Was ist Glück (2/5)

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Bedeutet Glück, dass man alles kriegen kann, was man braucht (oder zu brauchen meint)? Oder geht es einem besser, wenn man es schafft, gar nicht erst so viel zu brauchen? Die Jagd nach dem Glück ist eine verzwickte Sache. Dass äußere Faktoren wie Geld, Status und Erfolg es nicht garantieren können, weiß jeder, der schon einmal so weit gewesen ist. Also ist es eher eine Frage der geistigen Haltung. Und der ist man nicht hilflos ausgeliefert – man kann sie bis zu einem bestimmten Grad beeinflussen: durch Glaubensvorstellungen und Meditation zum Beispiel. Auch hier stößt das Glückverlangen aber gelegentlich an Grenzen, denn der verschärfte Erlebniskonsum auf dem spirituellen Markt kann ganz schön zum Stress ausarten.  (Den ersten Artikel der Glücks-Serie lesen Sie hierHolger Wohlfahrt

Glaube versetzt nicht nur Berge

Der ägyptische Psychologieprofessor Ahmed M. Abdel-Khalek geht in über 20 Büchern immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Glaube und Glück ein. Er zeigt, dass Menschen, die an eine höhere Macht oder ein über Leben und Tod hinausgehendes Weltmodell glauben, sich auch als glücklicher wahrnehmen. Er begründet das damit, dass Menschen, die glauben, ihr Ich transzendieren. Das Phänomen des Glaubens ähnelt somit dem der „Generativität“ (siehe „Was ist Glück?“ 1/5).

So kann der Mensch durch den Glauben eine Verbindung zu etwas Größerem herstellen, das sich außerhalb der eigenen Person befindet. Die individuellen Befindlichkeiten, Schwächen und Ängste erscheinen im Angesicht dieses unermesslich Großen plötzlich gar nicht mehr so schlimm. Oder sie bekommen eine tiefere, der menschlichen Erkenntnis nicht unmittelbar erschließbare Bedeutung.

Schon in der Bibel heißt es: „Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe, von ihm kommt mir Hilfe. Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg; darum werde ich nicht wanken.“ (Psalm 62, Verse 2 und 3). Und im Koran steht geschrieben: „Im Gedenken Allahs finden die Herzen Ruhe!“ (Sure 13, 28).

Sigmund Freud war sicher einer der Ersten, die den Glauben an Gott oder an göttliche Kräfte, psychologisch begründeten. Der Mensch ist ihm zufolge mit einem ausgesetzten, streunenden Tier vergleichbar. Dieses Tier ist jedoch zu einem eigenen Selbstbewusstsein erwacht. Es ist sich somit auch seiner Sterblichkeit und der Absurdität seines kurzen Daseins auf Erden bewusst. Halt und Trost scheinen sich angesichts dieser Ungeheuerlichkeit nicht allein im irdischen Rahmen finden zu lassen. Der menschliche Geist beginnt daher, seine Existenz in einen größeren, einen übermenschlichen Zusammenhang einzuordnen.

Vor allem untersuchte Freud die ihm vertrauten, das heißt die monotheistischen Glaubensmodelle, die auf einen Schöpfergott gerichtet sind. Speziell ihr Zustandekommen begründete er mit dem Wunsch des Menschen, lebenslänglich Kind zu bleiben. Auch der Erwachsene wolle die wohligen Gefühle seiner Kindheit konservieren. Indem er einen höheren Vater erschafft, kann er weiterhin zumindest einen Hauch frühkindlicher Geborgenheitsgefühle bewahren: Der übermenschliche Vater ist schließlich immer da!
Der Anthropologe Lionel Tiger und der Neurologe und Psychiater Michael Mc Guire führen in ihrem gemeinsam verfassten Buch „God’s Brain“ anhand wissenschaftlicher Studien vor, dass Freuds eher philosophische Einsichten tatsächlich auch in messbare Fakten umgedeutet werden können. So untersuchten sie Menschen, die tief gläubig waren und auch regelmäßig religiöse Rituale vollzogen. Bei diesen Gläubigen ließ sich im Hirn ein erhöhter Serotoninspiegel messen.

Serotonin ist ein Hormon, zu dessen bekanntesten Wirkungen die positiven Effekte auf die Stimmungslage zählen. Es gibt dem Menschen das Gefühl von Gelassenheit, innerer Ruhe und Zufriedenheit, während Angstgefühle, Kummer, auch Aggressivität oder Hungergefühle gemindert werden. Depressive Verstimmungen lassen sich häufig auf einen Mangel an Serotonin zurückführen. Lionel Tiger folgerte nun aus der Erkenntnis seiner Studien: „Kirchen, Tempel, Moscheen sind im Grunde Serotonin-Fabriken“.

Auch eine repräsentative Studie von Psychologen der University of Iowa bestätigte diese Erkenntnis. Sie fanden heraus, dass Menschen, die regelmäßig in die Kirche gingen, niedrigere Stresspegel hatten und einen geringeren Anteil des Entzündungsmarkers Interleukin-6 im Blut nachwiesen.

Sie ermittelten weiterhin, dass die gläubigen Kirchgänger nicht nur glücklicher waren, sondern dass sie auch länger lebten als eine ungläubige Vergleichsgruppe.
Auch wenn nicht letztgültig geklärt ist, welche Aspekte am Glauben es genau sind, die derart beglückende Wirkungen haben (vielleicht spielen auch die Gemeinschaft mit anderen Gläubigen, die Bewegung während religiöser Rituale, der regelmäßige Weg zu Kirche/Moschee/Tempel, der Weihrauch oder anderes eine Rolle) so ist die Tatsache, dass Glaube dem Einzelnen gut tut, nicht zu leugnen.

Problematisch wird es lediglich dann, wenn gemäß einem Diktum des Historikers und Philosophen Philipp Blom „ungebildete Geister eine Art Glauben als existentielle Krücke“ benutzen und mit dieser Krücke dann Andersdenkende kurzerhand erschlagen. In der Tat ist es naheliegend, dass ein Mensch, der in seinem Glauben so etwas wie Sinn und Halt gefunden hat, in jedem Andersdenkenden eine Bedrohung für seine wohltuende Weltanschauung erkennt.

Wie so oft liegen Glück und Unglück hier also gefährlich nahe beisammen. Aus Angst vor dem möglichen Verlust seiner glückstiftenden existentiellen Stütze hat schon so mancher Gläubige wild um sich schlagend viel Unheil, Tod und damit auch Unglück unter die Menschheit gebracht. Glaube ist eben nie beweisbar und daher immer leicht anzugreifen. Oftmals erkennen Gläubige die einzige Chance zur Behauptung ihrer Wahrheit darin, Andersgläubige zu unterdrücken oder gar zu töten.

Doch auch unabhängig von der latenten gesellschaftlichen Gefahr, die jeder Form von Glauben innewohnt, bleibt offen, wie Menschen sich jene Glücksmomente des Glaubens erschließen können, wenn ihr Verstand das nicht zulässt. Schon Schopenhauer wies darauf hin, dass der Mensch nicht wollen kann, was er will. Gerade der moderne, von selbstermächtigender Technik und Naturwissenschaften geprägte Mensch findet oft keinen Zugang zu dem Ungewissen einer nicht greifbaren Spiritualität oder gar eines noch weniger fassbaren Glaubens.

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard empfiehlt hierfür einen wahnwitzigen „Sprung in den Glauben“. Er erkennt, dass Glaube und Vernunft nicht vereinbar sind. Um den eigenen Verstand hin zu einer höheren Ebene überschreiten zu können und sich, mit den Erkenntnissen neuester Neurologie gesprochen, ein Serotoninfeuerwerk im Kopf verdienen zu können, muss man sich in die Welt des geheimnisumwobenen, rätselhaften Glaubens wagen und sich dieser Welt dann bedingungslos unterordnen.

Dieser Sprung muss freilich ohne Netz und doppelten Boden vollzogen werden. Genau das wagen viele existentiell suchende Menschen der Gegenwart allerdings nicht. Sie versuchen lediglich in kleinen, vorsichtigen Hüpfern, sich denjenigen Glauben anzueignen, der ihrem Denken am ehesten entspricht. Da so ein Glaube oft nicht zu finden ist, entstehen immer öfter eigenwillige Patchworkreligionen: ein bisschen Buddhismus, ein wenig Sufismus, noch eine Prise Taoismus und als Zuckerguss ein Hauch christlicher Mystik. Doch sobald diese selbst gestrickte Religion nicht mehr glücksstiftend ist, wird sie kurzerhand ausgetauscht. Oder vielleicht hat man doch auch nur eine Note Kabbala vergessen? Die Absolutheit des Glaubens kann auf diese Art nie erlebt werden, sie bleibt immer Spielball der eigenen Wünsche. Sie schafft genau das nicht, was Religion über Jahrhunderte vermochte: dem Ego Widerstand entgegenzusetzen. Sie ist stattdessen zu einem weiteren Spielball des Egos geworden.

Doch auch an dem radikalen Kierkegaard’schen Sprung ist schon so manch verzweifelter Mensch grandios gescheitert. Nicht wenige Springer mutierten zu religiösen Fanatikern. Auch der zeitlebens von tiefen existentiellen Nöten geplagte Kierkegaard selbst erlitt gewissermaßen eine Bruchlandung.

Was also tun? Was tun, wenn der Verstand einen natürlichen Glauben nicht mehr zulässt, wenn ein vorsichtiger Sprung in den Glauben nicht ausreicht, wenn ein waghalsig-radikaler Sprung tödlich enden kann? Die glücksstiftende und en passant angeblich lebensverlängernde Kraft des Glaubens vernachlässigen? Vielleicht nicht ganz. In den letzten Jahrzehnten hat sich im westlichen Kulturkreis zumindest für den ebenfalls glücksstiftenden Zugang zu einer tieferen Spiritualität ein vermeintlich säkularer Weg gefunden.

Meditation

Als Meditation wird bekanntlich eine spirituelle Praxis bezeichnet, die ursprünglich in vielen Religionen ausgeübt wurde und vielfach noch immer ausgeübt wird. Die Meditationspraxis sollte und soll meist dabei helfen, sich dem Zustand der göttlichen Erleuchtung zu nähern.

Jede Form von Meditation zeichnet sich dadurch aus, dass durch spezielle Übungen eine Beruhigung des Geistes erreicht wird. Inzwischen haben diese sich vielfach von ihrem religiösen Hintergrund gelöst. Und so können unter dem Überbegriff der Meditation zahllose, sich teils sogar stark voneinander unterscheidende Achtsamkeits- und Konzentrationsübungen gefasst werden.

Meist wird zwischen passiver und aktiver Meditation unterschieden. Die passive Meditation umfasst kontemplative Techniken, die in der Stille vollzogen werden. Hierzu können im weitesten Sinne auch im Westen entwickelte Methoden, wie das auf Autosuggestion beruhende Entspannungsverfahren des Autogenen Trainings gezählt werden. Vor allem handelt es sich aber um Techniken, die über die Konzentration auf den Atem zu innerer Ruhe und tiefem Gewahrsein führen.

Aktive Meditationen beinhalten hingegen körperliche Bewegung oder lautes Rezitieren von gewissen Worten oder Sätzen. Durch die Aktivität fällt es womöglich leichter, das eigene Bewusstsein und die Aufmerksamkeit gezielt zu lenken. Neben aus dem Zen-Buddhismus bekannten Meditationen wie der Gehmeditation oder dem Bogenschießen sind auch Yoga in seinen verschiedenen Spielarten oder diverse Kampfkünste der Aktivmeditation zuzurechnen.
In wissenschaftlichen Kreisen früher oft als esoterische Spinnerei abgetan, widmen sich verstärkt seit dem Jahr 2000 weltweit viele Neuro-Wissenschaftler der Meditation und ihren Auswirkungen. Angeregt wurde diese rege Forschertätigkeit durch die Harvard-Wissenschaftler Matthieu Ricard, Antoine Lutz und Richard J. Davidson. Sie untersuchten die Gehirne hunderter buddhistischer Langzeit-Meditierender (mindestens 10 000 Stunden Meditation) im Magnetresonanztomographen. Außerdem erstellten sie EEGs zur Messung der summierten elektrischen Aktivität des Gehirns und entnahmen Blutproben.

Die Ergebnisse der Studien waren so beeindruckend, dass sie damals weltweit von Medien zitiert wurden. So veränderten sich bei allen Probanden die Hirnfrequenzen während ihrer Meditation so stark, dass die Neurologen zunächst glaubten, ihre Geräte seien defekt.
Seitdem wurde etwa von der Harvard-Forscherin Sara Lazar nachgewiesen, dass sich die Arbeitsweise und Struktur des Gehirns durch regelmäßiges Meditieren verändert. Beispielsweise wurde eine Oberflächenvergrößerung der Inselrinde, die für subjektive emotionale Erfahrung, für Empathie und die eigene Körperwahrnehmung verantwortlich ist, festgestellt.

Auch die altersbedingte Abnahme von Hirnsubstanz im Stirnhirn fand bei Menschen, die über einen längeren Zeitraum mindestens 40 Minuten am Tag meditierten, in weitaus geringerem Maße statt als bei einer Vergleichsgruppe, die keiner meditativen Praxis nachging.
Bei all dem gibt es noch immer erst wenige Metastudien. Auch ist die Frage der Korrelationen und Kausalitäten noch nicht endgültig geklärt. So könnte jemand, der viel meditiert, womöglich von vornherein eine etwas andere Hirnstruktur aufweisen oder zumindest die Veranlagung dazu haben. Seine Bereitschaft sich auf Unbekanntes einzulassen oder sich immer wieder Zeit für sich zu nehmen, könnte darin begründet liegen. Die Meditationen wären dann nicht kausale Ursache für die veränderte Hirnstruktur, sondern eher eine Folge dieser.

Weitgehend unbestritten ist jedoch die unmittelbare Wirkung, die Meditation auf das Gehirn hat. So nimmt während einer Meditation die Aktivität der Amygdala ab. Dieser Bereich ist bei negativen Empfindungen und vor allem bei Stress und Ängsten aktiviert. Längst haben Forscher nachgewiesen, dass die Größe der Amygdala mit dem Angstempfinden eines Menschen korreliert. Wird die Aktivität der Amygdala reduziert, nehmen Angst und Stress ab.
Vor allem aber stellte sich heraus, dass während einer Meditation nahezu die gleichen Effekte auftreten, wie bei praktizierenden Gläubigen. So lässt sich ein erhöhter Serotonin-Spiegel im Blut messen. Ein gutes Lebensgefühl, Heiterkeit und Gelassenheit sind also unmittelbare Folge des Meditierens. Diese positiven Effekte halten auch über die Meditation hinaus noch einige Zeit an. Wird die Meditation regelmäßig, also mindestens einmal pro Tag praktiziert, wird automatisch eine zunehmend positive Grundstimmung entwickelt. Das latente Glücksgefühl nimmt zu.

Damit konnte die subjektive Wahrnehmung Langzeitmeditierender auch wissenschaftlich belegt und begründet werden. Aus dem einstigen esoterischen Hokuspokus ist eine ernstzunehmende Disziplin geworden, die inzwischen sogar von führenden Wirtschaftsunternehmen zur „Optimierung ihrer Mitarbeiter“ propagiert wird. Auch in die klinische Praxis hat Meditation inzwischen vielfach Einzug erhalten – z.B. bei der Behandlung von akuten Schmerzen, Depressionen, Angst- oder Essstörungen.

Neben dem unmittelbaren Empfinden tiefer Glücksmomente helfen Meditationsübungen auch, das Selbstbewusstsein zu stärken. Die Achtsamkeit gegenüber eigenen Gefühlen, das Erspüren des eigenen Körpers und die werturteilsfreie Kenntnisnahme von Eigenschaften, die gesamtgesellschaftlich beurteilt, also als Stärken oder Schwächen bezeichnet werden, tragen dazu bei, sich seiner wahrhaft bewusst zu werden, ein tiefes Vertrauen zu sich selbst zu gewinnen und eine grundlegende Resistenz gegen diejenigen modische Verheißungen zu entwickeln, die dem eigenen Wesen vielleicht nicht entsprechen. In diesem Selbstbewusstsein liegt ein weiterer Schlüssel zum Glück.

Die Praxis der Meditation kann in Sachen Glück somit zugleich als Selbstzweck und als Mittel zum Zweck betrachtet werden!

Weniger ist mehr

In der (post-)modernen Welt der Gegenwart begegnen wir einer extremen Ausdifferenzierung nahezu aller Bereiche des Lebens. Konnte im 13. Jahrhundert ein Gelehrter wie Roger Bacon noch Experte in nahezu allen Disziplinen, von Medizin bis Astronomie sein, konnte Johann Wolfgang von Goethe sich im 18. und frühen 19. Jahrhundert immerhin in fast allen Disziplinen noch sehr gut auskennen, so ist es heute kaum noch möglich, auch nur in der Unterdisziplin einer Unterdisziplin wirklich über jede veröffentlichte Studie Bescheid zu wissen und immer auf dem aktuellsten Stand zu sein.

Der Grund für diese extreme Vielfalt liegt in dem aristotelischen Wissenschaftsmodell, das sich letztlich durchsetzen konnte und das dazu anleitet, die Welt zum besseren Verständnis in zahllose Unterkategorien zu zerlegen und diese zu kategorisieren. So gibt es heute ca. 19 000 verschiedene akademische Studiengänge, von denen viele ihrerseits weitere Unterdisziplinen aufweisen.

Durch die derart entstandene methodische Vielfalt konnte zugleich dem Wachstumsstreben des Menschen besser Rechnung getragen werden. Dieses Streben wird von vielen Wissenschaftlern als Evolutionsvorteil betrachtet – genauso wie auch viele andere fast schon triebhafte Eigenheiten des Menschen. Der Affe, der Zugang zu mehr Bananen als die anderen Affen hatte, schien sich und seiner Familie schließlich ein besseres Überleben garantieren zu können. Die menschlichen Affen von heute horten statt Bananen Handys, Autos, Küchengeräte oder andere Statussymbole. Ohne sich dessen bewusst zu sein, führen sie das Modell einer weitgehend unsinnig gewordenen, urzeitlichen Lebensform fort.

Durch die Ausdifferenzierung des Lebens und damit auch der Möglichkeiten, kann das menschliche „Streben nach mehr“ umso besser erfüllt werden. Es gibt schlichtweg mehr, was angehäuft, gesammelt oder erlebt werden kann.

Natürlich gibt es zahlreiche positive Effekte dieser Entwicklung. So kann fast jeder im schier endlosen Möglichkeits-Dschungel Wege zu seiner individuellen Verwirklichung finden. Zumindest theoretisch! Die wissenschaftliche Ausdifferenzierung hilft zudem, z.B. im Bereich der Medizin, lebenswichtige Details genauer erkennen und behandeln zu können.
Gleichzeitig ist die entstandene Vielfalt, die ins Unermessliche zu reichen scheint, aber auch ein steter Anlass für Überforderung, Angst und Unzufriedenheit. Aufgrund der scheinbar unendlichen Möglichkeiten hat der moderne Mensch nur allzu oft das Gefühl, viel zu verpassen oder viele relevante Dinge nicht zu wissen und folglich falsche Entscheidungen zu treffen.

Jede Entscheidung für eine der zahllosen Optionen bedeutet gleichzeitig die Entscheidung gegen alle anderen. Fast immer liegt ein gravierendes Ungleichgewicht vor. Wenn sich also beispielsweise ein vielfältig interessierter Mensch für ein Studium entscheidet, entscheidet er sich zugleich gegen viele tausend andere Studienmöglichkeiten. Seine Entscheidung wird daher stets von Unsicherheit begleitet sein. Sobald er in seinem Fach auf Schwierigkeiten stößt, werden die verpassten Optionen umso stärker in seinen Fokus rücken. Er wird vermutlich zu der Ansicht gelangen, dass mindestens eines der vielen anderen Fächer ihm besser gelegen, größere Freude und weniger Schwierigkeiten bereitet hätte. Die zahllosen verpassten Optionen wirken aufgrund ihrer unglaublichen Masse umso erdrückender.

Dieses Phänomen lässt sich heute in allen Bereichen beobachten. Die Entscheidung für einen Ehepartner schließt Millionen anderer potentieller Lebenspartner aus. Die Entscheidung für einen Beruf schließt Millionen anderer Berufe aus. Die Entscheidung für eine Glaubenspraxis schließt viele andere spirituelle Möglichkeiten aus. Schon die Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten, also im Verhältnis 1:1 ist keine leichte. Eine Entscheidung im Verhältnis zu, sagen wir, 1: 1 000 000 kann nahezu lähmend sein. „Was du auch tust, du wirst es bereuen“, wusste schon Sokrates. Die verpasste Option wird schließlich immer als strahlende Alternative am Horizont stehen. Heute sind es oft Millionen solcher strahlender Alternativen. Wie schmerzhaft, sie nicht ausprobiert zu haben!

Erschwert wird das Ganze durch eine Welt voll von aggressivstem Marketing, dessen Ziel es ist, jeweils eine Option gegen die unzähligen anderen in eine besonders gute Position zu bringen. So verwundert es nicht, dass in Deutschland pro Jahr ca. dreimal so viel Geld für Werbung und Marketing ausgegeben wird wie für das komplette Bildungswesen. Die Modezyklen werden dementsprechend immer kürzer. Sobald sich ein Produkt, eine Dienstleistung, ein Lebensmodell oder auch ein Weltentwurf durchgesetzt haben, werden sofort andere umso stärker von verschiedensten Seiten propagiert. Nur noch wenige Modelle können sich lange in der Pole Position halten. Ein regelrechter Konsumwahnsinn ist die logische Folge. Sobald man etwas erworben hat, gilt es schon wieder als altmodisch. Kein Wunder, dass allein in Deutschland der private Konsum zwischen 1991 und 2016 von 890 auf 1679 Milliarden Euro gestiegen ist.

Da moderne Menschen nicht nur das möglicherweise inhärente Streben nach mehr in sich tragen, sondern, wie bereits beschrieben (siehe „Was ist Glück“ 1/5), schon von klein auf verstärkt lernen, die Dinge als Mittel zum Zweck zu begreifen, sind sie besonders anfällig, Opfer dieses Systems zu werden. Sie streben nach gut dotierten Jobs, um sich stets das zu kaufen, was gerade als „angesagt“ gilt. Doch auch das neu erworbene Produkt ist wiederum nur Mittel zum Zweck. Oft sind die konsumierten Dinge im Moment ihrer Anschaffung schon wieder entwertet. Zwar kennt der moderne Mensch den Preis der Dinge, ihren Eigenwert zu erkennen, hat er längst verlernt.

Der Mensch wird damit zum fremdbestimmten Objekt, das nach immer mehr strebt, ohne zu wissen, warum und weshalb. Das menschliche Objekt hat verlernt, auf der Klaviatur des Lebens seine eigene Melodie zu spielen. Es spielt nur noch fremde Phrasen.

Nur allzu oft entsteht ein regelrechter Teufelskreis. Fremdbestimmte Arbeit, die nur als Mittel zum Zweck des Gelderwerbs getätigt wird, macht den modernen Menschen nahezu tagtäglich unglücklicher. Als Ausgleich glaubt er sich von dem Geld seiner Arbeit die neuesten Verheißungen der Marketingwelt leisten zu müssen. Er arbeitet also allein für Urlaub und Konsum. Diese Verheißungen scheinen ja Glück zu bringen („Kauf dich glücklich“). Doch je mehr Geld in die vorgeblich heilsbringenden Anschaffungen von Produkten und Erlebnissen gesteckt wird, desto mehr muss auch verdient, also desto mehr muss gearbeitet werden. Schließlich – und als Krönung der Absurdität – frisst die unbefriedigende Arbeit des modernen Menschen so viel Zeit, dass er sich seinen Errungenschaften kaum noch widmen kann. Und die rare Urlaubszeit wird dann umso hektischer dazu genutzt, all das verpasste nachzuholen. Statt Erholung bringt sie Stress und oftmals auch Verdruss, da ja in der Regel nicht alle geplanten Urlaubsprojekte umgesetzt werden können. Das was dann früher oder später und immer öfter passiert, lässt sich auch unter das Modewort „Burn-Out“ fassen. Der moderne Mensch droht an seinem Tun zu ersticken.

Auswege aus diesem modernen Teufelskreis scheint es kaum zu geben. Will man ihm dennoch entkommen, scheint ein ausgereiftes Selbstbewusstsein unabdingbar zu sein. Nur wer wirklich weiß, wer er ist, was ihn ausmacht, was ur-eigene Freude bringt, kann sich frei machen von den fremden Verheißungen. Er kann es schaffen, sich auf Weniges, aber Authentisches zu konzentrieren. Eine vielfältig reflexive und meditative Lebenspraxis sind hierbei hilfreich, vielleicht notwendig. Statt Dinge als Mittel zum Zweck zu betrachten, kann die Konzentration allein auf die Dinge gelegt werden, die einen erfüllenden Selbstzweck darstellen.

Wie wichtig es für das individuelle Glücksempfinden ist, sich auf nur wenige Dinge zu konzentrieren und nur wenige Dinge zu besitzen, zeigt eine Langzeitstudie aus Harvard. Seit 75 Jahren erforscht eine Gruppe von Wissenschaftlern, derzeit geleitet von George Vaillant, welche Facetten Menschen in ihrem Leben als besonders erfüllend wahrnehmen. Die Probanden (darunter einst sogar Präsident John F. Kennedy) wurden teils vom Studium bis zum Ruhestand begleitet. Die bisher entscheidende Erkenntnis der Langzeitstudie ist für Vaillant die, dass diejenigen Probanden die höchsten Glückswerte hatten, die niedrige Ansprüche hatten und nur wenig wollten. Sie waren übrigens auch glücklicher als diejenigen, die ihre Wünsche meist sofort oder zumindest sehr schnell erfüllt bekamen.
Die Harvard-Studie bestätigt das, was Philosophen und religiöse Denker schon lange wissen: In Selbst-Beschränkung und Askese liegt eine große Kraft!

Alber Camus fasst dieses jahrtausendealte Wissen treffend zusammen. Er verweist auf das glücksstiftende Freiheitsgefühl, das jeder Selbstbeschränkung innewohnt. Er nennt es die „mönchische Freiheit“ dessen, der weiß, dass er ja auch anders könnte, wenn er wollte – er will aber nicht. Indem er seine Triebe sowie seine unmittelbaren, meist von außen gesteuerten Impulse etwa durch intensive Meditation zu beherrschen lernt, lernt er frei zu sein. Diese Gefühle von Freiheit und Erhabenheit gelten als wahrhaft glücksbringend.
Auch der Glücksphilosoph schlechthin zeichnet sich durch seine Betonung des Maßhaltens aus: Epikur, dessen hedonistische Lehre aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert nur allzu oft fehlinterpretiert wurde, empfiehlt vor allem, Leid zu vermeiden. Wer wenig Leid erfährt, wird demnach zwangsläufig mehr Glück empfinden. Viel Leid wird Epikur zufolge durch Dinge hervorgerufen, die wir begehren, aber gar nicht brauchen. Ihr Erwerb kostet schließlich viel Anstrengung, Mühe, womöglich Schmerz. Ihr Besitz ist stets von Verlust- und Vergänglichkeitsängsten begleitet.

Epikurs Lehre unterscheidet sich denn auch maßgeblich von dem gesellschaftlichen Paradigma der Gegenwart. Er empfiehlt, die Intensität des Genusses (kinematische Lust) zu reduzieren, dafür auf eine Stetigkeit im Genießen (katastematische Lust) zu achten. Statt also entbehrungsreiche Zeiten auf sich zu nehmen, um dann umso intensivere Momente der Ekstase und des Genusses erleben zu können, rät er ein durchgängig auf kleiner Flamme brennendes Feuer der Lust zu schüren. Je stärker die punktuellen Exzesse, umso weniger durchgängig ist das Glücksempfinden. Zwar kommt es zu einem kurzen positiven Aufwallen der Gefühle, aber im Anschluss daran auch zu einem umso stärkeren Gefühlsabfall.

Auch wenn dies in den wenigen noch vorhandenen Schriften Epikurs nicht explizit zum Thema gemacht wird, so scheint er doch eine Lebensform zu propagieren, in der eine unnötige Konsumanhäufung, ein krankmachendes „Streben nach mehr“ und die damit einhergehenden Ängste und Sorgen unbedingt vermieden werden sollen. Stattdessen gilt es, sich kleine, aber nachhaltig wirkende Freuden zu verschaffen. Man solle also Dinge tun, die einem selbst entsprechen. Hierin liegt für Epikur die wahre Quelle des Glücks.

Und wenn man sich trotz aller freiwilligen Enthaltsamkeit doch für eine der zahllosen Optionen der modernen Welt entscheiden muss und angesichts ihrer Komplexität überfordert fühlt? Vielleicht hält man es dann mit Pyrrhon von Elis, dem Begründer der antiken Skepsis. Für ihn war bereits im dritten vorchristlichen Jahrhundert klar, dass der Zwang, Entscheidungen treffen zu müssen, wahre Glückseligkeit verhindere. Pyrrhon wusste aber auch, dass radikaler Entscheidungsverzicht keine Lösung sein kann. Die Entscheidung, keine Entscheidung zu treffen, ist schließlich auch eine. Und so schlug er den Weg der radikalen „Vergleichgültigung“ (Isosthenie) vor. Man sollte also für jede zur Auswahl stehende Option Argumente suchen, die sowohl für als auch gegen diese sprechen. Das sollte man so lange tun, bis man für jede Option genug „gleich gültige“ Argumente gefunden hatte.

Überall dort, wo Dinge gleichgültig werden, entstehen Pyrrhon zufolge Freiräume. Ob dieses Verfahren angesichts der heutigen Optionenvielfalt noch zielführend ist sei dahingestellt. Auch kann durchaus hinterfragt werden, ob es wirklich erstrebenswert ist, alles als „gleichgültig“ zu betrachten!

Vielleicht macht man es also doch besser so wie Sokrates. Als dieser durch das Athener Handelszentrum spazierte (das im Vergleich zu heutigen Konsummeilen sicher sehr bescheiden ausfiel), rief er freudig aus: „Wie viele Dinge gibt es doch, die ich nicht brauche!“

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