Weltsprache Literatur

 In FEATURED, Kultur, Roland Rottenfußer

Über einzelne Werke der Literatur zu schreiben, ist das eine; treffsichere Formulierungen über Literatur als Ganzes – ihr Wesen, ihre Funktion und ihre Verbindung mit anderen gesellschaftlichen Kräften – zu finden, ist dagegen eine besondere Kunst. Jürgen Wertheimer ist prädestiniert dafür. Er ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Komparatistik in Tübingen, ein aufstachelnder Vortragsredner und dabei politisch nicht abstinent. Nun ist also sein gewichtiges Buch über Weltliteratur erschienen, ein Musterbeispiel für vergleichende Literaturbetrachtung. Denn Goethe war gut, aber wer die frische Luft des „Fremden“ geschnuppert hat, dem wird es in der Umzäunung seiner Nationalliteratur schnell zu eng. Er lernt, wie eines zum anderen gehört – ein Netz gegenseitiger Beeinflussung – und wie das universell Menschliche in jeder Maske und kulturellen Färbung durchbricht. (Roland Rottenfußer)

 „Doch gerade in einer Zeit, in der die Kategorien der Religion unverbindlich bzw. gefährlich, die der Politik unverbindlich bzw. aggressiv, die der Wirtschaft freundlich-destruktiv geworden sind, brauchen wir Welt-Literatur. Und zwar weder als Narkotikum noch als Ersatzreligion noch als elitäres Kulturgehege. Sondern als blickscharfe, sprachgenaue, phrasenfreie Denk- und Wahrnehmungsschule für jede und jeden, der lesen kann und will und muss.“

 Komparatisten vergleichen. Literatur mit Literatur. Texte verschiedenster Zeitepochen, Sprachen und Kulturen. Verschiedene Übersetzungen ein- und desselben Gedichts. Manchmal sogar die Literatur mit anderen künstlerischen Genres wie Musik und Malerei. Die Komparatistik als akademischer Zweig macht ein verbreitetes Manko der literaturwissenschaftlichen Arbeit wett, die zugleich auch politisch eher geistesverengend wirkt: die Überbetonung des Nationalen. Warum etwa sollten wir Fontanes grandiosen Gesellschafts- und Ehebruchsroman „Effi Briest“ preisen, Flauberts thematisch verwandten Klassiker „Madame Bovary“ oder Tolstois „Anna Karenina“ dagegen ignorieren, sofern wir die Grenze zwischen den „Nationalliteraturen“ überwinden können: durch Sprachen lernen oder die Verwendung einer Übersetzung?

Da wächst zusammen, was nie hätte getrennt werden dürfen. Weltliteratur ist das Stichwort. Wobei dem vergleichenden Betrachten noch ein viel essenziellerer Schritt vorgeschaltet ist: die Literatur anderer Sprachen und Kulturen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und als prinzipiell gleichberechtigt mit der „eigenen“ anzuerkennen. Das ist vom Prinzip her nichts Anderes, als was Integration und Inklusion heute auf der Ebene des praktischen Handelns von uns verlangen.

Weltliteratur – das bedeutet mehr, als unsere aus Böll, Thomas Mann und Kafka bestehende Lektüreliste gelegentlich durch „Schuld und Sühne“, „Jenseits von Eden“ und eine „Lear“-Aufführung im Stadttheater zu ergänzen. Dies kann es auch bedeuten. Aber wirkliche Kenntnis der Weltliteratur würde erfordern, sich – im Rahmen der verfügbaren Lebenszeit – mit der Literatur Indiens, Chinas und des islamischen Kulturkreises vertraut zu machen. Mit der griechischen Antike ebenso wie mit neueren spannenden Erzeugnissen des südamerikanischen Kontinents: García Márquez und Vargas Llosa etwa. Es bedeutet, nicht nur über den Untertassenrand der Germanistik hinauszuschauen, sondern auch über den darunter liegenden Tellerrand der gut erschlossenen benachbarten europäischen Literaturen.

Ohnehin haben wir es, wie Jürgen Wertheimer sehr deutlich macht, nicht nur mit den nebeneinander gestellten statischen „Blöcken“ der einzelnen Nationalliteraturen zu tun, sondern mit einem fließenden System vitalen Austauschs und gegenseitiger Beeinflussung – vorangetrieben durch die Schreibenden selbst, die in aller Regel auch begeisterte Lesende waren. Selbst wer mit Literaturbetrachtung nur am Gymnasium konfrontiert war, kennt Komparitistik. Wenn er zu seinem Leid- oder Freudwesen z.B. eine Aufgabe wie diese gestellt bekam: „Vergleichen Sie die unterschiedliche Deutung der Jeanne d’Arc-Figur in den Werken von Schiller, Anouilh und Brecht!“

Das war und ist höchst lohnend, so dass Bildungsnahe geneigt sind, Jürgen Wertheimer zuzustimmen, wenn er in seiner Einführung schreibt: „Eine Welt ohne Antigone und Emma Bovary, ohne Werther und Macbeth ist kaum vorstellbar“. Es mag sein, dass dieses Statement ein wenig zu kulturoptimistisch anmutet in einer Zeit, in der Filme wie „Fack ju Göthe“ reüssieren und der Big-Brother-Kultstar Zlatko ungestraft trällern durfte: „Ob nun Shakespeare oder Goethe, die sind mir doch scheißegal“. Aber gerade deshalb gilt es doch, ein Gegengewicht zu schaffen und nicht hinzunehmen, wie sich viele Zeitgenossen in die von Medien und Politik beförderten Verdummungsprozesse gleichsam hineinsinken lassen.  Wertheimer vergleich vieles, aber das Triviale und bloß Populäre bleibt als Vergleichsobjekt weitgehend außen vor – ein sinnvoller Akt der Selbstbeschränkung, denn „Weltsprache Literatur“ ist ein im buchstäblichen wie übertragenen Sinn gewichtiges Werk.

Das Frappierende an diesem Buchtitel ist, dass er uns zunächst gar nicht einleuchtet. Die Weltsprache – wenn man es nicht beim Englischen oder bei Esperanto belassen will –, das ist doch vor allem die Musik. Sie überwindet alles Sprachgrenzen, und auch, wer des Italienischen über Urlaubsphrasen wie „Buon giorno“ hinaus nicht mächtig ist, versteht ganz unmittelbar die Schmerzwonnen, von denen die Opernfiguren Puccinis oder Verdis überflutet werden. Hier provoziert Wertheimer gleich zu Anfang: „Weshalb sollte der Begriff Weltsprache Literatur nicht so selbstverständlich sein wie der der Weltsprache Musik?“ Diese Frage mündet als erste Antwort in ein Lob des Geschichtenerzählens. „Ohne die Geschichten und Figuren der Literatur fehlt uns der Schlüssel zum Verstehen der Zusammenhänge, der Bedeutungen, der Zugang zu den Gefühlen und Gedanken der Bewohner dieser Kulissen.“ Die Literatur als Raum- und Zeitkapsel, als Zugang zur Gesamtheit menschenmöglicher Gefühle, Gedanken und Dramen – und zwar weltweit sowie geschlechter- und klassenübergreifend.

Jürgen Wertheimer ist derzeit Professor in Tübingen. Ich selbst habe in seiner Münchner Zeit bei ihm studiert und ihn als rhetorisch mitreißenden Danton der Literaturbetrachtung kennen gelernt. Ich kann denjenigen unter meinen Leserinnen und Lesern, die sich quasi als Mitstudierende Teile der Weltliteratur zu erschließen versuchen, nur raten: Lest es, die Lektüre ist überaus anregend und erhellend. Sie schult in weit ausgreifendem und vernetztem Denken – dies in einer Zeit, die eher Spezialisierung und Geistesverengung als markttaugliche Produktionsfaktoren goutiert.

Literaturwissenschaft ist Widerstand, wenn sie so betrieben wird, also nicht als Museumsrundgang zwischen Stein gewordenen Säulenheiligen des Literaturkanons, sondern als Aufruf, mit und in Literatur zu leben. Mythen mischend und Zerrbilder zertrümmernd, deutet Wertheimer Literatur – auch Jahrhunderten alte – immer als etwas eminent Gegenwärtiges, das uns zum Mitfühlen und Mitdenken, zum schwärmenden, zweifelnden, gelegentlich Denkmäler bepinkelnden Lebensvollzug auffordert. „Doch die Literatur ist nicht nur Archiv der Vergangenheit, sondern auch Wegweiser durch die Gegenwart. Einer plurikulturellen Gegenwart der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, des vehementen Aufeinanderprallens von Gegensätzen wie auch universalistischer Vision einer Weltkultur.“

Man erkennt schon an diesem Absatz, dass Wertheimers Buch alles andere als das germanistische Pendant zu Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ sein möchte. Anspruchsvoll und den Wortschatz erweiternd, widersagt es dennoch allem Dünkelhaften, das im ausschließlichen Besteigen Weimarer „Höhenkämme“ läge. Literatur ist immer Anwalt des Einzelnen gegen die ihn vereinnahmenden Manipulations- und Menschenvernutzungssysteme. Denn so verschieden Geschriebenes auch sein mag – „im Kern gibt es eine überraschende Übereinstimmung. Sie ist immer Plädoyer für den Einzelnen, die individuelle Wahrnehmung und das Recht auf mögliche Um- und Irrwege und die fantasievolle Künstlichkeit dessen, was wir ‚Wirklichkeit‘ nennen.“ Man überprüfe dieses Statement anhand beliebiger Literatur-„Helden“ – von Antigone bis Don Quixote, von Eichendorffs „Taugenichts“ bis zu Etienne Lantier, dem Protagonisten von Zolas Sozialroman „Germinal“.

Literatur, wie sie Wertheimer versteht, ist nicht Weltflucht-Hilfe und Anleitung zur beschaulicher Fügsamkeit. Sie repräsentiert vielmehr „einen basisdemokratischen Prozess der Fremd- und Selbsterfahrung, zumeist am äußersten Rand des Erlaubten und Denkbaren.“ Gute Literatur beinhaltet Welt, ohne zur Hinnahme der in dieser Welt vorgefundenen Gegebenheiten zu verführen. „Auch weil sie in diesen Zeiten der mitunter paranoiden Ängste auf den Menschen setzt und dessen Würde – jenseits alles Phrasenhaften – bedingungslos verteidigt.“ Es ist ein großer emanzipatorischer Anspruch, den Wertheimer aus Weltliteratur heraus- und in sie hineinliest.

Einwände vorwegnehmend, rechtfertigt sich der Autor: „Alles, was man gegen dieses Buch vorbringen können wird, kann man auch gegen die ‚Welt wie sie ist‘ vorbringen. Es ist sprunghaft, inhomogen, redselig und fragmentarisch zugleich.“ Eine chrono-logische Vorgehensweise darf man nicht erwarten, wenn etwa Kafkas „Amerika“ dem Gilgamesch-Epos vorausgeht, woraufhin der Autor von „Tausend-und-eine-Nacht“ über Shakespeares „Sturm“ zum indischen Nationalepos „Mahabarara“ springt. „Göttliche Komödie“ (Dante) trifft auf „Menschliche Komödie (Balzac), Odysseus“ (Homer) auf „Ulysses“ (Joyce).

Besonders anregend – und für religiöse Wahrheitsbesitzer irritierend – ist Wertheimers Art, die Brücke zwischen Literatur und Religion zu schlagen. Der erklärte Aufklärer, der sich in politischen Reden nicht scheut, Lessings Ringparabel (aus „Nathan der Weise“) gegen Fanatiker jeglicher Couleur in Stellung zu bringen, stellt die Verbindung auf ziemlich brüske Weise her: Religion ist Kunst, weil sie künstlich ist. „Es gibt Texte, ‚Heilige Texte‘ gibt es natürlicherweise nicht. Heiliggesprochene Texte wurden und werden von Menschen gemacht, genau wie Heilige von Menschen gemacht werden. Und alle Werte, so gottgewollt sie erscheinen, sind aus Worten gemacht, bilden einen Dom aus Worten, wie Nietzsche es benennt.“ Und noch respektloser: „Verlagstechnisch betrachtet ist die Bibel wohl das, was man einen internationalen Longseller nennt“.

Der Autor liest Texte aus der Bibel also, ohne Weihrauchgewölk zu verbreiten. Das ermöglicht einen unvernebelten Blick. Im Einklang mit dem zuvor erwähnten Philosophen bricht er mit Gott, „der mit Abstand wirkmächtigsten menschlichen Kreation.“ Skandalöser noch im Abschnitt über die Evangelien, die Wertheimer nicht dem Bibelkapitel zuordnet, sondern ausgerechnet jenem über orientalische Märchen. „Könnte man das Neue Testament vielleicht sogar als frühen Vorläufer des modernen Romans bezeichnen?“ Die Erzählhaltung multiperspektivisch, der Protagonist unglücklich, gebrochen, dennoch ein „Sympathieträger“, ein Held nachgiebiger Innerlichkeit, stark nicht mit dem Schwert, sondern mit zündender Rhetorik.  Natürlich handelt es sich – daran lässt der Literaturexperte keinen Zweifel – bei Jesus um einen erfundenen Helden. „Literatur hat immer etwas mit Schwindel zu tun.“ Da wird dem Leser schwindelig.

Konsequenterweise wird auch der Koran nicht geschont, den der Autor uncharmant mit der Betrachtung des Skandals um Rushdies „Satanische Verse“ kombiniert. Hier setzt Wertheimer gegen den zeitgeistgemäßen „Kulturkampf“ der Abendlandbewahrer das Modell gegenseitiger kultureller Befruchtung, wobei der Strom der Inspiration klar eher von Nahost nach Nordwest floss. „Geht Europa jenseits des Hindukusch weiter, reicht es gar bis zum Hindukusch – wo wir Deutschland verteidigen, um einen gut gemeinten Politikersatz zu zitieren? Oder steckt die erhellende Einsicht dahinter, dass die abendländische Wertegemeinschaft insgesamt das Produkt mittelöstlicher, mediterraner Mythen ist?“ Die leitkulturelle Seinsweise des Mitteleuropäers, so macht Wertheimer klar, ist eine zusammengesetzte, ein Patchwork mehr als ein einheitliches Gebilde, das es mit geistigen Mauern gegen andrängende Osmanenstürme zu verteidigen gälte.

Auch der einseitigen Idealisierung des „Fremden“ enthält sich Jürgen Wertheimer jedoch, wenn dieses dem Grundwert vernünftiger Humanität widerspricht. „Der Westen lässt sich eine Diskussion aufdrängen, die längst nicht mehr die seine ist“, hält er jenen entgegen, die mit überschießender Toleranz selbst die Konzepte islamistischer Glaubensdiktaturen zu verstehen suchen. Da ist Wertheimer ein scharfzüngiger Settembrini wehrhafter Humanität. „Was in aller Welt bringt uns eigentlich dazu, Religionszugehörigkeit zur obersten Richtschnur des politischen Daseins zu machen?“ Im Koran dominiere „der Ton der Alternativlosigkeit, eines Diktats, das keine Ausreden gelten lässt.“

Das Potenzial von Mohammeds Werk liege jedoch im Prozesshaften, teils Widersprüchlichen seiner Darstellungsweise, „das dazu führen könnte, diesen Texte aus seiner ideologischen Versteinerung herauszulösen und zu beleben – jenseits dogmatischer Verhärtung.“ Und in der Summe: „‘Heilige Texte‘ wieder als literarische Texte zu lesen würde eine Befreiung von den Fesseln des Dogma darstellen. Welche Erweiterungsmöglichkeit, welche wahrhafte ‚Befreiungstheologie‘ erwüchse aus diesem Geist.“ Literatur gegen Wahrheitsanmaßung und Seelenverknöcherung – ein kühnes und zugleich einleuchtendes Konzept: „Weder ‚Kulturen‘ noch Geschichten existieren als abgeschlossene Entitäten. In diesem Sinne könnte ‚Weltliteratur‘ den Umstand bezeichnen, dass es keinen allumfassenden und alleingültigen Deutungsanspruch für Geschichten geben kann.“ Sind nicht tatsächlich die multiperspektivischen Geschichten immer die besten? Goethes Erzählgedicht „Erlkönig“ etwa, das dem anmaßenden „Es ist wahr!“ ein wägendes „Ist es wahr?“ entgegensetzt.

Literatur ist welthaltig und wirkt zugleich mitgestaltend auf die Welt ein. Niemals aber reduziert Wertheimer Literatur auf eine Funktion ähnlich dem holzschnittartig argumentierenden politischen Pamphlet. Immer hat die „Kunst“ ihr Eigenrecht und wirkt gerade darin befreiend, weil wahrnehmungsschulend und bewusstseinsweitend. Mit Tolstoi stellt der Autor in den Raum, „dass der ästhetischen Qualität nichts abträglicher ist als das Einsickern gesinnungs- und bekenntnishafter Momente.“ Tolstoi, der große Weltengestalter, der zugleich zum Weltverbessernd-Thesenhaften neigte und das Spannungsfeld zwischen Ästhetik und Engagement somit beispielhaft repräsentiert.

In seinem Aufsatz „Was ist Kunst?“ behauptete der russische Großschriftsteller – darin Wertheimer vorausgehend: „Die Kunst ist nicht, wie die Metaphysiker sagen, die Offenbarung irgendeiner geheimnisvollen Idee, der Schönheit Gottes; (…) vor allem aber ist sie kein Genuss, sondern ein für das Leben und das Streben auf das Wohl des einzelnen Menschen und der Menschheit notwendiges Mittel der Einigung der Menschen, das sie in ein und denselben Gefühlen vereinigt.“

 

 

Buchtipp:

Jürgen Wertheimer: Weltsprache Literatur. Die Globalisierung der Wörter. Verlag Claudia Gehrke. 450 Seiten, € 19,90

 

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