Vater/Mutter unser

 In Roland Rottenfußer
Bestimmt sieht er haargenau so aus...

Bestimmt sieht er haargenau so aus…

Das aramäische Vaterunser, also die Sprache, in der Jesus wirklich redete, enthüllt ganz andere Bedeutungsnuancen des wichtigsten Gebets der Christenheit. Gott weist keine Schuld zu, er führt niemanden vorsätzlich in Versuchung, und vor allem: Er ist kein «Er». (Roland Rottenfußer)

Manche Irrtümer halten sich hartnäckig und besitzen die Kraft, das kollektive Bewusstsein ganzer Völker über Jahrtausende zu verdunkeln. Übersetzungsfehler oder – was die Sache besser trifft – einseitige Übersetzungen, die dann durch verzerrte Wahrnehmung noch weiter verfälscht wurden, haben in der Geistesgeschichte schon viel Unheil angerichtet. Denken wir nur an den berühmtesten Satz des Islam: «La Illaha il’Allah», meist übersetzt mit: «Es gibt keinen Gott ausser Allah». Fanatiker können das so übersetzen: «Unser Gott ist der einzige, also sind alle anderen Götter falsch, sind auch die Religionen, die darauf basieren Irrlehren». Neulich las ich in einem Aufsatz des Tiefenökologen Georg Dehn folgende Übersetzung: «Es gibt nichts, was nicht zugleich alles ist.» Klingt schon anders. Eigentlich scheint der Satz zu meinen: «Gott ist in allem gegenwärtig. Es gibt keinen Bereich der Schöpfung, wo er nicht wohnt – keinen Stein, keine Pflanze, kein menschliches Herz.»

Möglich, dass der Satz zweideutig ist, und auch dies bedeutet: «Allah ist die einzige Gottheit, glaubt nicht an die Götzenbilder anderer Religionen.» Im historischen Kontext eines Flickenteppichs naiver religiöser Kulte im vorderen Orient wäre diese Aussage Mohammeds verständlich. Die eine Übersetzung schliesst aber die andere nicht aus. Die Genialität bedeutender Verfasser liegt ja gerade in der intuitiv erzeugten Vieldeutigkeit, die die Nachwelt zu immer neuen Deutungsversuchen anregt.

Das Vaterunser nun hat durch einseitige Übersetzung zu einem ähnlich tendenziösen Verständnis geführt. Dem Forscher NeilDouglas-Klotz zufolge liegt das vor allem daran, dass lange Zeit die griechische Übersetzung des Neuen Testaments als die massgebliche galt. Das Griechische transportiert aber – verglichen mit dem Aramäischen, der ursprünglichen Sprache Jesu – eine ganz andere Mentalität, ein anderes Bewusstsein. Die Sinnverzerrung liegt also schon im Ursprung des organisierten Christentums.

Wenn man die Einseitigkeiten des heutigen deutschen Vaterunsers (geprägt durch die Übersetzung Luthers) nochmals überspitzt ausdrückt, könnte man das Gebet ungefähr so verstehen:

– Gott ist ein Mann
– Sein Wohnort ist der Himmel, auf der Erde ist er also nicht gegenwärtig
– Heilig ist lediglich sein Name, also das Wort „Gott“
– Irgendwann mal in ferner Zukunft, wird er sein Reich auf Erden gründen, in der Gegenwart ist er also nicht präsent
– Er ist ein strenger Patriarch, der Wert darauf legt, dass sein Wille exekutiert wird
– Er sorgt dafür, dass des Menschen Bauch satt wird, nicht aber seine Seele
– Er wirft dem Menschen ständig dessen Schuld vor, so dass man ihn um Vergebung anflehen muss
– Er kreiert quasi heimtückisch Versuchungen, um sich dann darüber zu beschweren, dass wir ihnen erliegen
– Er ist ein etwas kraftmeierischer, prunksüchtiger Himmelskönig, dem man beständig Honig um den Bart schmieren muss, damit er uns gewogen bleibt.

Auch konservative Theologen wissen zwar, dass das nicht die wahre Bedeutung des Vaterunsers ist, das Gebet kann aber so verstanden werden, wenn die Gläubigen seine Worte unreflektiert aufnehmen. Es könnte auch sein, dass die Kirchen solche oder ähnliche Deutungen über Jahrtausende billigend in Kauf genommen haben. Denn so verstanden, zeigt das Gebet einen autoritären Gott, der Furcht einflösst und die Menschen klein macht.

Betrachten wir nun das aramäische Vaterunser nach Neill Douglas-Klotz. Das erste was auffällt, ist dass die Bedeutung des Wortes «awuun» (meist mit «Vater» übersetzt) geschlechtsneutral ist. Klotz übersetzt mit «O Gebärer(in), Vater-Mutter des Kosmos» (womit auch die Suggestion, Gott halte sich ausschliesslich im Himmel, nicht auf der Erde auf, vom Tisch ist). Der Aramäisch-Gelehrte Rocco Errico sagte auf einer Audio-CD über das Vaterunser, «awuun» sei ein familiäres Kosewort, es könne für Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester gleichermassen verwendet werden. Das mag überraschen, weil es ein solches Wort im Deutschen gar nicht gibt, ausser vielleicht «Schatz» oder «Liebes». Eine mögliche (ausführlichere) Übersetzung wäre angelehnt an Errico und Douglas-Klotz: «Geliebtes Schöpferwesen, das überall im Universum und in meiner Seele gegenwärtig ist».

Es gibt noch weitere solche Begriffsverschiebungen. So bedeutet etwas «lachma» im Aramäischen sowohl «Brot» als auch «Einsicht». Douglas-Klotz sagt: «Gewähre uns täglich, was wir an Brot und Einsicht brauchen». Also Nahrung für Leib und Geist gleichermassen. Der «Schuld»-Vers lautet in der Neuübersetzung: «Löse die Stränge der Fehler, die uns binden». Eine befreiende Botschaft, die an das Sprengen von Fesseln erinnert. Das Wort für «Vergeben» (ausgesprochen ungefähr «waschwoklähn») trägt im Kern die Bedeutung «Rückkehr zum ursprünglichen Zustand». Und das Wort für «Versuchung» (l’nisiona) meint in der ursprünglichen Bedeutung «innere Unruhe, die uns von unserer eigentlichen Lebensaufgabe abgelenkt werden.» Also nichts von einem Vater, der uns vorsätzlich in Versuchung führt. Ich kann leider in diesem Rahmen nicht alle Verse gleichermassen ausführlich behandeln, obwohl das Material dazu vorliegt. Wer mag, kann sich das Buch kaufen. Hier die vollständige Neuübersetzung des aramäischen Vaterunsers durch Neill Douglas Klotz.

O Gebärer(in)! Vater-Mutter des Kosmos,

Bündele Dein Licht in uns – mache es nützlich:

Erschaffe Dein Reich der Einheit jetzt.

Dein eines Verlangen wirkt dann in unserem – wie in allem Licht, so in allen Formen.

Gewähre und täglich, was wir an Brot und Einsicht brauchen.

Löse die Stränge der Fehler, die uns binden, wie wir loslassen, was uns bindet an die Schuld anderer.

Lass oberflächliche Dinge uns nicht irreführen, sondern befreie uns von dem, was uns zurückhält.

Aus Dir kommt der allwirksame Wille, die lebendige Kraft zu handeln, das Lied, das alles verschönert und sich von Zeitalter zu Zeitalter erneuert.

Amen

Das aramäische Vaterunser entführt uns in eine erstaunlich frische wirkende, unverstaubte Welt mystischer und undogmatischer Spiritualität. Es führt uns in die Nähe und zielt auf die Vereinigung mit einer liebenden, allgegenwärtigen Gottheit. Die erste Hälfte des Gebets umreisst eine Bewegung von Gott zu den Menschen hin. Seine Energie oder sein «Verlangen» soll sich in den Menschen manifestieren, sein Reich schon jetzt und auf der Erde Realität werden. Die zweite Hälfte (ab dem «Brot-Vers») gibt wichtig Anleitungen für das irdische Leben, die Versorgung mit dem Notwendigsten, den Umgang mit anderen Menschen und den «geraden Weg» zur Befreiung (übrigens eine Parallele zum wichtigsten Gebet der Muslime, der Sure «Al Fatiha»).

Auch die Übersetzung von Douglas-Klotz ist sicherlich nicht die letzte und nicht die «einzig Wahre», aber es ist faszinierend, sich vorzustellen, dass der historische Jesus sein berühmtestes Gebet so (oder so ähnlich gemeint haben könnte). Eine solche Auffassung könnte nicht nur zu einer Erneuerung des Christentums führen, sondern auch den Brückenschlag zu anderen Religionen erleichtert. So gibt es zwischen dem aramäischen Vaterunser und dem Islamischen Sufismus sowie asiatischen Mystik-Systemen unübersehbare Parallelen.

Ich mache auch darauf aufmerksam, dass das aramäische Vaterunser einen aussergewöhnlich schönen Klang hat. Es anzuhören und nachzusprechen versetzte mich in eine „gehobene“ Stimmung, ähnlich eine sanfte Trance. Nicht alle Worte, nicht einmal alle Mantras, hatten auf mich eine solche Wirkung. «Awuun d’waschmeja, nithkadasch schmach» heisst etwa die Stelle, die üblicherweise «Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name» übersetzt wird. Auf Rocco Erricos CD ist das ganze Gebet mehrfach aufgesprochen.

Die Kirchen allerdings scheinen nicht sehr interessiert daran, den Impuls aufzugreifen. Eher ist zu befürchten, dass sie wie der «Grossinquisitor» reagieren, der in Dostojewskis gleichnamige Geschichte den wieder auf die Erde zurückgekehrten Jesus trifft: «Wir haben dein Werk verbessert», sagt der Inquisitor dort. «Du hast kein Recht, dem, was du gesagt hast, etwas hinzuzufügen.»

Buchtipp: Neil Douglas-Klotz: Das Vaterunser – Meditationen und Körperübungen zum kosmischen Jesusgebet. Verlag Knaur.

CD-Tipp: Rocco Errico: Das aramäische Vaterunser zum Selbstlernen. Verlag H.-J. Maurer

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