Was ist die nächste Geschichte?

 In FEATURED, Philosophie, Politik

Während wir uns ins dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hineinbewegen, ist es nicht mehr ungewöhnlich, wenn von der „Macht der Geschichten“ die Rede ist. Man spricht davon, das „Narrativ zu kontrollieren“ – das politische Narrativ, das Marken-Narrativ etc., und sogar das Beziehungs-Narrativ. Wir haben gelernt, dass unser Leiden und unser Glück sehr davon abhängen, welche Geschichten wir uns über uns selbst, die Welt und über einander erzählen. Charles Eisenstein

 

Unter unseren gesellschaftlichen und persönlichen Geschichten liegt eine grundlegendere Art „Geschichte“, die wir Mythologie nennen könnten. Sie umfasst die unausgesprochenen Annahmen über die menschliche Natur und die Welt, die wir alle teilen – Annahmen, die so tief wurzeln, dass sie mit der Realität identisch zu sein scheinen. Eine Mythologie beantwortet grundlegende Fragen, noch bevor man auf die Idee käme, sie zu stellen: Warum bin ich hier? Was ist ein Selbst? Was ist real? Was ist wichtig? Wie passiert Veränderung in der Welt? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist heilig (wenn es überhaupt etwas Heiliges gibt)? Was ist ein Mann? Was ist eine Frau? Wie lebt man richtig? Was ist richtig und was ist falsch? Wie gelangt man zu verlässlichem Wissen? Wo ist Wahrheit zu finden? Wie hat die Welt angefangen? Was ist der Sinn des Lebens?

Die Mythen, die diese Fragen beantworten, formen das Zuhause, in dem wir uns niedergelassen haben. Es war vielleicht einst ein gemütliches Heim. Das ist es nicht mehr. Viele von uns fühlen sich darin tief entfremdet. Bedenke, dass der Mythos behauptet, er sei die Realität selbst. Daran liegt es, dass wir der Verrücktheit verdächtigt werden, wenn wir Erfahrungen machen, die nicht zum Mythos passen. Mächtige Kräfte (soziale, wirtschaftliche) verschwören sich gegen uns, um uns in die herrschende Geschichte einzufügen, selbst wenn niemand mehr wirklich daran glaubt, wie es jetzt mehr und mehr der Fall ist.

Trotzdem liegt die alte Geschichte weiterhin unserem System und einem großen Teil unserer Psychologie zugrunde. In beiden Bereichen spüren heutzutage viele von uns die seismische Verschiebung. Wir haben das Gefühl, dass alles sich ändern wird. Was wir hier spüren ist die Metamorphose dieser grundlegenden Mythen, die die Welt erschaffen. Darum sage ich, dass wir an einem Übergang von einer alten zu einer neuen Geschichte stehen. Vielen sind diese Ideen schon bekannt, aber ich möchte genau erklären, was meiner Meinung nach diese alten und neuen Geschichten sind.

Manchmal verwende ich die Begriffe alte Geschichte und neue Geschichte ein bisschen schlampig. Manchmal spreche ich stattdessen von einer „nächsten Geschichte“, oder ich nenne sie eine „neue und uralte Geschichte“, denn tatsächlich zieht die nächste Geschichte ihre Kraft aus uralten Wurzeln. Nichtsdestotrotz ist sie neu für jene von uns, die im System und der Psychologie der alten Geschichte groß geworden sind. Ich nenne die alte Geschichte „die Geschichte der Getrenntheit“. Die neue Geschichte nenne ich „die Geschichte des Interbeing“. Ich verwende hier den Begriff, den Thich Nhat Hanh bekannt gemacht hat.

Und ja, die ganze Idee, dass die Welt auf einer Geschichte beruht, und dass diese Geschichte sich jetzt ändert, ist selbst eine Geschichte. Aber eine Geschichte ist kein künstliches Bedeutungsraster, das man über die Realität legt. Das wäre ebenso eine Geschichte – eine, welche Bedeutung von Materie, oder Information von Existenz trennt. Eine Geschichte oder Mythologie ist keine rein menschliche Kreation, obschon wir Instrumente ihrer Erschaffung sind. Und sie ist eine eigenständige Wesenheit. Bitte verstehen Sie also meine Beschreibung davon, wie ich die nächste Geschichte sehe, nicht als Versuch, sie zu bestimmen.

Alte Geschichte: Ich bin ein einzelnes, getrenntes Selbst: eine Blase aus Psychologie, eine in Fleisch gehüllte Seele, oder eine biochemische Maschine.

Neue Geschichte: Ich bin ein holographischer Spiegel von allem was ist; ein Knotenpunkt in einem unendlichen Beziehungsnetz.

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Alte Geschichte: Ich existiere unabhängig.

Neue Geschichte: Ich existiere in Beziehung

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Alte Geschichte: Es betrifft mich nicht, was mit anderen Wesen oder der Welt geschieht, weil ich von all dem getrennt bin.

Neue Geschichte: Es wird mich immer betreffen, was anderen oder der Welt geschieht, weil das Selbst und das Andere untrennbar aufeinander bezogen sind.

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Alte Geschichte: Es ist die treibende Kraft menschlichen Verhaltens, besonders des wirtschaftlichen Verhaltens, das rationale Eigeninteresse zu maximieren.

Neue Geschichte: Menschen sehnen sich danach, ihre Gaben einer sinnvollen Sache zuzuwenden. Wir alle haben eine einzigartige und unentbehrliche Gabe für diese Welt.

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Alte Geschichte: Um sich ethisch, moralisch und pro-sozial zu verhalten, muss man den natürlichen Hang zum Egoismus überwinden. Dazu müssen wir die Natur in uns bezwingen, das heißt, gegen unser Selbst in den Krieg ziehen.

Neue Geschichte: Ethisches, moralisches und pro-soziales Verhalten ist ein zentraler Bestandteil der menschlichen Natur, der unter den richtigen Bedingungen zum Ausdruck kommt, und der genährt und entwickelt werden kann.

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Alte Geschichte: Es ist die treibende Kraft des biologischen Verhaltens und der Evolution, das Eigeninteresse an Fortpflanzung zu maximieren. Die Natur versteht man am besten als einen Wettkampf auf Leben und Tod, als Krieg aller gegen alle.

Neue Geschichte: Lebewesen wollen nicht nur überleben, sondern auch dem Ökosystem und der Gesamtheit des Lebens ihre Gaben schenken, wodurch sie ihre Rolle und Funktion ausfüllen.

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Alte Geschichte: Den Naturkräften ist die Menschheit gleichgültig. Die anderen natürlichen Wesen stehen dem Wohlergehen der Menschen gleichgültig oder feindselig gegenüber. Fortschritt kommt daher durch die Herrschaft über die Natur.

Neue Geschichte: Das Universum ist großzügig. Wir kommen zur Blüte, indem wir mit den Naturkräften und dem Rest des Lebens kooperieren.

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Alte Geschichte: Das egoistische Gen ist das Subjekt der Evolution. Evolution geschieht durch zufällige Mutation und darauffolgende natürliche Selektion.

Neue Geschichte: Symbiose und der Zusammenschluss von Organismen in größere Einheiten bringt evolutionäre Neuerungen hervor. Mutationen sind nicht zufällig. Die Bedürfnisse eines Organismus, der Gemeinschaft, des Ökosystems, des Planeten, und sogar des Kosmos, beeinflussen die Richtung der genetischen und epigenetischen Veränderung.

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Alte Geschichte: Wohlbefinden wird durch die Kontrolle der natürlichen Kräfte und der Herrschaft über biologische und soziale Konkurrenten erreicht.

Neue Geschichte: Wohlbefinden wird durch Teilhabe, Gemeinschaft, Intimität und Teilen erreicht.

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Alte Geschichte: Die Ereignisse und Menschen, die in unser Leben kommen, sind im Grunde zufällig.

Neue Geschichte: Jede Person, der wir begegnen und alles, was wir erleben, spiegelt etwas in uns wider oder enthüllt etwas über uns. Synchronizität enthüllt eine der Welt innewohnende Ordnung.

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Alte Geschichte: Veränderung passiert durch Kraftausübung. Deswegen ist menschlicher Fortschritt gleichbedeutend mit der immer größeren Fähigkeit, Kraft auszuüben und die Welt mit immer größerer Präzision zu manipulieren.

Neue Geschichte: Kraft ist nur eines von vielen Mitteln, durch die sich kreative Intelligenz manifestiert. Das Universum funktioniert durch morphische Resonanz: Jede Änderung, die irgendwo geschieht, und sei sie noch so klein, trägt zu einem Feld bei, in welchem sich diese Veränderung überall vollzieht.

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Alte Geschichte: Die Welt ist, von den Menschen abgesehen, deterministisch oder zufällig. Ihr wohnt keine Intelligenz oder Ordnung inne. Das Leben hat sich im Grunde entlang chemischer Ereignisse entwickelt.

Neue Geschichte: Intelligenz, Ordnung und Lebendigkeit sind grundlegende Eigenschaften des Universums. Die Welt ist voller lebendiger Wesen, und sie ist voll lebendigen Seins. Ordnung und Komplexität gehen spontan aus dem Chaos hervor.

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Alte Geschichte: Die Aufgabe und das Schicksal der Menschheit liegt darin, der Welt die Ordnung und Intelligenz zu stiften, die sie selbst nicht hat.

Neue Geschichte: Die Aufgabe der Menschheit besteht darin, an der Entfaltung des Lebens und der Schönheit des Kosmos teilzunehmen.

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Alte Geschichte: Wahr ist nur, was gewogen, gezählt oder gemessen werden kann.

Neue Geschichte: Die Realität hat eine qualitative Dimension, die sich einer Reduktion auf Quantität immer entziehen wird.

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Alte Geschichte: Das Universum ist wie eine Maschine, die sich am besten durchschauen lässt, wenn man die Bewegungen der mathematisch beschreibbaren Kräfte analysiert, die auf ihre Einzelteile wirken. Wenn du etwas durchschauen willst, dann zerlege es in seine Einzelteile.

Neue Geschichte: Das Universum ist lebendig. Das Leben kann nicht mithilfe von reduktionistischen, kausalen Erklärungen begriffen werden. Emergente Qualitäten von Ganzheiten erklären das Verhalten der einzelnen Teile.

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Alte Geschichte: Im Grunde besteht die Realität aus generischen Bausteinen mit bestimmten Eigenschaften, die alle identisch sind. Die Einzigartigkeit von größeren Objekten ist nur das Ergebnis von verschiedenen Zusammensetzungen derselben generischen Bausteine.

Neue Geschichte: Jedes Wesen, selbst ein Elektron, ist einzigartig. Deswegen verhalten sie sich auch unterschiedlich (Akausalität in der Quantentheorie). Die Realität ist die Gesamtheit der Beziehungen zwischen einzigartigen Wesen jeder Größenordnung.

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Alte Geschichte: Das Universum strebt unaufhörlich in Richtung größerer Entropie. Die verfügbare Energiemenge ist begrenzt und stets abnehmend. Knappheit ist in die Physik eingebaut.

Neue Geschichte: Neue Energie und neue Materie werden ewig neu geboren. Unbegrenzte Energie, die buchstäblich aus dem Nichts kommt, ist verfügbar.  Überfluss ist in die Physik eingebaut.

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Alte Geschichte: Bewusstsein ist ein Nebenprodukt von elektrochemischen Prozessen im Gehirn und endet beim Tod.

Neue Geschichte: Das Gehirn ist ein Empfänger oder ein Sitz von Bewusstsein; und Bewusstsein überdauert Körper und Gehirn.

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Alte Geschichte: Die Seele (falls sie überhaupt existiert) ist vom Körper getrennt. Der Körper ist im Grunde ein Roboter aus Fleisch.

Neue Geschichte: Der Körper ist die fleischgewordene Seele.

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Alte Geschichte: Geist ist außerhalb von Materie (entweder in einer anderen Welt, oder nichtexistent).

Neue Geschichte: Geist und Materie sind nicht voneinander getrennt. Moderne Gesellschaften erkennen einfach viele Aspekte der Welt nicht an, verdrängen sie sie aus der materiellen Welt in eine davon getrennte Welt, die sogenannte geistige Welt.

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Alte Geschichte: Gott ist von der Schöpfung getrennt (entweder, weil Gott von außen her über die Welt bestimmt, oder weil er gar nicht existiert).

Neue Geschichte: Es gibt nichts, das nicht Gott ist. Gott und die Schöpfung sind eins. Alles ist heilig und göttlich.

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Alte Geschichte: Der Verstand ist über die Gefühle erhaben, und der Geist über den Körper, oben ist besser als unten, Gott ist irgendwo im Himmel.

Neue Geschichte: Oben und unten, Geist und Körper, Himmel und Erde, Verstand und Gefühle sind alle integral, notwendig, und gleichwertige Töne in der Symphonie des Seins.

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Alte Geschichte: Bevor es Wissenschaft, Technologie und Zivilisation gab, war das Leben der Menschheit ein brutaler Überlebenskampf.

Neue Geschichte: Das Leben in der Steinzeit war, was Ernährung, Kunst, Musik, Spiritualität, Freizeit und Kultur angeht, von Überfluss geprägt.

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Alte Geschichte: Die Wissenschaft hat uns aus Unwissenheit und Aberglauben zu wahrem Wissen geführt.

Neue Geschichte: Wissen und außerwissenschaftliche Wege, um Wissen zu erlangen, sind für die menschliche Entwicklung wie auch für praktische Angelegenheiten wesentlich.

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Alte Geschichte: Technologie hat uns aus erbärmlicher Hilflosigkeit erlöst und uns zu Herren über die materielle Welt gemacht.

Neue Geschichte: Menschen können Fähigkeiten entwickeln, von denen die moderne Technologie nicht einmal träumen kann – und zwar nicht durch Meisterschaft über, sondern Partnerschaft mit der Welt.

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Alte Geschichte: Gesundheit erlangt man durch Kontrolle: über den Körper, die Gene, die Umwelt und über menschliche Interaktionen.

Neue Geschichte: Gesundheit kommt, wenn wir unsere Handlungen an der dem Körper innewohnenden Intelligenz ausrichten; und indem wir den Boden, das Wasser und den Rest des Lebens gesunden lassen.

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Alte Geschichte: Unsere hochtechnisierte, wissenschaftliche, „entwickelte“ Gesellschaft ist weiter fortgeschritten als die „unentwickelten“ Teile der Welt. Ihr Fortschritt bedeutet, dass sie mehr so werden wie wir.

Neue Geschichte: Indigene und traditionelle Kulturen sind auf bestimmte Arten höher entwickelt, weiter fortgeschritten als moderne Gesellschaften. Wir haben viel von ihnen zu lernen.

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Alte Geschichte: Die Natur ist von uns getrennt. Die „Umwelt“ enthält Ressourcen, die zu unserer Nutzung bestimmt sind.

Neue Geschichte: Die Natur ist Teil von uns und wir sind Teil der Natur.

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Alte Geschichte: Es ist der Menschheit vorbestimmt, ihr Verständnis (mittels Wissenschaft) und ihre Kontrolle (mittels Technologie) zu perfektionieren, um sich über die Natur zu erheben, die Erde hinter sich zu lassen, und Krankheiten, Leiden und schließlich sogar den Tod zu besiegen.

Neue Geschichte: Es ist der Menschheit vorbestimmt, alle ihre Gaben und Kräfte in den Dienst des Lebens zu stellen, Schönheit und Wunder zu schaffen und zu bezeugen, was das Leben durch uns und um uns herum erschafft. Es beginnt damit, den Schaden zu heilen, der im Zeitalter der Getrenntheit angerichtet wurde.

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Sie können erkennen, dass keine dieser beiden Geschichten eine unzusammenhängende Auflistung von Dingen ist, die wir mögen oder eben nicht mögen. Jeder dieser Bestandteile fügt sich mit den restlichen zu einem Ganzen zusammen. Das erklärt, warum eine Person, die sich für das Ende von strafbasierter „Justiz“ einsetzt, eine natürliche Verbundenheit mit jemandem spüren kann, der an der Entwicklung nachhaltiger Imkereipraktiken arbeitet. Was genau ist diese Bewegung, von der sich so viele von uns als Teil fühlen? Wir beziehen uns auf dieselbe Geschichte, sehnen uns nach derselben Geschichte, handeln manchmal aus derselben Geschichte. Wir machen uns an ihre Umsetzung in Beziehungen, in der Politik, in Systemen, in Gärten, in der Erziehung, in der Arbeit, in der Bildung, in der Technologie, beim Geld, in der Medizin und in der Religion. Vielleicht sind wir uns nicht immer einig, was die Geschichte ist. Vielleicht haben wir einen gesunden Widerstand dagegen, dass unsere Geschichten einander zu sehr ähneln, aber das ist nicht so wichtig, weil wir im Endeffekt nicht die Erschaffer unserer Geschichten sind. Es sind die Geschichten, die uns erschaffen.

Dies ist mein bester, tastender Versuch, etwas in Worte zu fassen, das Worte weit übersteigt. Ich hoffe, die Worte helfen trotzdem, die Welt zu verstehen, die wir geerbt haben und deren Systeme und Strukturen auf dem Gerüst der Geschichte der Getrenntheit gebaut sind, und ebenso die Welt zu verstehen, die kommen wird, wenn wir uns auf die Geschichte des Interbeing beziehen und sie leben. Können Sie sich vorstellen, wie die Welt aussehen wird, wenn die Geschichte des Interbeing den Status einer offenkundigen Wahrheit hat?

 

Übersetzt von Bobby Langer und Christoph Peterseil. Es gibt eine englische Fassung dieses Essays.

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