Uwe und die junge Frau Maria (2/3)

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

Uwe ist ein geistig behinderter junger Mann, ausgestattet mit einer wuchtigen Statur und einem sanften Gemüt. Der Erzähler dieser Geschichten-Reihe nahm ihn bei sich auf, nachdem die Städtische Behinderten-Einrichtung aus Kostengründen geschlossen worden war. Uwe betrachtet die Veränderungen, die sich seit einigen Jahren in unserem Lebensumfeld vollziehen, mit einem ganz eigenen, unverstellten Blick und reagiert gesünder auf sie als so mancher „Normale“. In dieser Geschichte lernen wir Uwes religiöse Neigung kennen – und erfahren, wie sich auch Religion den Effizienz-Erfordernissen einer globalisierten Welt anzupassen hat. Erster Teil der Geschichte hierRoland Rottenfußer

„Morgen in die Kirche“ gehen – das sagt sich zu leicht. Ein solches Unternehmen ist mit erheblichen Kosten verbunden, die für Uwe und mich nicht so einfach zu tragen sind. Die Bürgersteigmaut: 12,50 Euro für jeden, wie der Maut-Calculator einer bekannten Suchmaschine ausgerechnet hat – ein praktisches Werkzeug, bei dem man Ausgangs- und Endadresse eingeben kann und nach kurzer Wartezeit Auskunft über die zu bezahlende Maut bekommt. Übrigens jetzt offiziell Bürger*innensteigmaut.

Zur Bürger*innensteigmaut hinzuzurechnen auch noch das Eintrittsgeld für die Kirche selbst. Dieses ist in allen Struntz-Churches obligatorisch – also Kirchen, die nach der ersten Kirchen-Privatisierungswelt von der StruntzTech-Tochter ChurchBiz – übernommen wurden. Dann die Gebühren zum Anschalten der Beleuchtung, um die Statue der Jungfrau Maria überhaupt anschauen zu können. Geld für die Kerzen, das waren vor Jahren mal 2 Euro pro Kerze, mutmaßlich haben die Preise aber inzwischen angezogen. Und eventuell Geld für den Klingelbeutel, der während des „Herr ich bin nicht würdig…“ unter den Gläubigen herumwandert, falls wir zum Gottesdienst bleiben. Dann noch für den Klingelbeutel am Ausgang – und unvorhersehbare Zusatzkosten, die man vorsichtshalber immer einplanen sollte, wenn man sich außer Haus begibt. Strafen etwa, wie sie bei anlassunabhängigen Personenkontrollen immer anfallen können. 30 Euro pro Person können also leicht zusammenkommen (Strafen nicht eingerechnet).

Das macht für Uwe und mich zusammen 60,-, und wir sind nicht gerade gut bei Kasse in letzter Zeit. Als Journalist macht es mir zunehmend Mühe, die Abdruckgebühren in den Magazinen zu bezahlen, für die ich schreibe. Die verlangen jetzt oft schon 1,25 pro Zeile, und 60 Zeilen sind schnell zusammengeschrieben, wenn man ein Thema etwas vertiefen will. Meine Freunde, Uneingeweihte in die Zustände im zeitgenössischen Journalismus, fragen dann immer ganz naiv: „Warum schreibst du denn dann überhaupt für die, wenn die dich so abzocken? Eigentlich sollten die doch dir was zahlen, dafür dass du ihnen deine Artikel zur Verfügung stellst.“ Ja, im Prinzip ist das richtig und gut gemeint. Aber erzähl das mal einem heutigen fest angestellten Redakteur. Der lacht dich nicht einmal mehr aus, wenn du mit so einem Vorschlag kommst; er antwortet einfach nicht auf deine Mail und streicht dich aus dem Pool in Frage kommender Journalisten.

Wenn du aber länger nicht mehr in einem der Magazine zu lesen bist, bist du raus aus dem Geschäft. Du gerätst in Vergessenheit. „Publish or vanish!“ heißt die Branchenregel. Und immerhin bedeutet so eine Veröffentlichung eine – wenn auch winzige und gegen Null gehende – Chance, dass dich ein wichtiger Redakteur oder Lektor entdeckt und dir einen der begehrten Pay-Aufträge gibt. Oder gar eine Festanstellung im äußersten, wenn auch extrem unwahrscheinlichen Fall. „Träum weiter!“, sagen erfahrene Freiberufler, wenn ich ihnen von solchen Hoffnungen erzähle. Pay-Aufträge sind ein aussterbendes Phänomen. Aber egal – wenn ich es versuche, habe ich eine winzige Chance, versuche ich es nicht, habe ich gar keine. Aufzubringen sind also nicht nur die allgemeinen Lebenshaltungskosten für Uwe und mich, was an sich schon schwer genug ist, sondern auch die Kosten, die anfallen, um meine Auftraggeber für die Auftragvergabe zu bezahlen.

„Junge Frau Maria!?“, fragte mich Uwe alle paar Meter ungeduldig, als wir uns auf einem mautpflichtigen Bürgersteig der Kirche „Mariä Heimsuchung“ näherten. „Ja, Uwe, wir müssen bald da sein. Es kann nicht mehr lange dauern.“ Ich kannte den Weg noch von früher aus meiner Firmungszeit, als Kirche für mich emotional durchaus noch mit positiven Assoziationen verbunden war. Ich hätte „Mariä Heimsuchung“ dann allerdings fast nicht wiedererkannt, als wir auf dem groß angelegten Heimsuchungsplatz ankamen. Früher standen dort ein paar wunderschöne Lindenbäume. Süß geduftet hätten sie jetzt, im Juni. Die Linden waren schon im letzten Jahr abgeholzt worden. Ein hoher Absperrzaun verstellte die Sicht auf die Kirche, von der gotischen Turmspitze abgesehen, die man hochschauend noch mit Not erkennen konnte. Eine Schlange vor dem Kassenbereich deutete auf längere Wartezeiten und gestiegene Eintrittspreis hin.

„Junge Frau Maria!“, maulte Uwe, nun ungeduldig geworden. „Ja, Uwe, gleich sind wir drin, wir müssen nur hier der lieben Kassiererin den Eintritt zahlen. Es kostet Geld, die Kirche immer zu putzen und schön zu machen. Deshalb haben die liebe Kassiererin und der liebe Pfarrer entschieden, dass sie die Besucher an den Kosten beteiligen.“ Natürlich war diese Erklärung viel zu kompliziert für Uwe. Er fügte sich drein, und wir studierten die Eintrittspreise, die nach Leistungsumfang gestaffelt waren: Zutritt zum Kirchplatz 4 Euro, Kirchplatz und Kircheninnenraum: 10 Euro, Eintritt ins kleine Kirchenmuseum, Turmbesteigung, Beleuchtungszuschlag für die Fresken, Elektronische Führung mit Headset, Betreten des Altarvorraums usw. Ich kaufte für Uwe und mich vorerst die Minimalvariante: Vorplatz, Kircheninnenraum und Beleuchtungszuschlag. Wir waren mit 13 Euro pro Person dabei, womit mein geplantes Budget schon jetzt überschritten war. Aber ich konnte mit Uwe nicht ernstlich jetzt umkehren, ohne dass er einen Blick auf die junge Frau Maria geworfen hätte.

Ein Mütterchen in der Schlange beschwerte sich heftig: „Ich will doch nur beten gehen“, lamentierte sie. „Man muss doch in eine Kirche einfach zum Beten reingehen können! Es ist doch ein Gotteshaus. Ich hab mein Leben lang meine Kirchensteuer bezahlt, und jetzt wollt ihr Geld, wenn ich das Haus Gottes betret!?“

„Ich bekomme von Ihnen 10 Euro Minimum, oder Sie verlassen bitte den Kassenbereich“, beschied die Kassiererin dem Mütterchen – sachlich aber in einem sehr bestimmten Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. Einige der Wartenden ergriffen entschlossen die Partei der Kassiererin und drängten die alte Frau zischend und schimpfend in Richtung Ausgang. „Umsonst ist der Tod“, hieß es. Oder: „Halten Sie doch den Betrieb nicht auf!“

Reiseführer loben an der spätgotischen Fassade von Mariä Heimsuchung vor allem die vollendete Harmonie der Proportionen, die Art wie sich Spitzbögen, Rosetten, Figürchen und andere Elemente wiederholten – gleichermaßen in den großen wie den kleinen Formen. Ausdrucksvolle Heiligenfiguren säumten die Nischen: Franziskus, Elisabeth, Johannes vom Kreuz, Theresa von Avila. Man hätte die Namen alle nachlesen können in den Kirchenbroschüren, die Uwe und ich uns ohnehin nicht leisten können. Die Heiligen zeigten melancholische, wie versunken wirkende Gesichter und Augen, die sehnsuchtsvoll gen Himmel gerichtet waren. Körper, die über ihren Sockeln zu schweben schienen, spärliche Gesten ohne die Theatralik späterer Barock-Figuren.

Ich erinnerte mich an all das noch von früheren Besuchen her, denn als ich mit Uwe den Vorhof betrat, war die Fassade komplett von großen Bannern mit Werbung für die Produkte des global operierenden Sülze-Hersteller „Glibby“ behängt. Der Konzernriese StruntzTech hatte mit Glibby in den vergangenen Monaten eine regelrechte Massenhysterie ausgelöst. Eine aufwändige Werbekampagne hatte das Produkt aus Fleischstücken, Fett, Knochen und gelierter Fleischbrühe binnen kurzem zu einem unentbehrlichen Lifestyle-Accessoire gemacht, zu dem sich jeder bekannte, der dazugehören wollte.

Allen voran die Sex-Ikone Vicky Bolero, die auf jedem der Banner mit laszivem Blick einen Löffel voll Sülze zwischen ihre üppigen, rotlackierten Lippen schob. In einer Sprechblase, die aus Vickys Mund zu kommen schien, der Slogan: „Glibbern Sie schon oder vegetieren Sie nur?“ – eine unmissverständliche Abgrenzung auch vom längst überwundenen Modetrend der vegetarischen und veganen Ernährung.

Es gab das Motiv in vier Varianten: Glibby Classic, Glibby Bloody (mit Blutwurst), Glibby mit extra viel Bauchspeicheldrüse und Glibby – jetzt neu: mit Eichhörnchenfleisch. Kritiker, etwa die seit Jahren auf verlorenem Posten kämpfende IIW (Independent Idealist Website) hatten nachgewiesen, dass Glibby nur ein Trick des Struntz-Konzerns war, um Schlachtabfälle profitträchtig zu vermarkten. „Das spart die Kosten für Müllverbrennung – jetzt landet der ganze Dreck in den Mägen der Verbraucher“, hatte der Journalist Ronald Redlich gespottet, bevor ihn der Konzern mit Unterlassungs- und Verleumdungsklagen ruinierte und faktisch aus dem Verkehr zog. Der Konzern parierte die Angriffe der Alternativpresse seither mühelos durch eine nochmals verstärkte Werbekampagne. Mittlerweile ist die Sülze, die man bequem wie Joghurt aus halbkugelförmigen Plastikbechern löffeln kann, allgegenwärtig.

Ich habe Uwe einmal, weil das Produkt preisgünstig ist, eine „Glibby Classic“ zu essen gegeben. Diesen Versuch habe ich dann nicht mehr wiederholt, weil mein Freund die erfolgreichste Lebensmittel-Neuentwicklung unserer Zeit unmittelbar nach dem Verzehr auf den Wohnzimmerboden erbrach. Ich selbst habe es gar nicht erst versucht, ich mochte Sülze nie. Auffällig war, dass mich immer mehr Menschen aus meinem Bekanntenkreis in letzter Zeit mit ergriffenem Blick auf Glibby ansprachen. Zunächst äußerten diese Menschen nur Verwunderung darüber, dass ich dieses Produkt, das buchstäblich in aller Munde war, nicht goutierte. Zunehmend wurde ich dann aber Opfer von mit erbitterter Miene vorgetragenen Anwürfen („Das isst doch heute jeder – hältst du dich etwa für was besseres?“). Gelegentlich traf mich auch mit geheucheltem Mitleid getränkter Spott („Naja, es gibt eben Leute, die wollen partout kulinarisch in der Steinzeit bleiben!“). Ursache für dieses zunehmend gereizter werdende Meinungsklima war vielleicht auch die zweite, sehr effiziente Werbekampagne für das Produkt, in der es z.B. hieß: „Glibby-Verweigerer sind Spaßbremsen“ oder – ausgesprochen von der verführerischen Vicky Bolero: „Glibby-Muffel küss ich nicht.“

Die vier senkrechten Werbebanner also verdeckten die Heiligenfiguren und große Teile der Fassade vollständig. „Eiiin Eiich-hörn-chn!!!“ stieß Uwe begeistert hervor und zeigte ergriffen auf das vierte Banner, das vor Theresa von Avila hing und unterhalb von Vickys Bild einen im Cartoon-Stil gezeichneten, vorwitzig hinter dem Sülzebecher hervorlugenden Nager zeigte. „Ja, Uwe, ein Eichhörnchen“, sagte ich und zog Uwe zum Portal, um ihm nicht ausführlich erklären zu müssen, in welchem Zusammenhang sein Lieblingstier mit besagtem Produkt stand. Wir öffneten die schwere, üppig mit Schnitzwerk bedeckte Tür und traten ein.

Unsere Augen gewöhnten sich nur langsam an das Halbdunkel der Kathedrale. Zum Glück wusste ich genau, wo die Jungfrau Maria zu finden war: letzter Seitenaltar rechts. Unter den Augen einer großen Überwachungskamera, die unseren Schritten surrend folgte und erst von uns abließ, als wir in den Sichtbereich einer zweiten Kamera gerieten, gingen wir weiter. Dröhnende Orgelklänge umspielen eine Melodie, die mir bekannt vorkam. Ich konnte sie zunächst schwer zuordnen, bis mir einfiel, dass es sich um die Melodie zum allgegewärtigen Werbeslogan „Struntz – Spaß und Effizienz für uns!“ war. Von den Kirchenbänken links von uns hörte man das Gemurmel einiger Mütterchen. Statt der bekannten Gebete klangen aber fremde Worte zu uns herüber. Ich meinte, „Erfolg“, „Personalkosten“ sowie den Namen „Struntz“ zu verstehen, tat das Ganze aber als akustische Halluzination ab.

Zu sehen war auf dem Weg zum Marienaltar ohnehin nicht viel. Ein Seitenaltar war – ausgestattet mit einer Tiefkühltruhe – zum Glibby-Verkaufsstand umfunktioniert worden, vor dem sich die Besucher drängelten. Ein anderer versprach Sofort-Kreditverträge. Hier wurde ich doch hellhörig und hielt kurz an, um den Verkäufer – selbstverständlich mit sehr vorsichtigen Worten – zu fragen, was Kredite denn in einer Kirche zu suchen hätten. Ungerührt spulte der Mann eine Litanei auswendig gelernter Erklärungen ab. Die Kredite könnten helfen, die Zusatzkosten zu finanzieren, die für das Betreten nicht öffentlich zugänglicher Bereiche der Kirche fällig wurden, für Souvenirs, Ansichtskarten, die allfälligen Glibby-Großpackungen sowie den kostenpflichtigen Download einer Church-App, die, wenn man das Smartphone auf einen bestimmten Kunstschatz richtete, Erklärungen dazu auf dem Display einblendeten. „Blöder Mann!“, sagte Uwe und zog mich weiter in Richtung der ersehnten Marienstatue.

Inzwischen musste der Gottesdienst begonnen haben. Nach einem Eingangslied begann eine Lesung, und ich dachte mit Schrecken daran, wie Uwe vor Monaten die einzige Messe, die ich bisher mit ihm besucht hatte, platzen ließ. Es war Gründonnerstag, und der Priester berichtete in leiernden Gesängen von der Schlachtung unzähliger Lämmer, deren Blut dann von den Heldinnen und Helden der Geschichte auf den Türstöcken verschmiert wurde. Keiner der Gottesdienstbesucher schien im Geringsten Anstoß an der Geschichte zu nehmen. Ihre Mienen drückten entweder gleichgültige Hinnahme von etwas sattsam Bekanntem oder großäugig-ergriffene Zustimmung aus. Uwe aber brach auf einmal in ein lautes Schluchzen aus, das keine Beruhigungsversuche von meiner Seite zu bremsen vermochten. „Arme, arme Lämm-chn!“ bracht es aus ihm hervor. „Könn die doch nich einfach machen – arme Lämm-chn schlachtn!!“ Uwe mochte Lämmchen fast so gern wie Eichhörnchen.

Die Besucher warfen böse Blicke in unsere Richtung und zischten: „Ruhe!“. Der Pfarrer nahm sich dann sogar – was ich ihm hoch anrechne – die Zeit, zu uns zu kommen, Uwe behutsam den Arm um die Schulter zu legen und zu flüstern: „Aber guter Mann, sehen Sie, es war doch Gott selber, der den Israeliten befohlen hatte, die Lämmer zu schlachten.“ Dann fügte er noch hinzu, dass Gott damals ganz dringend alle erstgeborenen Kinder der Ägypter habe töten müssen. Da er ein gnädiger Gott sei, habe er aber den Wunsch gehabt, die Kinder der Israeliten zu verschonen, und wo ein Israelit gewohnt habe, sei eben an dem verschmierten Lammblut an der Türschwelle eindeutig zu erkennen gewesen.

Diese Erklärung löste jedoch einen noch heftigeren Weinkrampf Uwes aus. „Arme, arme Kind-chn!“ und dann lauthals mit einem zornigen Blick in Richtung des Pfarrers: „Blöder Gott!!!“ Das war zu viel. Die Church Security beförderte uns hochkant aus der Kirche hinaus. Ich hatte hernach Mühe, Uwe zu erklären, dass Gott selbstverständlich lieb sei, dass ihn blöde Menschen nur missverstanden hätten. Der richtige Gott habe alle Lämmchen und auch Kinder lieb und es sei ihm wichtig, sie vor allen Gefahren zu schützen.

Einen solchen Auftritt versuchte ich diesmal zu vermeiden und ich drängte Uwe, rasch weiterzugehen. Als wir am Altar der wundertätigen Marienstatue angekommen waren, dachte ich zunächst, ich sei verkehrt. Eindeutig war es aber die letzte Altarnische rechts, der Seitengang endete hier. Man konnte nur noch links in einen schmalen Zwischenraum ausweichen, der die vorderste Kirchenbank von den Stufen zum Hauptaltar trennte. Zwar war unterhalb des Platzes, wo Maria sonst stand, noch immer eine beeindruckende Anzahl von brennenden Teelichtern zu erkennen; die Gottesgebärerin selbst war jedoch aus der Nische verschwunden. An ihrer Stelle hing die etwa zwei Meter hohe Fotografie einer älteren Dame.

Offensichtlich handelte es sich um eine Frau aus der „Upper Class“. Man konnte es an Kleidung, Schmuck und der reichlichen Kosmetik erkennen, die sie aufgetragen hatte: violetten Lippenstift auf ihrem schmalen, durch die senkrechten Falten verkniffen wirkenden Mund. Unter der grauen Kurzhaarfrisur blickten intensiv leuchtende Augen den Betrachter herausfordernd an. Es war jedoch ein kalter Glanz, der aus diesen Augen kam, nichts von der gütigen Milde und in sich versunkenen Verschwommenheit, wie man es von Marienstatuen kannten. Ja, mit etwas Fantasie konnte man aus diesem Blick sogar etwas wie einen Vorwurf gegen den Besucher herauslesen, so als wolle die Dame sagen: „Du bist nicht gut genug, um unter meine Augen zu treten“ oder: „Zeig erst mal, was du draufhast!“

„Adelgunde Struntz, die Mutter unseres verehrten Sponsors Eugen Struntz“, erklärte eine Besucherin, die die Ratlosigkeit auf unseren Gesichtern wohl bemerkt haben musste. Fast lag im Tonfall der noch ziemlich jungen, gut gekleideten Dame ein Vorwurf. Spöttisches Erstaunen darüber, dass uns das Bildmotiv nicht – wie jedem anständigen Menschen – ohnehin bekannt war. Die Frau entzündete mit Sorgfalt ein neues Teelicht an einem schon brennenden und platzierte es an einer freien Stelle auf einem der dafür bestimmten kupfernen Balken.

Ich vernahm das Rascheln eines Geldscheins im Schlitz des Opferstocks und ein gemurmeltes Gebet: „Gegrüßet seist du, Adelgunde, voll der motivierenden Appelle an unsere Eigenverantwortung. Der Profit ist mit dir. Gesegnet bis du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes, Eugen. Wettbewerbsfähige Adelgunde, Mutter des Erfolgs, bitte für uns Ineffizienten jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Die Frau streifte uns noch einmal mit einem ergriffenen Blick und ging weiter.

Ich erinnerte mich nun auch an einen Artikel über Adelgunde Struntz, den ich im Wachstums-Magazin gelesen habe. Dieses lag seit jeher in unserer Stadtbücherei aus (ein Abonnement hätten wir uns ja nie leisten können). „Mutter des Erfolgs“ war der Artikel tatsächlich betitelt – was wohl auf das schon damals unter Gläubigen verbreitete Gebet Bezug nahm. Beschrieben wurde die harte, aber äußerst effiziente Erziehung, die die resolute Frau ihrem Sprössling angedeihen ließ – mit dem Ergebnis, dass er im Feuer beständiger korrigierender Einwürfe zu dem stählernen Willensheroen des Big Business geschmiedet wurde, als den wir ihn heute kennen. „Keine Entschuldigungen!“ sollte zu ihren Erziehungs-Mantras gezählt haben. Und: „Es liegt an dir“. Besonders brachte es aber ihr Satz „Es sind deine Entscheidungen, die dein Leben bestimmen“ zu großer Popularität weit über den Kreis der Struntz-Familie hinaus.

Adelgunde soll ihren Sohn schon mit fünf dazu gezwungen haben, kleine Gegenstände, die er zerbrochen hatte, aus seinem eigenen spärlichen Taschengeld zu ersetzen – mit Zins und Zinseszins, wie sie in einem Interview mit einigem Stolz betonte. Dadurch lernte der Bub schon früh das eherne Gesetz der Eigenverantwortung und der unerbittlichen Konsequenz des eigenen Handelns kennen, dem man sich nicht durch fadenscheinige Ausflüchte – man sei noch ein Kind oder ähnliches – entziehen konnte. Auch wurde Eugen auf diese Weise schon im Vorschulalter mit dem segensreichen Wirken der Zinsdynamik vertraut gemacht.

Einmal in die Schuldenfalle geraten, aus der er sich nur durch einen langwierigen und quälenden Prozess des Abstotterns befreien konnte, erwachte in ihm der brennende Wunsch, sich diese Dynamik dermaleinst selbst zunutze zu machen und den Zinseszinseffekt nur noch aus der Gewinnerperspektive zu betrachten. So begann Eugen, auf dem Schulhof mit Blutwurstscheiben belegte Semmeln mit einer Gewinnspanne von 200 Prozent zu verkaufen, was von Klassenkameraden, die kein Pausenbrot mithatten, gern angenommen wurde. In der zweiten Phase stellte er dann Mitschüler als Subunternehmer ein, ließ diese die Blutwurstsemmeln belegen, in den Pausen für sie werben, das Geld einkassieren und 80 Prozent davon an ihn abgeben.

Als Abiturient hatte sich Eugen Struntz nicht nur einen für sein Alter phänomenalen Kontostand erarbeitet, er hatte einen Strukturvertrieb mit dem klingenden Namen „Call-a-Blutwurstsemmel“ am Laufen. Dabei musst er sich nicht einmal mehr um das Anwerben neuer Mitarbeiter selbst kümmern, weil dies von seinen Subunternehmern erledigt wurde, die ihrerseits bei ihren Sub–Subunternehmern abkassierten. Um sich noch mehr Sachverstand in Finanzfragen anzueignen, ging Struntz zunächst bei einer großen Investmentbank in die Lehre, bevor er aus bescheidenen Anfängen das Sülze-Imperium erschuf, mit dem sein Name heute unauflöslich verbunden ist.

Mutter Adelgunde begleitete diesen Weg mit aktivierendem Wohlwollen, einer Form spärlich dosierten Lobes, das nie so weit ging, dass Erschlaffen drohte. Nie schlief in dem Buben der Stachel eines beständigen inneren Antriebs zu noch mehr Erfolg und Gewinn, um der doch niemals uneingeschränkt gewährten Gunst der Mutter wenigstens einen Schritt näher zu kommen.

Besagte Adelgunde Struntz also, die in Business-Kreisen schon lange einen exzellenten Ruf genoss, nachdem sie einen großen Hedgefond ihres früh verstorbenen, wesentlich älteren Gatten im Alleingang zu noch höheren Profit-Höhen geführt hatte, genoss mittlerweile bei den Gläubigen der Struntz-Churches den Status einer Heiligen. Mit Begeisterung ergriffen die Menschen die Gelegenheit, ein zeitgemäßes Idol an die Stelle der verstaubten Heroinnen und Heroen von vorgestern zu setzen.

Ich sah durchaus ein, dass sich die Zeiten ändern konnten und sogar mussten, nahm aber doch an, dass eine Figur wie die Jungfrau Maria, die zum essentiellen Personal der christlichen Leitkultur gehörte, an anderer Stelle in der Kirche untergebracht und leicht zu finden sein musste. Uwe war inzwischen ungeduldig geworden, zupfte an meiner Jacke und insistierte: „Junge Frau Maria!“ Ich versuchte ihn, so weit das bei seinem begrenzten Auffassungsvermögen möglich war, über die Person Adelgunde Struntz aufzuklären. „Blöde Dlgundä!“, stieß er angewidert hervor und warf dem Bildnis einen grimmigen Blick zu. „Junge Frau Maria viel lieber!“ Uwe hatte in manchen Fragen einen untrüglichen Instinkt. Auch mir war die strenge Adelgunde nicht so recht sympathisch.

Es war also an der Zeit, sich auf die Suche nach der Marienstatue zu machen. Ich sprach den ersten Fremden an, der sich aus dem Schatten eines schlanken Pfeilers löste und uns mit herausforderndem Blick entgegentrat. Der schwarz gekleidete, kleinwüchsige Herr hatte die Gesichtsform einer auf der Spitze stehenden Birne – ähnlich dem berühmten Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch. Daraus blitzte uns konzentrierte Großäugigkeit unter buschigen Brauen an. Wie als ob er unsere Frage geahnt hätte, deutete der Mann stumm auf eine kleine, sehr enge Treppe, die hinter der Säule in engen Windungen in die Schwärze hinabführte. „Krypta“ stand auf einem eher improvisiert wirkenden, handbeschriebenen Holzschild, das in krassem Gegensatz zur Hochglanzästhetik anderer Kirchenbereiche stand.

„Danke“ sagte ich nur und folgte unserem Unterweltführer in die Tiefe.

 

In der nächsten Folge der Serie erfahrt Ihr morgen: Was Uwe in der Krypta erlebte. Wird er endlich wirklich die Statue der jungen Frau Maria finden?

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