse.
Kristof behauptet, 2017 sei das beste Jahr für die Weltgesundheit gewesen. Wenn wir die Verbreitung von Infektionskrankheiten messen, hat er sicherlich recht. Auch die Lebenserwartung steigt weltweit weiterhin (obwohl sie sich langsam stabilisiert und in einigen Ländern, wie z. B. den USA, langsam rückläufig wird). Doch auch diese Kennzahlen verbergen beunruhigende Trends. Die vielen neuen Krankheiten, wie z. B. Autoimmunkrankheiten, Allergien, Borreliose und Autismus zusammen mit einer noch nie dagewesenen Verbreitung von Suchterkrankungen, Depression und Adipositas tragen in allen Industrieländern und in zunehmendem Maße auch in den Entwicklungsländern zu einer Abnahme der körperlichen Vitalität bei. Enorme soziale Ressourcen – in den USA ist es ein Fünftel des BIP – werden für die Krankenversorgung aufgewendet; die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit ist krank.
Beide Autoren gehen auch auf die Alphabetisierung ein. Was könnte hinter dieser Statistik stecken? An den meisten Orten hat der Übergang zur Alphabetisierung vor allem die Zerstörung mündlich überlieferter Traditionen, ja sogar die Ausrottung ganzer Sprachen bedeutet, die keine Schrift besitzen. Die Alphabetisierung ist Teil einer breiteren sozialen Umstrukturierung, ein Übergang zur Moderne, der mit einer kulturellen und linguistischen Homogenisierung einhergeht. Millionen von Kindern gehen zur Schule um lesen, schreiben und rechnen zu lernen; Geschichte, Naturwissenschaften und Shakespeare. Eine Generation vorher hätten die Kinder in diesen Regionen noch gelernt, wie man Ziegen hütet, unter schwierigen Bedingungen Gemüse anbaut, Ziegelsteine herstellt, Stoff webt, Zeremonien leitet oder Brot backt. Sie hätten die Anwendungsmöglichkeiten von tausend Pflanzen gelernt, und die Gesänge von hundert Vögeln, die Worte von tausend Geschichten und die Schritte von hundert Tänzen. Die Anpassung an eine des Lesens und Schreibens kundige Gesellschaft ist Teil einer noch viel größeren Veränderung. Vernünftige Menschen mögen verschiedener Meinung darüber sein, ob diese Veränderung gut oder schlecht ist, ob wir besser dran sind, wenn wir auf digitale soziale Netzwerke angewiesen sind oder auf ortsgebundene Gemeinschaften; ob wir besser dran sind, wenn wir mehr Firmenlogos wiedererkennen als Tiere und Pflanzen der Region; ob es uns besser geht, wenn wir mit Symbolen herumhantieren oder wenn wir die Erde bearbeiten. Nur aus einer voreingenommenen Einstellung heraus können wir sagen, dass dieser Wandel einen eindeutigen Fortschritt darstellt.
Es ist hier nicht meine Absicht, das geschriebene Wort zu benutzen um das Lesen und Schreiben schlecht zu machen, herrlich ironisch wäre das allerdings. Ich merke lediglich an, dass unsere Maßstäbe für Fortschritt ein verzerrtes Bild der Realität darstellen, und dass sie all das vernachlässigen, was nicht bequem in die Weltanschauung derer passt, die diese Maßstäbe entwickeln. Sicherlich ist Analphabetismus in einer bereits modernisierten Gesellschaft ein schrecklicher Nachteil, aber außerhalb dieses Zusammenhangs ist es nicht selbstverständlich, dass eine alphabetisierte Gesellschaft – oder deren Fortsetzung, eine digitalisierte Gesellschaft – eine glückliche Gesellschaft ist.
Die Unmessbarkeit des Glücks
Ob es sich hier nun um eine verzerrte Einschätzung der Realität handelt, sei dahingestellt, aber man kann mit Pinkers Glücksmaßstäben sicher nicht argumentieren, dass es die Wissenschaft, die Vernunft und die westlichen politischen Ideale sind, die die Welt besser machen. Je weiter entwickelt das Land, desto glücklicher seien seine Einwohner, sagt er. Das bedeutet, je mehr alle anderen sich auf demselben Weg weiterentwickeln, den wir gebahnt haben, desto glücklicher wird die Welt sein.
Dummerweise enthalten die Glücksstatistiken als Grundannahmen eben jene Aussagen, die die Entwicklungsbefürworter mit ihrer Studie eigentlich erst beweisen wollen. Allgemein betrachtet umfassen die Glücksberechnungen zwei Ansätze: objektive Kennzahlen, die das Wohlbefinden widerspiegeln und subjektive Berichte von Glück. Unter den Kennzahlen für Wohlbefinden befinden sich u. a. das Pro-Kopf-Einkommen, die Lebenserwartung, die Freizeit, das Bildungsniveau, Zugang zu medizinischer Versorgung und viele andere Errungenschaften der fortschrittlichen Welt. In vielen Kulturen gab es das Konzept „Freizeit“ zum Beispiel gar nicht. Freizeit als Gegensatz zu Arbeit setzt voraus, dass Arbeit das ist, wozu sie sich in der Industriellen Revolution entwickelt hat: etwas Langweiliges, Entwürdigendes, Lästiges. Eine Kultur, in der Arbeit nicht klar vom Leben getrennt werden kann, wird unter diesem Glücksmaßstab falsch beurteilt; schauen Sie sich Helena Norberg-Hodges phantastischen Film „Ancient Futures“ an, in dem eine solche Kultur, in der, wie es im Film heißt, „Arbeit und Freizeit eins sind“, dargestellt wird.
Objektive Kriterien zur Bemessung des Wohlbefindens basieren auf einer bestimmten Vorstellung von Entwicklung, nämlich der heute vorherrschenden. Zu sagen, Industriestaaten (also hochentwickelte Länder) seien daher glücklicher, ist ein Zirkelschluss.
Was subjektive Berichte über persönliches Glück angeht, bezieht sich die individuelle Selbsteinschätzung notwendigerweise auf das kulturelle Umfeld. Ich beurteile mein Glück im Vergleich zu dem allgemein um mich herum herrschenden Glücksniveau. Dieses ist in einer Gesellschaft, in der Angst und Depression immer mehr um sich greifen, sehr niedrig. Einmal sagte mir eine Frau: „Ich hielt mich immer für halbwegs glücklich, bis ich ein Dorf in Afghanistan besuchte, in der Nähe von dem Ort, an den ich für einen Militäreinsatz entsandt wurde. Ich wollte die Dinge aus einer anderen Perspektive sehen. Das war ein unglaublich armes Dorf. Die Hütten hatten nicht einmal einen Boden, nur Erde, die sich oft in Matsch verwandelte. Die Leute dort hatten auch kaum genug zu essen. Aber nie zuvor hatte ich so glückliche Menschen gesehen. Sie waren voller Fröhlichkeit und Großzügigkeit. Diese Leute, die nichts hatten, waren glücklicher als die meisten Menschen, die ich kenne.“
Was auch immer diese afghanischen Dorfbewohner so glücklich machte – ich denke nicht, dass es in Stephen Pinkers Statistik auftaucht, auch wenn diese angeblich beweist, dass unser Weg der richtige ist und sie uns folgen sollten. Vielleicht haben Sie ähnliche Erfahrungen gesammelt, auf Reisen nach Mexiko, Brasilien, Afrika oder Indien, wo man in den hintersten Provinznestern eine Fröhlichkeit finden kann, auf die man in der Vorstadtidylle meines Landes selten stößt. Und das, trotz Jahrhunderten von Imperialismus, Krieg und Kolonialismus. Stellen Sie sich vor, welches Glück in einer gerechten und friedvollen Welt möglich wäre.
Ich bin sicher, dass alle, die so etwas noch nie aus erster Hand erlebt haben, von meiner Argumentation nicht besonders überzeugt sein werden. Sie werden denken, dass die Einwohner vielleicht nur ihre beste Miene für den Besucher aufgesetzt haben. Oder auch, dass mein Blick durch die Romantisierung der „glücklichen Ureinwohner“ getrübt sein könnte. Aber ich rede hier nicht von der oberflächlichen guten Laune oder dem falschen Lächeln eines Mannes, der einfach versucht, das Beste aus dem Leben zu machen. Menschen aus älteren Kulturen, die eine Verbindung zu ihrer Gemeinschaft und ihrer Umgebung haben, die in eine lange Linie von Vorfahren eingebunden und verwoben sind in ein Geflecht von persönlichen und kulturellen Geschichten, strahlen eine Art von Solidität und Präsenz aus, die ich selten bei modernen Menschen erlebe. Immer wenn ich mit einem dieser Menschen zu tun habe, weiß ich, dass wir, was auch immer die messbaren Gewinne des Aufstiegs der Menschheit sein mögen, etwas von unermesslichem Wert verloren haben. Und ich weiß, dass, solange wir dies nicht erkennen und uns der Aufgabe zuwenden, es zurückzugewinnen, weder eine weitere Erhöhung der Lebensdauer noch des BIP oder des Bildungsniveaus uns irgendeinem Ziel näher bringen wird, das es Wert wäre erreicht zu werden.
Welche anderen Elemente tiefsten Wohlbefindens lassen unsere Messungen aus? Die Authentizität von Kommunikation? Die Innigkeit und Lebendigkeit unserer Beziehungen? Die Vertrautheit mit lokalen Pflanzen und Tieren? Die sinnlich-ästhetische Erbauung durch Architektur und Baukunst? Die Teilnahme an sinnvollen gemeinsamen Unternehmungen? Den Sinn für Gemeinschaft und gesellschaftliche Solidarität? Was wir verloren haben, kann man nur schwerlich messen, selbst wenn wir es versuchen würden. Für den zählenden und messenden Verstand, den Verstand, der mit Geld und Daten umgeht, existiert es kaum. Der Verlust jedoch hinterlässt einen Schatten auf dem Herzen, eine unterschwellige Sehnsucht, die auch das Versprechen eines neuen, glücklichen Lebens nicht lindern kann.
Während das Ausmaß dieses Verlusts – und folglich das Potential, das in seiner Wiedergewinnung liegt – jenseits des Messbaren liegen, gibt es dennoch Statistiken, die darauf hinweisen, welche in Pinkers Analyse aber weggelassen werden. Ich spreche von der hohen Selbstmordrate, den vielen Fällen von Opiatabhängigkeit, Crystal-Meth-Abhängigkeit, Pornografie, Spielsucht, Angstzuständen und Depression, die die moderne Gesellschaft und jede in einem Modernisierungsprozess befindliche Gesellschaft plagen. Das sind nicht nur unbedeutende Schatten in der sonst perfekten Welt des Fortschritts, es sind die Symptome einer tiefgreifenden Krise. Wenn die Gemeinschaft auseinanderfällt, wenn unsere Verbindung zur Natur und unserer Umgebung durchtrennt wird, wenn Bedeutungsstrukturen zusammenbrechen, wenn Verbindungen, die uns ganz machen, verkümmern, wächst unsere Begierde nach suchterzeugenden Ersatzmitteln, mit denen wir das Verlangen betäuben und die Leere füllen können.
Der Verlust, von dem ich spreche, ist untrennbar mit ebendiesen Institutionen – Wissenschaft, Technologie, Industrie, Kapitalismus und dem politischen Ideal des rationalen Individuums – verbunden, die laut Stephen Pinker die Menschheit vom Elend erlöst haben. Wir sollten also damit vorsichtig sein, gewisse unbestreitbare Fortschritte gegenüber dem Mittelalter oder der frühen Industriellen Revolution allein diesen Institutionen zuzuschreiben. Könnte es für diese Fortschritte eine andere Erklärung geben? Könnte er trotz Wissenschaft, Kapitalismus, rationalem Individualismus, etc. und nicht dank ihnen entstanden sein?
Die Theorie der Empathie
Eine der positiven Entwicklungen, die Stephen Pinker hervorhebt, ist die Abnahme von Gewalt. Kriegsopfer, Tötungsdelikte und Gewaltverbrechen generell sind auf einen Bruchteil ihrer Zahlen von vor ein oder zwei Generationen geschrumpft. Es gibt wirklich einen Rückgang der Gewalt, aber sollten wir diesen, wie Pinker es tut, auf die Demokratie, die Vernunft, die Rechtsstaatlichkeit, datengesteuerte Polizeiüberwachung, usw. zurückführen? Ich denke, nein. Demokratie ist keine Versicherung gegen Krieg – tatsächlich haben die Vereinigten Staaten in den letzten fünfzig Jahren weit mehr Militäraktionen durchgeführt als jede andere Nation. Und beruht der Rückgang von Gewaltverbrechen einzig und allein darauf, dass wir heute besser darin geworden sind andere zu bestrafen und uns voreinander zu schützen, indem wir mit Abschreckungsmethoden hart gegen unsere barbarischen Triebe vorgehen?
Ich hätte da eine andere Theorie. Der Rückgang der Gewalt ist nicht eine Folge der Perfektionierung dieser Welt des separaten, eigennützigen, kopfgesteuerten Bürgers, sondern ganz im Gegenteil: Er rührt daher, dass diese Geschichte in sich zusammenbricht und an ihrer Stelle die Empathie aufkeimt.
In der Mythologie des separaten Individuums war es das Ziel des Staates, durch Begrenzung des Eigeninteresses ein Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl sicherzustellen Die aufkeimende Mythologie von gegenseitiger Verbundenheit, Ökologie und Interbeing weckt in uns das Verständnis: Was gut für andere ist, – seien es Menschen oder andere Wesen, steht mit unserem eigenen Wohlbefinden untrennbar in Zusammenhang.
Bei der Empathie ist die entscheidende Frage: Wie ist es, du zu sein? Im Gegensatz dazu geht es beim Krieg um die Fremd-Machung des anderen, die Entmenschlichung und Dämonisierung von Menschen, die zum Feind werden. Dies wird umso schwieriger, je mehr wir uns daran gewöhnen, uns in die Erfahrungen des anderen hineinzuversetzen. Aus diesem Grund haben Folter, Todesstrafe und Gewalt heute weniger Akzeptanz. Das heißt nicht, dass sie „irrational“ sind. Im Gegenteil, die Thinktanks des Establishments sind sehr versiert darin, für all diese Dinge höchst rationale Rechtfertigungen zu erfinden.
In einer Weltsicht, in der die Menschen miteinander konkurrierende, eigennützige Akteure sind, ist es da nicht „vernünftig“, den anderen übertreffen zu wollen, zu dominieren und mit allen Mitteln auszubeuten? Es waren nicht der wissenschaftliche Fortschritt oder die Vernunft, die zur Abschaffung des 14-Stunden-Tages, der Besitzsklaverei oder der Schuldgefängnisse führten.
Die Weltsicht der Ökologie, der wechselseitigen Abhängigkeit und des Interbeing bietet uns andere Grundsätze für vernünftiges Denken. Wenn wir verstehen, dass eine andere Person eine Seinserfahrung hat und abhängig ist von Umständen, die ihr Verhalten bedingen, wird es uns schwerer fallen, diese Person zu entmenschlichen und darauffolgend zu verletzen. Wenn wir verstehen, dass das, was der Welt widerfährt, auf gewisse Weise auch uns selbst widerfährt, wird die Vernunft nicht mehr für den Krieg sprechen. Wenn wir verstehen, dass der Zustand des Bodens, des Wassers und des Ökosystems untrennbar mit unserem eigenen Gesundheitszustand verbunden ist, wird die Vernunft nicht länger deren Ausbeutung vorantreiben.
Die Fürsprecher von Wissenschaft und Technologie wie Stephen Pinker haben auf eine paradoxe Weise recht – die Wissenschaft hat tatsächlich dazu beigetragen, dass das Zeitalter des Krieges zu Ende ist. Nicht etwa, weil wir so viel klüger und überlegen geworden sind, dass wir unsere primitiven Triebe überwunden haben. Nein, vielmehr weil die Wissenschaft derartige Extreme von barbarischer Grausamkeit erreicht hat, dass es unmöglich geworden ist, die Mythologie der Separation weiterhin aufrecht zu erhalten. Die technologische Perfektionierung unserer Fähigkeit zu töten und zu zerstören macht es immer offensichtlicher, dass wir uns von dem Leid, das wir anderen zufügen, nicht abschotten können.
Es war nicht primitiver Aberglaube, der uns das Maschinengewehr und die Atombombe bescherte. Industrialisierung war nicht ein Schritt zur Überwindung barbarischer Grausamkeit, sie war die Anwendung von Grausamkeit in industriellem Ausmaß. Die rationale Verwaltung von Organisationen half uns nicht, den Völkermord für immer auszulöschen, sie machte es erst möglich, dass er in Form des Holocausts in nie dagewesenem Ausmaß und mit nie dagewesener Effizienz passieren konnte. Die Wissenschaft zeigte uns nicht, dass Kriege absurd sind, sie brachte das Extrem des Absurden hervor, das „Gleichgewicht des Schreckens“ im Kalten Krieg. Dieser Wahnsinn barg in sich den Samen einer wirklich evolutiven Erkenntnis – dass das, was wir anderen antun, auch uns selbst geschieht. Dies ist der Grund dafür, dass – abgesehen von einem rückschrittlichen Kader amerikanischer Politiker – heutzutage niemand ernsthaft in Betracht zieht, Atomwaffen einzusetzen.
Das Entsetzen, das sich in uns breit macht bei der Vorstellung, sagen wir, Pjöngjang oder Teheran mit Atomwaffen anzugreifen, ist nicht der Angst vor radioaktiven Rückwirkungen oder terroristischen Vergeltungsanschlägen zuzuschreiben. Es entspringt meiner Überzeugung nach der Empathie, wir identifizieren uns mit den Opfern. Da das Bewusstsein des Interbeing ständig wächst, fällt es uns immer schwerer, ihr Leid als die gerechte Strafe für ihre Sünden oder den bedauerlichen aber notwendigen Preis der Freiheit abzutun. Es ist so, als würde es auf gewisse Weise uns selbst widerfahren.
Selbstverständlich fehlt es auch heute auf der Welt nicht an Menschenrechtsverletzungen, Todeskommandos, Folter, häuslicher Gewalt, Militärgewalt und Gewaltverbrechen. Wenn ich bei alledem einen wachsenden Trend zum Mitgefühl beobachte, bedeutet dies nicht ein Reinwaschen der Hässlichkeit, sondern eine Aufforderung zu einer größeren Beteiligung an dieser Bewegung. Auf individueller Ebene handelt es sich um eine Bewegung der Güte, des Mitgefühls, der Empathie; es bedeutet, dass man zu seinen Ansichten und Vorstellungen steht und – was kein Widerspruch ist – dass man den Mut hat, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, aufzudecken, was verborgen lag, Gewalt und Ungerechtigkeit ans Tageslicht zu bringen, die Geschichten zu erzählen, die gehört werden müssen. In Verknüpfung dieser beiden Stränge, dem Mitgefühl und der Wahrheit, kann eine Politik entstehen, in der wir die Ungerechtigkeit beim Namen nennen, ohne den Täter zu verurteilen, in der wir statt dessen versuchen, die Umstände, die zur Tat führten, zu verstehen und sie zu ändern.
Wenn wir empathisch handeln, streben wir nicht danach, Straftäter zu bestrafen, sondern die Umstände zu begreifen, die zu Straftaten führen. Wir streben nicht danach, den Terrorismus zu bekämpfen, sondern die Bedingungen für seine Entstehung zu verstehen und zu ändern. Wir versuchen nicht, eine Mauer zu errichten, um Immigranten fernzuhalten, sondern zu verstehen, warum Menschen überhaupt so verzweifelt sind, dass sie ihr Zuhause und ihre Heimat verlassen, und auf welche Weise wir vielleicht zu ihrer Verzweiflung beitragen.
Die Empathie suggeriert genau das Gegenteil von dem, was Stephen Pinker uns als Ergebnis präsentiert. Von ihr lernen wir, dass wir, anstelle von effizienteren Strafmaßnahmen und Polizeiüberwachung, den Ansatz des neuen Staatsanwaltes des Bezirks Philadelphia, District Attorney Larry Krasner, näher ansehen sollten: Zu seinen Reformvorschlägen zählte unter anderem sein Appell an die Staatsanwälte, nicht immer das Höchststrafmaß anzustreben, aufzuhören, den Besitz von Cannabis zu verfolgen, Straftäter eher in Resozialisierungsprogramme zu schicken als ins Gefängnis und keine übermäßig langen Bewährungsfristen zu verhängen. Was diesen Maßnahmen zugrunde liegt, ist das Mitgefühl: Wie ist es, ein Krimineller zu sein, ein Süchtiger, eine Prostituierte? Vielleicht wollen wir noch immer dafür sorgen, dass du aufhörst, so etwas zu tun, aber nicht mehr mit der Absicht, dich zu bestrafen. Wir wollen dir eine realistische Chance geben, ein anderes Leben zu führen.
Ähnlich ist es mit der Landwirtschaft, deren Zukunft nicht in noch aggressiveren Züchtungsmethoden, immer stärkeren Pestiziden oder der weiteren Verwandlung lebendigen Bodens in ein industrielles Erzeugnis liegt. Sie liegt in der Erkenntnis, dass der Boden ein lebendiges Wesen ist, und dass wir dazu beitragen müssen, sein Leben zu schützen; sie liegt in der Erkenntnis, dass der Zustand des Bodens verknüpft ist mit unserem eigenen Gesundheitszustand. Und so ragt das Prinzip der Empathie (Wie ist es, du zu sein?) weit hinaus über Strafrecht, Außenpolitik und persönliche Beziehungen. Landwirtschaft, Erziehung, Medizin, Technologie – kein Gebiet liegt jenseits seiner Grenzen. Wenn wir dieses Prinzip auf die Institutionen der zivilisierten Welt anwenden (anstatt den Einflussbereich der Vernunft, der Kontrolle und der Unterwerfung immer weiter auszubreiten), können wir wirklichen Fortschritt für die Menschheit erreichen.
Diese Vision des Fortschritts steht weder im Gegensatz zur technologischen Entwicklung, noch werden Wissenschaft, Vernunft und Technologie ihn automatisch herbeiführen. Alle menschlichen Fähigkeiten können im Dienste einer Zukunft stehen, die von der Einsicht zeugt, dass das Wohlbefinden der Welt – also der anderen Menschen und der anderen Wesen – unserem eigenen Wohlbefinden dient.
Es gibt mehr Ungerechtigkeit als zuvor – wir sind glücklich, weil: „aber die Arbeitsplätze…… “
Wir lieben unsere Unfreiheit und sind dankbar für die Klassengesellschaft, die es so leicht macht, in Gut und Böse zu unterscheiden!
Das bißchen strukturelle Gewalt gegen die Natur, die Tiere und den Mensch (vorallem Frauen), das freundliche Verarmungsprogramm Harzt4……
Die „westlichen Werte“ sind scheinbar untrennbar mit Ausbeutung verbunden und wir sind DANKBAR, dass wir diese Werte haben und verteidigen sie verbissen!
Die Würde des Menschen….. steht unter Finanzierungsvorbehalt.
Wie halten wir das aus?
Entfremdet, fragmentiert, getrennt von der Natur, der Lebensader. Gefangen im zerstörerischem Kapitalismus
Nee, klar, alle sind echt viel glücklicher…..