Ursache Zukunft
In der Adventszeit sollten wir uns besonders darauf ausrichten, was aus der Zukunft an Neuem zu uns kommen will. Wie lässt sich unsere gegenwärtige Leben zerstörende Kultur in eine lebensförderliche umwandeln? Wie entsteht eine „Zukunft mit Zukunft“? Nicht nur große Zukunftsentwürfe zählen. In jedem Augenblick, jeder scheinbar unbedeutenden Situation liegt der Keim für das Neue, das Zukünftige, das in die Welt kommen will. Wir müssen nur aufmerksam werden und aus der Trance unserer gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung aufwachen. Margit Geilenbrügge
Das Konzept einer ökologischen, sozial gerechten und wirtschaftlich tragfähigen Entwicklung (sustainable development) wurde erstmals im Jahr 1987 im Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung vorgestellt (1). Der Begriff sustainability machte danach weltweit Karriere und stand fortan für ein Entwicklungsmodell, das den Bedürfnissen der heutigen Generation gerecht werden will, ohne die Bedürfnisse künftiger Generationen zu gefährden. Auf der Suche nach einem deutschen Wort für sustainability wählte man „Nachhaltigkeit“.
Der Begriff stammt aus der Forstwirtschaft und besagt: Nachhaltig ist eine Holzwirtschaft dann, wenn in einem Forst nicht mehr Bäume gefällt werden, als jeweils nachwachsen und künftig wieder bereitgestellt werden können. Nachhaltigkeit, ursprünglich eine Bezeichnung für ein ehrgeiziges ökosoziales Konzept, ist inzwischen durch inflationären Gebrauch weitgehend sinnentleert worden und verflachte zu einer Worthülse in Firmenbroschüren.
Zukunftsfähigkeit, ein menschliches Potenzial
Ein neuer, lebendiger Zugang zum englischen Begriff „sustainabilty“ eröffnet sich, wenn man ihn mit „Zukunftsfähigkeit“ übersetzt. Hier kommt der Begriff „Fähigkeit“ ins Spiel. Könnte es sein, dass Zukunftsfähigkeit — die Fähigkeit, eine lebenswerte Zukunft zu erschaffen — ein menschliches Potenzial ist, das erst noch in uns geweckt und entwickelt werden muss?
Zukunft, die wird, und Zukunft, die kommt
Im alltäglichen Sprachgebrauch ist Zukunft das, was noch nicht da ist, sich aber einstellen wird. Die lateinische Sprache unterscheidet aber zwischen zwei unterschiedlichen Arten von Zukunft: Futurum ist die Zukunft, die wird. Adventus steht für etwas „Von-sich-her-Kommendes“, für eine die Zukunft, die kommt (2). Unser deutsches Wort „Zukunft“ ist hiervon abgeleitet: „Zu-kunft“ ist das, was auf mich zukommt.
Beide Zukunftsströme existieren nebeneinander. Eine Zukunft im Sinne von futurum, im Englischen future, geht aus menschlicher Planung oder auch als Prognose aus Hochrechnungen bereits vorhandener Tendenzen hervor. Planerisch entsteht Zukunft, wenn beispielsweise aus dem Entwurf für eine ökologische und sozial gerechte Verkehrswende ein menschen- und naturfreundliches Mobilitätssystem wird.
Futurum als Begehrlichkeit
Wenn es um den Erhalt und den Ausbau von Macht, Privilegien und Profitansprüchen geht, wird Zukunft zu einem Objekt der Begehrlichkeit, zu einer terra incognita, einem noch unerschlossenen Land, das erobert und in Besitz genommen werden soll. Eine solche Landnahme findet — angetrieben vom Einfluss mächtiger Konzerne und in Komplizenschaft mit weiten Teilen der Politik — zurzeit statt: die ungebremste und demokratisch nicht kontrollierte digitale Revolution. Was sie für unser Zusammenleben bedeuten wird, ist kaum abschätzbar. Der Soziologe Harald Welzer spricht von der Gefahr einer „Smarten Diktatur“. Denn die Digitalisierung aller Lebensbereiche ermöglicht eine wirtschaftliche und staatliche Massenüberwachung und damit eine flächendeckende Kontrolle der Bevölkerung.
Techno-Futurismus als Heilsbringer
Der Techno-Futurismus, der die Zukunft der technischen Entwicklung überlässt, setzt nicht nur auf die Digitalisierung der Gesellschaft. Sein Zukunftsversprechen lautet: Durch künstliche Intelligenz und Robotik kann der Mensch selbst optimiert, von Leiden und Unzulänglichkeiten aller Art befreit und — irgendwann in der Zukunft — auch vom Tod erlöst werden.
Diese „Zukunftstechnologien“, die im Gewande des fortschrittlich Neuen daherkommen, wiederholen nur das Alte und bringen das Beherrschen, Kontrollieren, Verdinglichen, Vermarkten und damit das Zerstören zur Perfektion. Denn wer durch Technik Leid und Tod aus dem Leben verbannen will, vernichtet damit das Leben selbst.
Leben ohne Tod ist eine Illusion. Auch gibt es eine Art von Leid, das unvermeidbar ist, weil es mit der Entwicklung des eigenen Ichs und der Auseinandersetzung mit dem Leben und Sterben einhergeht.
Zukunft als unverfügbares Ereignis
Die Adventus-Zukunft steht im Gegensatz zur Futurum-Zukunft für eine unableitbare Ankunft von etwas, was nicht planbar, nicht voraussagbar ist. Zu den adventischen Ereignissen zählen beispielsweise der Zusammenbruch des Apartheid-Regimes in Südafrika oder das „Phänomen Greta Thunberg “. All das war nicht planbar, nicht voraussagbar, nicht machbar, hat sich aber auch nicht völlig beliebig ereignet, sondern in einer Sphäre, die sich dem menschlichen Kalkül entzieht.
Ursache Zukunft
Beruht futurische Zukunftsgestaltung auf einem Lernen, das aus den Erfahrungen der Vergangenheit hervorgeht, so schöpft adventisches Lernen aus der Quelle einer entstehenden Zukunft. Wie aber kann die Ursache unseres Handelns aus der Zukunft kommen? Eine mögliche Erklärung liefern die evolutionären Systemwissenschaften, die sich mit der Entwicklung biologischer, geistiger und kultureller Systeme befassen (3).
Entwicklung geschieht demnach in Stufen. Das Potenzial der höheren Ebene stellt die Lösungen für die Probleme bereit, die auf der aktuellen Ebene entstanden sind. Dabei wirkt die jeweils höhere Ebene wie ein Attraktor, eine Zugkraft, die zur Verwirklichung des größeren Potenzials drängt. Dazu drei Beispiele aus der kulturellen Evolution (4):
Was tun, wenn es zu eng wird?
Der Übergang von der Periode magischer Stammesgesellschaften mit geringer Bevölkerungsdichte zur Periode mythischer Ackerbaugesellschaften mit enorm angestiegener Bevölkerungszahl war mit einem hohen Anpassungsdruck verbunden. Der Weg vom Leben in der Wildnis zum Leben in Städten kam dem „Zähmen eines Wolfrudels“ gleich. Wie konnten Menschen miteinander klar kommen, wenn der Raum eng wurde? — Unter dem Druck dieser Probleme tauchte eine neue Bewusstseinsstruktur auf, die für ein geordnetes, funktionales Zusammenleben vieler Menschen auf begrenztem Raum die Lösung lieferte.
Es entwickelte sich die Fähigkeit, in Hierarchien zu denken, Regeln und Rollen im Geist zu konstruieren. So entstanden Städte und Stadtstaaten mit hierarchischer Ordnung, in der jeder seinen Platz einnahm und seine Rolle spielte. Der oberste Herrscher legitimierte sich über einen Mythos, der ihm eine göttliche Abstammung oder die Beauftragung durch eine Gottheit zuschrieb, König Salomo berief sich auf Jahwe, der ägyptische Pharao sah sich als Sohn des Sonnengottes Re. Der Platz in der Hierarchie wurde bestimmt durch die Nähe zum Herrscher beziehungsweise durch die Geburt in eine bestimmte Familie, die sich ihren Platz schon erobert hatte.
Die imperialen Reiche der mythischen Periode wie etwa die Sumerer, Babylonier oder Ägypter führten systematisch Kriege, um sich fremde Völker zu unterwerfen und zu Sklaven zu machen. Nachdem die mythische Bewusstseinsstruktur die Welt auf diese Weise jahrtausendelang mit Blut und Gewalt überzogen hat, geriet sie unter Druck.
Der Logos verdrängt den Mythos
Die neue Weltsicht tauchte zum ersten Mal im antiken Griechenland auf. Der Logos oder die Ratio verdrängte den Mythos und ermöglichte eine Art erster Aufklärung: Griechische Naturphilosophen begannen mit dem systematischen Erklären der Welt. Kleisthenes führte im Jahre 508 vor Christus demokratische Reformen in Athen ein. Das Individuum entwickelte sich über die Rollenidentität hinaus. „Erkenne Dich selbst“, wurde zum Leitmotiv des gebildeten Menschen der Antike.
Keine Mythen mehr!
Das rationale Bewusstsein ist kritisch, es hinterfragt Mythen und Herrschaftshierarchien und stellt sich ihnen „mit dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ entgegen. An die Stelle des gehorsamen Untertanen trat mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert das freie, mündige Subjekt. Es ließ sich von der Vernunft leiten und übernahm für seine Entscheidungen selbst die Verantwortung. Die Rationalität wurde in Europa zu einer so weit verbreiteten Bewusstseinsstruktur, dass sie das gemeinsame Weltbild und die gemeinsamen Werte prägen konnte. Die Allgemeinen Menschenrechte, die Abschaffung der Sklaverei und der Folter sowie der demokratische Verfassungsstaat gingen aus der rationalen Struktur hervor.
Pathologische Rationalität
Jede Bewusstseinsstruktur kann krankhafte Züge annehmen. Die Rationalität, die als die „Würde der Moderne“ galt, verkümmerte im marktliberalen Kapitalismus zu einem technokratisch-ökonomischen Zweckdenken. „Rational“ bedeutet inzwischen „ökonomisch“ und ist weitgehend das, was sich wirtschaftlich rechnet. Diese Geisteshaltung, die den Kapitalismus weiter so erfolgreich auf Kurs hält, behandelt die Welt wie einen toten Gegenstand. Mit einem neurotisch anmutenden Zwangsverhalten macht sie sich die Erde untertan, verwandelt sie berechnend, kontrollierend und in Besitz nehmend zu Geld.
Ein derartig verplanendes Kalkül „planiert“ die Welt zu einem unwirtlichen „Flachland“, so der US-amerikanische Autor Ken Wilber, aus dem Schönheit, Berührbarkeit, Güte, Eigenwille und Gerechtigkeitssinn herausgerechnet und wegrationalisiert wurden. Wo bleibt die neue Bewusstseinsstruktur, die diese Krankheit heilen, diese Probleme lösen könnte? Welches neue Denken und Wahrnehmen wartet darauf, von uns entdeckt, in uns zugelassen und durch uns gelebt zu werden?
Einbeziehen, statt ausgrenzen
Der deutsch-schweizerische Kulturphänomenologe Jean Gebser (1905-1973) hat in seiner Untersuchung zur menschlichen Bewusstseinsentwicklung die neue Bewusstseinsstruktur erforscht und beschrieben (5). Er nennt sie „integral“ und „a-perspektivisch“. Ihre Anfänge liegen nach Gebser schon im 19. Jahrhundert. A-perspektivisch ist die neue Struktur, weil sie alle Perspektiven einbeziehen und in einem größeren Bild, einem umfassenderen Verständnis vereinen kann.
Im Bereich der Kunst war Paul Cézanne (1839-1906) der erste, der dieses neue Denken gestalterisch umsetzte. In seinen Stillleben zeigen sich die unterschiedlichen Perspektiven an den gebrochenen Kanten der abgebildeten Gefäße. Wodurch der Eindruck von Schiefe entsteht. Was sich hier im Kleinen zeigt, kann einmal die Grundlage einer wahrhaft integralen Weltgesellschaft werden, in der keine einzelne Kultur mehr die anderen dominiert.
In mir ist etwas, was über mich hinausgeht
Mit der integralen Bewusstseinsstruktur geht eine neue Fähigkeit einher: das Vermögen, zu mir selbst in Distanz zu treten und so über mich hinauszugehen. Das heißt: Es wird mir möglich, die Identifikation mit meinen Gedanken und Gefühlen aufzugeben. Ich lerne zu verstehen, dass ich Gedanken habe, aber nicht meine Gedanken bin; dass ich Gefühle habe, aber nicht meine Gefühle bin. Aus der Position dieses betrachtenden Selbst können mir auch eingefahrene Denk- und Verhaltensmuster, unbewusste Annahmen und Einstellungen bewusst werden. Eine ganz neue Dimension von Freiheit wird dadurch erfahrbar und neue Möglichkeiten eröffnen sich. Auch die Verhaftung an das rationale Denken lockert sich. Ich erkenne es jetzt als eine „Brille“, die ich je nach Situation auf- und absetzen kann.
Gegensätze vereinen
Integrales Denken ist kreativ. Es ist in der Lage, Probleme, die auf der rationalen Ebene unlösbar erscheinen, auf einer höheren Ebene zur Lösung bringen. Wie lässt sich beispielsweise der Widerspruch zwischen dem Überfluss in den Ländern des Nordens und der Armut in den Ländern des globalen Südens auflösen? Wie passt das Lebensrecht der menschlichen Spezies mit dem Lebensrecht aller anderen natürlichen Wesen zusammen? — Aktuelle Probleme wie diese „ drängen uns dazu, uns auf eine Ebene oberhalb von uns selbst hinaufzubemühen“, so der britische Ökonom Ernst Fritz Schumacher (1911-1977).
„Die Probleme verlangen nach Kräften einer höheren Ebene und können sie gleichzeitig hervorrufen.“ Aber der ganze Einsatz unserer Persönlichkeit ist dazu nötig, so Schumacher, „unser ganzer Wille und die Kraft der Liebe, die gleichzeitig das Potenzial dieser höheren Ebene darstellt“ (6).
Dialogisch werden
Integrales Denken ist dialogisch. Es begegnet dem andern als einem „Du“, nicht als einem „Es“, mit einem wirklichen Interesse an seiner Person, nicht mit der Frage: Wie kannst du mir nützlich sein? Interesse kommt vom Lateinischen inter esse, „dazwischen sein“. Wenn ich ein Stück weit aus mir selbst heraustrete und mich für den anderen, für sein tieferes Wesen, seine Besonderheit öffne, kann etwas zwischen uns treten, das mehr ist als die Addition von uns beiden: die Erfahrung von Verbundenheit in Verschiedenheit, von Einheit in Differenz.
Advent — was will auf uns zukommen?
Zukunftsfähig werden heißt, sich der Zugkraft der neuen, integralen Bewusstseinsebene zu öffnen. Zukunftsfähigkeit braucht damit die adventische Empfänglichkeit, den Adventus-Strom der Zukunft. In christlicher Tradition ist die Adventszeit eine Fastenzeit. Durch Verzicht auf Gewohntes und Reduzierung äußerer Reize soll der Fokus nach innen gelenkt werden und ein Raum der Stille entstehen (7). In diesem Potenzialraum des Geistes, kann sich etwas zeigen, das — obwohl der Zeit enthoben — im Jetzt gegenwärtig werden kann. Der Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) nennt es die Zukunft, „die sich aus sich selbst heraus zeigt“, und die uns braucht, um durch uns verwirklicht zu werden (8).
Adventlich werden, heißt zukunftsfähig werden. Es beginnt, wenn ich aus der Trance meiner Routinen und Gewohnheitsmuster aufwache, meine Wahrnehmung ent-automatisiere und offen werde für das Neues, das in die Welt kommen will.
Zukunftsfähigkeit wird dann erlebbar als eine wirksame Kraft, die Verhärtungen aufbricht, taub und gefühllos Gewordenes berührbar macht, Erstarrtes in Bewegung bringt und wieder einmünden lässt in den Fluss des lebendigen Seins.
Folgende Verse aus Leonard Cohens Lied Anthem können eine Ahnung davon geben, was es heißt, adventlich und damit zukunftsfähig zu werden (9):
Forget your perfect offering.
There is a crack, a crack in everything,
That’s how the light gets in.
Umschreiben lässt sich der Text vielleicht so: Höre auf, zu funktionieren! Höhere auf, im immer gleichen Trott weiterzumachen. Höre auf, Dich anzupassen, ganz vorne mithalten zu wollen in einem System, das Dich kaputt macht. Vergiss Dein perfektes Angebot. Mach einen Punkt und finde heraus, was „du“ willst, was für dich stimmt. — Das Bestehende ist brüchig geworden. Das Gewohnte trägt nicht mehr. Aber an den Bruchstellen des Alten, da wo es nicht mehr weitergeht, wo alles zusammenzubrechen droht, persönlich oder gesellschaftlich, da bricht das Licht durch. Da scheint das Neue, das Zukünftige auf.
Quellen und Anmerkungen
(1) https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/brundtland_report_563.htm
(2) Kurt, Hildegard (2017): Die neue Muse. Versuch über die Zukunftsfähigkeit. Klein Jasedow. Drachen Verlag GmbH, Seite 91 bis 94.
(3) Zu den evolutionären Systemwissenschaften gehören unter anderem die Allgemeine Systemtheorie von Ludwig von Bertalanffy, die Theorie sich selbstorganisierender Systeme von Erich Jantsch und die Ungleichgewichts-Thermodynamik von Ilya Prigogine.
(4) Wilber, Ken (1996): Eros, Kosmos, Logos. Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend. Frankfurt am Main. Wolfgang Krüger Verlag, Seite 217 bis 242.
(5) Gebser, Jean (1986): Ursprung und Gegenwart, Band1. Schaffhausen. Novalis Verlag, Seite 60 bis 69 und 164 bis 172.
(6) Schumacher, Ernst Fritz (2001): Small ist Beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Bad Dürkheim. Stiftung Ökologie & Landbau, Seite 87 und folgende.
(7) Weihnachten steht ursprünglich für eine mystische Erfahrung. Erst in der volkstümlichen christlichen Tradition verflachte das Fest zu einer Gedenkfeier an die „Geburt des Retters und Erlösers Jesus Christus“.
(8) Buber, Martin (1983): Ich und Du. Stuttgart. Philipp Reclam jun. GmbH, Seite 58.
(9) Cohen, Leonard, (1992): „Anthem“
Ich danke Ihnen, Frau Geilenbrügge, für Ihre guten Worte, Reflexionen zum Advent. Ihre letzte Aussage lässt mich gedanklich weiterschweifen. Bibisch gesehen ist Advent die Zeit des Hoffens auf den, der da kommen werde, auf die Geburt Jesu, die wir Christen jedes Jahr erneut feiern. Damit verbunden sind die Weihnachtsfeiern im Büro, Weihnachtsfeiern im Verein, Wichteln unter Freunden, geselliges Glühwein trinken auf dem hübsch beleuchteten Weihnachtsmarkt und zum Schluss das große Finale, das Weihnachtsfest in der Familie. Wir könnten alle glücklich und zufrieden sein, wir schauen Weihnachten entgegen, dem Fest der Versöhnung und der Liebe, mit unserer Familie, vielleicht als Bonbon noch mit dem schwungvollen Weihnachtsoratorium von Bach, auf jeden Fall mit dem obligatorischen Gänsebraten, Klößen und Rotkohl. So schauen wir glückselig den weihnachtlichen Feiertagen entgegen.
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Das ist die eine Seite, die Seite des gut situierten Durchschnitts Deutschen. Doch was ist mit den anderen? Mit den von Konstantin Wecker so viel besungenen seitlich umgeknickten? Was bedeutet Advent für sie? Welche Hoffnungen tragen sie in sich? Haben sie Anlass zur Hoffnung?
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Ich kenne Menschen, für die Weihnachten zu einer Qual wird. All das Gedudel im Radio, auf den Straßen, all der Rummel auf dem Weihnachtsmarkt. Erst jetzt wird ihnen bewusst, wie einsam sie sind. Keine Familie wartet auf sie, kein Festbraten, ja, noch nicht einmal ein Glühwein war für sie drin. Ich spreche von all jenen, die durch unser doch so “gutes und engmaschiges” soziales Netz einfach durchgefallen sind. Es reicht schon eine Krankheit im Leben aus, ein Schicksalsschlag oder, oder oder. Es gibt viele Gründe, die einen Menschen im Leben straucheln lassen. Irgendwann, ein Advent der ganz anderen Art, steht “Harz IV vor der Tür, oder die Grundsicherungsrente und mit ihr verbunden all die vergeblichen Bemühungen, da wieder rauszukommen.
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Was ist mit all jenen Menschen, die aufgrund ihrer Armut am gesellschaftlichen Leben nicht mehr teilhaben können, die dadurch nach und nach sozial vereinsamen? Wer kümmert sich um sie?
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Rilke kannte die Kälte der Einsamkeit und des Darbens. Lange lebte er asketisch und zurückgezogen in einer Hütte in der Schweiz. Viel Geld hatte er zeitlebens nicht, Aufgrund seiner schleichenden Krankheit musste er regelmäßig ein Sanatorium aufsuchen. Es ist zu vermuten, das folgendes Gedicht in dieser Zeit entstanden ist. “Einsamkeit ist wie ein Regen” schrieb er über seinen eigenen Seelenzustand. Es lässt uns verstehen…
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https://youtu.be/I0YtHGC3WOY
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…wer kümmert sich um sie? Vielleicht sollten wir all unsere Bemühungen, noch in den letzten Tagen großartige Geschenke zu kaufen, an den Nagel hängen und besser das tun, was so nahe liegt: unser Ohr und unsere Aufmerksamkeit all jenen schenken all jenen, die dieser Tage mit der Trauer und Einsamkeit zu kämpfen haben. Geteilt schmeckt übrigens ein Gänsebraten viel besser, als allein verspeist.