Die Nachbarn verstehen (3)

 In Frank Nonnenmacher, Politik (Ausland)

Wie mich die Engländer mehrfach eines besseren belehrten. Der dritte Teil seiner Reihe „Die Nachbarn verstehen“ führt den Frankreich-Experten Frank Nonnenmacher nach Großbritannien. Im Vorfeld des Brexis-Votums reiste er nach Südengland und erkundete in vielen persönlichen Gesprächen „Volkes Stimme“. Er analyisert die tieferen Ursachen der Unzufriedenheit der britischen Bevölkerung mit der EU und macht Lösungsvorschläge. Immer spielt dabei auch das ungelöste Thema „Migration“ eine entscheidende Rolle – ebenso wie die Unfähigkeit der Sozialdemokratie, eine Antwort auf die neoliberale Kulturdominanz zu geben. Wenn manche dabei auch an deutsche Verhältnisse denken, dürfte das vom Autor durchaus beabsichtigt sein (Frank Nonnenmacher).

Ein Reisebericht

Am dritten Juni 2016 fuhren Eva und ich nach Calais und starteten mit dem VW-Bus eine Rundreise durch Südengland von Dover bis zur Westspitze Cornwalls und zurück. Zeit genug, um die Stimmung vor dem Referendum über den Verbleib in der EU möglichst anschaulich und konkret mitzubekommen, um dann die Entscheidung am 23. Juni besser verstehen zu können. Unser tägliches Ziel waren die Fußgängerzonen und Marktplätze der kleineren und mittleren Städte von Sissinghurst, Crawley, Winchester, Salisbury, Lyme Regis, Dartmouth, Tavistock, Helston und Pensance und zurück über Bideford, Exeter, Wells, Sherborn, Chichester und Rye nach Dover.

Das erste, was auffiel, war dass wir etwas vermissten. Wir hätten erwartet, dass – ähnlich wie bei nationalen Parlamentswahlen üblich – die Straßen und Plätze mit Plakaten übersät wären und die Anhänger von „Remain“ und „Leave“ mit ihren Slogans werben würden. Weit gefehlt! Auch private Bekenntnisse – Aufkleber, Plakate in den Fenstern – gab es selten. Eine Tendenz konnten wir daraus nicht ablesen, allenfalls offensichtlich war, dass auf dem flachen Land manche Besitzer großer Farmen gerne überdimensionale Plakate „Vote Leave“ an ihre Zäune hängten. Das fand ich nicht weiter überraschend, wusste ich doch aus Frankreich, dass die Bauern für den Preisverfall landwirtschaftlicher Produkte gerne „Brüssel“ verantwortlich machten statt die erfolgreiche Erpressung durch die Lebensmittelkonzerne, die wiederum aber entsprechend der von allen kapitalistischen Staaten akzeptierten neoliberalen Ideologie in ihrer unternehmerischen „Freiheit“ als Marktteilnehmer nicht gestört werden dürfen.

Dann ging’s in die Fußgängerzonen. Tatsächlich: Überall – in gebührendem Abstand zueinander – Stände mit diskussionsbereiten Anhängern von „Leave“ und „Remain“. Auffällig: Die Remain-Menschen waren eher jünger, die „Leave“-Propagandisten durchschnittlich ältere Menschen.

Meinen ersten Reinfall erlebte ich dann sofort, als ich, von einem Broschüreverteiler gefragt, ob ich für oder gegen „Leave“ sei, meinte, ein fürs Gesprächsklima förderliche, ehrliche und ein wenig witzige Bemerkung zu machen, indem ich sagte: „Liebe Engländer, bitte lasst uns doch mit diesen Polen und diesen Ungarn nicht alleine“, selbstverständlich annehmend, dass mein Gesprächspartner verstehen würde, dass ich die derzeitigen nationalistischen und rechtsorientierten Regierungen dieser beiden Länder meinte. Gehört hatte mein Gesprächspartner nur „… diese Polen“ und gab mir sofort Recht: Auch er halte nichts von den Polen, die ja wie eine Invasion Großbritannien überschwemmten, den Briten die Arbeitsplätze wegnähmen und den National Health (das kostenlose britische Gesundheitssystem) ausnutzten.

Damit war das Thema gesetzt: Migration, Migration und immer wieder Migration. Zusammengefasste „Argumentation“, die mir mit Verve und dem Anspruch, eine unumstößliche Wahrheit zu äußern, vorgetragen wurde: Wir (England) wird überflutet von EU-Einwanderern, von Polen und Rumänen. Vor allem die Polen belasten das (kostenlose) Gesundheitssystem und nehmen den Engländern Arbeitsplätze weg. Schuld ist die EU, denn da herrscht Freizügigkeit. Bald kommen die Türken in die EU, dann wird es noch schlimmer. In manchen Städten spricht die Mehrzahl der Einwohner polnisch. Und für diese schlimme Entwicklung zahlen wir auch noch jedes Jahr Hunderte von Millionen Euro nach Brüssel. Dieses Geld können wir gut für unsere Schulen und unsere Krankenhäuser verwenden. Die Gesetze werden nicht mehr in London, sondern in Brüssel gemacht; wir haben gar keine Autonomie mehr über unsere Gesetzgebung. Und außerdem sind Leute wie Juncker gar nicht demokratisch gewählt. Wir wollen wieder über unser Land selbst entscheiden. „We want our country back“, einer der am häufigsten zu sehenden Slogans. (siehe Foto)

In Chicester dann der Gipfel: Am Leave-Infostand eine mittelalte sehr freundliche Dame, die in mir, dem älteren Deutschen, sofort einen Leidensgenossen sieht: „Oh, you have Mrs. Merkel – she is a communist. She invited millions arabs in your country!“ Erst halte ich es für einen Witz, lache laut, was sie mir aber gar nicht übel nimmt. Sie hält mich wohl für uninformiert und klärt mich auf: „Doch, doch, sie kommt doch aus der kommunistischen DDR und war dort kommunistische Jugendfunktionärin.“

Zwar hatte ich mir vorgenommen, den Habitus eines zurückhaltenden und lediglich Fragen stellenden Feldforschers einzunehmen, um möglichst von mir unbeeinflusste Haltungen zu erfahren, schaffte dies aber fast nie. Über zunächst vorsichtige Nachfragen, wie „Aber was meinen Sie zu folgendem Argument: …?“ geriet ich regelmäßig ins Argumentieren: Großbritannien habe doch gar nicht einen solche enormen Wanderungszuwachs (2014/15: 330 000), etwa im Vergleich zur BRD (2014: 577 000, 2015 sogar 1,1 Millionen). Entscheidend sei ohnehin nicht die Zahl, sondern die Frage, ob die Einwanderer Arbeitskräfte und Steuerzahler würden, wie das doch bei den Polen in England überwiegend der Fall sei. Außerdem sei das mit der Überbevölkerung Großbritanniens (262 Einw./km²) ein Mythos. Man sehe doch an den Niederlanden (406 Einw./km²) oder Belgien (342 Einw./km²), dass das für den Wohlstand eines Landes nicht entscheidend sei. Es stimme, dass Großbritannien ein Nettozahler in der EU sei (ca. 5 Mrd. jährlich), die BRD aber zahle fast das Dreifache, selbst Italien, mit weniger Einwohnern als GB, zahle mehr. Dafür habe der „Britenrabatt“ gesorgt und eigentlich sei dies den anderen Ländern gegenüber ungerecht. Und schließlich seien diese Zahlen völlig unerheblich für die Frage, ob ein Land einen Nutzen habe von der EU oder nicht. Schließlich sei es doch so, dass durch die erfolgten Strukturfördermaßnahmen bei den Nettoempfängern der gemeinsame Markt Ländern wie Deutschland, England und Frankreich erhebliche ökonomische Exportchancen eröffnet habe. Und das mit den Türken sei ja wohl an den Haaren herbeigezogen – und überhaupt, in Großbritannien habe man doch mit Einwanderung positive Erfahrungen gemacht…

Natürlich wollte ich auch zeigen, dass ich kein naiver Europabegeisterter war, dass auch ich meine Kritik an der EU habe. „Ja, die EU hat schwere Demokratie-Defizite, und der neoliberale Kurs, den Deutschland der ganzen EU aufzwingt, gefällt mir gar nicht. Der Widerspruch zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum, zwischen massenhafter Jugendarbeitslosigkeit und Anhäufung des Reichtums bei wenigen bei gleichzeitiger Geldverschwendung zur Rettung der Banken ist eine Entwicklung, die die führenden EU-Staaten herbeigeführt haben. Das alles muss sich ändern, und ich meine, man muss in der EU dafür kämpfen.“ Die Strategie des Zurück-zum-Nationalstaat spiele nur den Nationalisten in allen Ländern in die Hände und der Nationalismus sei die eigentliche Gefahr in der aktuellen Welt; die Geschichte zweier Weltkriege zeige doch … Kurz und gut, ich hatte nicht den Eindruck, dass ich auch nur einen Leave-Ideologen zum Um- oder auch nur zum Nachdenken gebracht habe.

LeaveEngland2Entsetzt war ich auch über die offene Parteilichkeit der britischen Presse. Da wurde in großen Lettern das Überbevölkerungschaos an die Wand gemalt: Boris Johnson hatte am 5. Juni zweifelhafte Prognosen verbreitet: „UK population will hit 80 million if we stay“ Und: “How will it work for schools and hospitals and all the public services that will be affectet?” (“Die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs wird 80 Millionen überschreiten, wenn wir drin bleiben.“ „Wie soll das für die Schulen, Krankenhäuser und öffentliche Dienste funktionieren?“) Diese 80 Millionen Einwohner (z.Zt: 64 Mio) würde Großbritannien haben, wenn die Türkei Mitglied der EU würde und dann die Türkenflut über England käme. Cameron meinte dann, nach dem eventuellen Eintrittsdatum der Türkei in die EU gefragt, die Gemüter zu beruhigen, indem er antwortete: „Im Jahre 3000!“

Die immer als unerschütterbares Zukunfts- und Horrorszenario zitierte Zahl von 80 Millionen begegnete mir danach fast täglich in den Gesprächen mit Leave-Befürwortern. Nur einige Beispiele: Das Massenblatt „sun“ montierte in einem anschaulichen Bild eine Reihe umstürzender Dominosteine mit dem schon umgefallenen Griechenland an erster Stelle, dem schließlich auch Großbritannien unweigerlich folgen muss, wenn es in der EU bleibt („sun“ am 8. Juni). Am 14. Juni appellierte die sun auf der Titelseite: „BeLEAVE in Britain“ („Glaube an Großbritannien!“), wobei der Wortteil „leave“ in Großbuchstaben gedruckt und mit der Nationalflagge unterlegt war. Und damit es auch der letzte begreift, hieß der erste Satz des Front-Page-Artikels (siehe Foto): „We are about to make the biggest political decision of our lives. The SUN today urges everyone to vote LEAVE“ („Wir sind dabei, die wichtigste politische Entscheidung in unserem Leben zu treffe. Die SUN fordert alle auf, für LEAVE zu stimmen.“)

Der „Daily Express“ titelte am 14. Juni: „PROOF WE CAN’T STOP MIGRANTS“ („Beweise, dass wir die Migranten nicht stoppen können“), und selbst die meist sich seriös gebende „Times“ referierte in neutral daherkommender Weise die Umfrageergebnisse, was dann in der Schlagzeile vom 14. Juli sich so las: „Britain on course for Brexit after poll surge“ (“Britannien auf Kurs für Brexit nach den Meinungsumfragen”).

Und als Schäuble die einfache Tatsache betonte, dass ein Austritt aus der EU das Ende des freien Zugangs zum europäischen Markt bedeutet, scheute sich die Times nicht, antideutsche Untertöne in die Debatte zu bringen, indem sie titelte: „Germany’s EU threat to Britain“ („Deutsche EU droht den Briten“ – „Times“ am 11. Juni 2016). Den Gipfel der Scheinheiligkeit leistete sich dann die „sun” am Tag nach dem Mord an der beliebten Remain-Politikerin Jo Cox. Im Leitartikel mit der pastoralen Überschrift „Her life was a lesson to us all“ (etwa: „Ihr Leben war für uns alle ein Vorbild“) zerstreuten die Herausgeber vorsorglich jeden Verdacht, dass diese Tat etwas mit den oft unter die Gürtellinie gehenden Attacken von Farrage, Johnson und der „sun“ selbst zu tun haben könnte. Nachdem es in diesem Leitartikel ganz klar hieß „The Sun is campaigning for Leave“ („Die sun führt eine Kampagne für Leave“), wurden zwei Zeilen weiter scheinheilig die Tugenden einer „frank and honest debate“ („offenen und respektvollen Debatte“) beschworen und das Leave-Lager freigesprochen, denn „Supporters of both Remain and Leave routinely cross the line.“ (Die Anhänger beider Lager, Remain und Leave, haben regelmäßig die rote Linie überschritten.“)

Entspannte Gespräche hatte ich mit den Remain-Befürwortern. Die vorwiegend jüngeren Diskutanten hielten viel von der persönlichen Freizügigkeit Europas und betonten auch eher Werte wie Völkerfreundschaft, Friedenshoffnung und die Vision eines vereinten Europas. Allerdings war von Anfang an deutlich, dass ihre argumentative Strategie notwendigerweise defensiv war. Das strategische Narrativ war von Anfang an vorteilhaft für die Leave-Kampagne, die auf Grund einer Kritik am Bestehenden eine klare – positiv erscheinende – Antwort hatte, die mit etwas Neuem und positiv Konnotiertem verbunden war: Gewinnung der Unabhängigkeit, Souveränität und Befreiung von der Fremdbestimmung. Die (in Wahrheit unbekannte) Zukunft enthalte die Hoffnung, dass alles besser werde. Das Narrativ der Remain-Kampagne war demgegenüber vergleichsweise kompliziert: Das bestehende System, an dem sehr wohl viel zu kritisieren war und ist, musste trotz seiner Fehler als etwas Wünschens- und Erhaltenswertes dargestellt werden.

Kurz vor der Abstimmung war ich dennoch zuversichtlich, dass die Mehrheit letztlich das Abenteuer eines Austritts aus der EU bei völliger Unklarheit über die realen Folgen nicht wagen würde. Als dann das Resultat feststand, stellte sich bei der näheren Analyse des Wählerverhaltens heraus, was schon vorher auch mein Eindruck war: Das Leave-Lager hatte seinen Rückhalt eher bei der Landbevölkerung und bei den Älteren. 60% der über 65-jährigen hatte für den Brexit gestimmt; für Remain waren mehrheitlich die Universitätsstädte und die Jüngeren: 66% der 18-24jährigen hatten für den Verbleib in der EU gestimmt. Allerdings war die Wahlbeteiligung sehr unterschiedlich. Während die Älteren leicht überdurchschnittlich (zu 75%) zur Wahl gingen, waren es bei den Jüngeren weniger als die Hälfte. Dass viele von ihnen ihre Abstinenz anschließend bedauerten, schließen Beobachter aus der Tatsache, dass es nach den Wahlen eine Häufung von clicks auf Internetseiten gab, die die Folgen eines Brexit erklärten.

Die Lehren aus dem Brexit

Nun haben die Briten also entschieden. Die Folgen können wir momentan noch nicht sicher abschätzen, zumal man noch nicht einmal sicher sein kann, wann und sogar ob es überhaupt zu einem formellen Austrittsbegehren der britischen Regierung (welcher überhaupt?) kommen wird. Wohl aber kann man analysieren, welche europapolitischen strukturellen Ursachen zu diesem Ergebnis geführt haben.

Hier sind zunächst folgenreiche wirtschaftspolitische Grundentscheidungen zu nennen, die in den letzten 30 Jahren Europa geprägt haben, und die man sich vor Augen führen muss, um zu erkennen, wo wir heute stehen: Margaret Thatcher war die erste, die durch konsequente Deregulierung den Wohlfahrtstaat abbaute, Staatsunternehmen wir British Telecom oder British Airways privatisierte und Gewerkschaftsrechte beschränkte. Die englischen Bergarbeiter streikten gegen Zechenschließung und Privatisierung so lange, bis den Gewerkschaften das Geld ausging und sie aufgeben mussten. Das Ergebnis des Thatcherismus war bewusst in Kauf genommener sozialer Abstieg, verbunden mit privater Verschuldung für breite Teile der „working class“.

Mit Tony Blairs „New Labour“ kam dann eine Absage an den eigenen linken Flügel, eine Abkehr von allen klassenkämpferischen und sozialistischen Grundlagen und eine Hinwendung zur „sozialen Marktwirtschaft“. Das Schröder-Blair-Papier vom Juni 1999 brachte dann die europäische Sozialdemokratie auf Linie: Unter dem schönen Begriff der „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ wurden alle die Grausamkeiten schon angedeutet, die die zukünftige Leitlinie des Regierungshandelns sein sollten. Die Hoffnung war, dass eine blühender Kapitalismus nach der Trickle-down-Theorie („Wenn man einem Pferd genug Hafer gibt, wird auch etwas auf die Straße durchkommen, um die Spatzen zu füttern“) letztlich auch der arbeitenden Bevölkerung zu Gute kommt. Als dieser Effekt ausblieb, wurde weiter privatisiert (z. B. Müllabfuhr) und nach dem Finanzcrash dann erst unter Gordon Brown (Labour) und dann unter David Cameron (Konservative) weiter eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik fortgesetzt. Ein weiterer wichtiger Meilenstein war dann (in der rot-grünen Koalition!) das angeblich so positive Schröder-Modell mit seiner Agenda 2010: Die Senkung der Lohnnebenkosten durch Erhöhung der Sozialabgaben der Lohnabhängigen, die Aufweichung des Kündigungsschutzes, die Verschärfung der Zumutbarkeit für Arbeitsplatzangebote, der Ausbau schlecht bezahlter Leiharbeit, die Hartz-„Reformen“, die für viele nach einem Jahr Arbeitslosigkeit das Abrutschen in die Armut bedeuteten. Nach dem Finanzcrash und dem Verpulvern Hunderter von Milliarden zur Rettung der Banken kam, dann die Merkel-Schäublesche Sparpolitik, die bis heute für alle europäischen Staaten zu einem Spardiktat geworden ist.

Das Ergebnis dieser neoliberalen Wirtschaftspolitik ist bekannt: Ein skandalöses Auseinanderklaffen der sozialen Schere zwischen dem unerträglichen Reichtum für wenige und sozialer Not bis zur Langzeitarbeitslosigkeit für viele, dramatische Jugendarbeitslosigkeit in vielen europäischen Ländern, paradiesische Verhältnisse für Großkonzerne, die sich angesichts der konkurrierenden Unternehmenssteuersätze die Länder aussuchen können, in welchen sie wenig bis gar keine Steuern zahlen, Menschen, die zwei und drei Billigjobs annehmen müssen, um sich über Wasser zu halten. Im Ergebnis muss man feststellen: Die neoliberale Angebotspolitik, die sowohl von den europäischen konservativen (wenig überraschend), aber auch von den meisten sozialdemokratischen Parteien getragen und nach wie vor praktiziert wird, hat versagt. In Großbritannien hat es offensichtlich eine breite Front „gegen Europa“ gegeben, und zwar weil viele Strömungen, die wenig gemeinsam haben, zusammenkamen: eine breite (national-)konservative Mittel- und Oberschicht, die schon deshalb gegen Remain war, weil der Cameron mit einem Ja zur EU seine eigene (übrigens lange unklare) Position stärken wollte, eine nationalistische Strömung, die mit Farrage und Boris Johnson ideale Demagogen gefunden hatte, die sich für keine Verfälschung und Pauschalisierung zu schade waren und schließlich Enttäuschte in großer Zahl, frühere Labour-Wähler und sogar -Mitglieder, die ihre Erwartungen an einen ausgleichenden Sozialstaat verraten sehen, und dabei neben ihrer Partei nicht ganz zu Unrecht „Europa“ (sprich: die Resultate der europaweit herrschenden Politik des Neoliberalismus) verantwortlich machen.

Eine zweite zentrale Ursache für das Brexit-Ergebnis sehe ich in der Problematik der Migration und zwar genauer: in der nicht vorhandenen Strategie der europäischen Staaten in dieser Frage, die im Ergebnis dazu führt, dass man in allen Ländern den Eindruck von Planlosigkeit hat. Und so ist es ja auch. Zunächst einmal ist es weder der europäischen Kommission, noch dem Straßburger Parlament, noch in den einzelnen Regierungen gelungen, eine für jeden Analytiker der internationalen Entwicklung der letzten 50 Jahre offensichtliche Tatsache als selbstverständliche Erkenntnis und grundsätzliche Denkvoraussetzung in den Köpfen der Menschen zu implementieren: Die wichtigste Fluchtursachen der letzten Jahrzehnte haben vor allem zwei Gründe: Es sind die unverantwortlichen und imperialistisch motivierten Kriege des Westens, vor allem der USA unter tatkräftiger Mitwirkung der Bündnispartner. Weil das so ist, muss der Westen auch eine Verantwortung für die Folgen übernehmen. Zweitens – und genau so wichtig – haben die Industrienationen allesamt eine Mitschuld dafür, dass viele Länder Afrikas und Asiens systematisch an einer wirtschaftlichen Entwicklung gehindert wurden und durch Ausbeutungsverhältnisse bis heute gehindert werden. Zu nennen sind zum Beispiel die nach wie vor von den Industrieländern bzw. von Großkonzernen gesteuerte Regierungen und deren Wirtschaftspolitik, die Förderung von Monokulturen, die Verhinderung des Aufbaus eigener Halb- und Fertigproduktionen durch Handelshemmnisse, der Zwang zum Export mineralischer und agrarischer Rohstoffe, die Überfischung der Gewässer durch Fangflotten, die Landkäufe und der rücksichtslose Raubbau an der Natur, z. B. durch Waldvernichtung.

Weil die Ursachen der Fluchtbewegungen vor Krieg und Terror und/oder vor sozialem Elend eben nicht als von „uns“, den Industrieländern, mitverschuldet betrachtet werden, kann der völlig absurde Blick entstehen, dass nicht die Flüchtlinge die Opfer, sonder „wir“ die Leidtragenden sind, wenn sie in großer Zahl bei uns Schutz und eine lebenswerte Zukunft suchen.

Vor diesem Hintergrund ist es dann besonders fatal, dass die Menschen in den jeweiligen europäischen Staaten (zu Recht) den Eindruck haben müssen, dass mit jeder aktuell ansteigenden Zahl von ankommenden Flüchtlingen eher Chaos und gegenseitiges Zuschieben der Verantwortung herrschen, als ein vernünftiges und planvolles Umgehen mit dem Problem. Notwendige kollektive Vereinbarungen über Quoten werden regelmäßig diskutiert und scheitern ebenso regelmäßig, selbst wenn sie beschlossen sind. Als die Flüchtlinge 2011 bis 2014 vorwiegend übers Mittelmeer in Italien ankamen, zeigte die deutsche Regierung, ebenso wie die französische und andere, wenig Neigung, dem Appell der italienischen Regierung, Aufnahmequoten zu beschließen, Folge zu leisten. Als dann die BRD 2015 selbst über die Balkan-Route betroffen war, ging es der deutschen Bundesregierung mit der gleichen Forderung genau so. Bis heute gibt es keine stringente gemeinsame europäische Strategie. Im September beschloss die Kommission in Luxemburg, nach einer Quote, wenigstens 160 000 Flüchtlinge in Europa zu verteilen. Der ungarische Regierungschef erklärte, seine Quote sei „0“. Eine verbindliche Quote wurde bis heute nicht festgesetzt. Im Januar 2016 erklärte die EU-Kommission, dass inzwischen 272 Flüchtlinge (kein Druckfehler) gemäß dem Luxemburger Beschluss verteilt seien.

Im Ergebnis entsteht der Eindruck, weder die Einzelstaaten noch die EU als Ganzes seien in der Lage, mit dem Problem der nach Europa kommenden Migranten, ja noch nicht einmal (im Falle der osteuropäischen Arbeitsmigranten) mit der binneneuropäischen Migration vernünftig umzugehen. Vor diesem Hintergrund gelingt es rechtsextremen und nationalistischen Strömungen wie in Großbritannien der UKIP (United Kingdom Independence Party), erfolgreich die Botschaft zu transportieren, da die herrschenden Regierungen keine Kontrolle über die Einwanderung hätten, ja diese auch gar nicht wirklich anstreben würden, müsse „das Volk“ für einen radikalen Einwanderungsstopp sorgen und die jeweilige rechtsradikale Partei sei die einzige politische Kraft, die dies wolle. Genau dies war das Narrativ, mit dem Johnson, Farrage und die „sun“ unermüdlich arbeiteten: Wer für „Remain“ stimmt, ist für unkontrollierte Einwanderung, wer für „Leave“ stimmt, für die Begrenzung der Migration.

So kam es, dass das Zusammentreffen verschiedener „positiver“ Zukunftserwartungen zur Mehrheit für Leave führten:
– die Wiedergewinnung verloren geglaubter nationaler Autonomie bis hin zur moralischen (Re)Legitimierung nationalistischer Einstellungen
– die Wiedergewinnung sozialer Sicherheit und das Ende des tatsächlich schon eingetretenen oder befürchteten sozialen Abstiegs
– das Ende der Notwendigkeit sich mit dem „Fremden“ auseinandersetzen zu müssen und die Kontrolle über die Migration in der eigenen Hand zu haben

Die Bilanz

Die „freie“ Marktwirtschaft kann und will keine sozial gerechten gesellschaftlichen Verhältnisse herbeiführen. Ihr Prinzip ist nicht zwar (ökonomische!) Freiheit, aber nicht Gleichheit und Brüderlichkeit, ist nicht Moral, sondern Konkurrenz. Die kapitalfreundliche angebotsorientierte Wirtschaftspolitik produziert in vielen europäischen Gesellschaften Verarmung, vor allem bei Alleinerziehenden, deren Kindern und Alten. Das vor allem von Deutschland den europäischen Ländern aufgezwungene Spardiktat verschafft einzelnen nationalen Bilanzen Exportüberschüsse, vergrößert aber sowohl die innergesellschaftliche Spaltung in allen Ländern als auch die Spaltung zwischen den hochentwickelten exportorientierten (Weltmeister Deutschland) und den exportschwachen Ländern wie Griechenland, Spanien, Italien und sogar Frankreich.

Diese verhängnisvolle Politik wird in vielen Ländern von sozialdemokratischen Regierungen betrieben, bzw. in Koalitionen mitbetrieben. Die europäische Sozialdemokratie, historisch die Partei des demokratischen Sozialismus, ist so offensichtlich ins Lager der Neoliberalen geschwenkt, dass große Teile der Unterschicht sie nicht mehr als „ihre“ Partei verstehen und sich enttäuscht von ihr abwenden. Nicht wenige sagen sich, wenn es denn nur noch darum geht, den real existierenden Kapitalismus so auszugestalten, dass die Trickle-down-Theorie funktioniert und lediglich die übelsten Auswüchse abgewendet werden müssen, dann kann das die angeblich „wirtschaftkompetente“ konservative Partei (in Deutschland die CDU und neuerdings wieder die FDP) besser als Sozialdemokratie. Letztere hat schließlich (nicht nur in Deutschland) gezeigt, dass – einmal am Ruder – von ihr der arbeitenden Bevölkerung schamlos harte Lasten aufgebürdet werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der jeweils nationalen Wirtschaft zu erhöhen, wie Tony Blair mit „New Labour“, Gerhard Schröder mit der „Agenda 2010“ und François Hollande mit dem „Loi El Khomry“ gezeigt haben.

Dass die Grünen – einst Hoffnungsträger einer linken Gesellschaftsveränderung – alles daran setzen, „offen“ gegenüber den Wirtschaftsinteressen und koalitionsfähig nach allen Seiten zu sein, macht sie für bürgerliche Mittelschichten attraktiv, die es sich leisten können für fair gehandelten Kaffee und Öko-Strom ein wenig mehr zu zahlen, nicht aber glaubwürdig im Kampf für eine gerechtere Gesellschaftsordnung. Wenn es dann noch gelingt, wie dies in Deutschland perfekt geschieht, einer linken Alternative jede Glaubwürdigkeit zu nehmen, indem man mit ihr kontrafaktisch die Verantwortung für Mauer und Stacheldraht assoziiert und sie als 5. Kolonne Moskaus diffamiert, ist bei vielen Orientierungslosigkeit ein Resultat.

In Zeiten von Abstiegsangst und Orientierungslosigkeit ist bekanntlich die Empfänglichkeit für einfache Erklärungen und für Sündenbocktheorien günstig. Hier bieten die rechtsextremen Parteien in gleichlautender Rhetorik entsprechende Erklärungen, wonach die Hoffnung allein in der Rückkehr zum Nationalstaat liegt und alle tatsächlichen oder vermeintlichen Missstände den Migranten zugerechnet werden (Mietpreise, Lohnsenkungen, Arbeitslosigkeit, Wartezeiten im Krankenhaus, sinkendes Rentenniveau, Fehler im Gesundheitssystem), gerade so, als ob eine von Fremden gereinigte Gesellschaft die Lösung aller Übel bedeutete. Täuschen wir uns nicht: In fast allen europäischen Ländern stehen die Nationalisten und Xenophoben schon in den Startlöchern. Sie werden das britische Beispiel kopieren und Frexit-, Nexit-, Öxit- Kampagnen lostreten. Und ein Blick auf ihre letzten Wahlergebnisse zeigt, dass es längst nicht mehr 5-Prozent-Parteien sind, sondern dass sie an die Pforten der Macht klopfen: Nationalistische Parolen hören wir unisono z.B. von Geert Wilders (Partei für die Freiheit), Marine Le Pen (front national) oder Karl Heinz Strache (FPÖ) und Gesinnungsgenossen in vielen europäischen Ländern.

Gehör finden sie, wenn man den Eindruck gewinnen muss – und so ist es zur Zeit durchgängig – dass weder die einzelne nationale Regierung und noch weniger die europäischen Institutionen ein schlüssiges Konzept haben, weder eine (gemeinsame!) kritische Selbstreflexion in Bezug auf die Ursachen, noch auf die Bekämpfung der Fluchtursachen und – am allerpeinlichsten – noch nicht einmal im Hinblick auf eine gemeinsame Aufnahmepolitik, ja, auch Quoten, der europäischen Staaten.

Was ich mir infolgedessen wünsche:
– Die deutsche Bundesregierung muss ihre Rolle als ökonomischer Schulmeister Europas beenden. Der deutsche Weg zu Wachstum und Wohlstand muss nicht ganz Europa aufgezwungen werden, zumal schon von der Logik her der Exportüberschuss des einen das Exportdefizit des anderen sein muss.
– Die Bundesregierung und Schäuble voran lösen sich von ihrem Mantra der Sparhaushalte, und Deutschland setzt sich dafür ein, dass in allen Europäischen Ländern Arbeitsplatzbeschaffungsprogramme, wenn es sein muss auch durch Schulden finanziert, werden dürfen. Begründung: Die gegenwärtigen sozialen Krisen in den einzelnen Staaten und die damit einhergehenden gefährlicher nationalistischen Strömungen stellen letztlich eine Existenzgefahr für die EU dar, die dringend quasi eines kollektiven Marshall-Planes bedarf. Die Staaten dürfen nicht zusehen, wie der „freie“ Markt immer dramatische Verhältnisse schafft und müssen als steuernder Staat durch Investitionen (Wohnungsbau, Straßenbau, Schulbau, Gesundheitssystem, Bildungssystem…) Arbeitsplätze und lebenswerte Verhältnisse für alle schaffen. Die ohnehin ständig missachteten Konvergenzkriterien können zu diesem Zweck in einem definierten Rahmen partiell außer Kraft gesetzt werden. Eine Gegenfinanzierung kann durch dann steigende Steuereinnahmen und weitere Maßnahmen (s. u.) geschehen.
– Die BRD muss ein Einwanderungsgesetz beschließen, damit legale Einwanderung möglich ist und nicht jedeR MigrantIn auf den Weg des Asyls angewiesen ist.
– Die EU-Kommission, das EU-Parlament, die nationalen Parlamente und Parteien müssen das Migrationsproblem als gemeinsames Problem erkennen und – statt auf Abschottung zu setzen – sich als Mitverursacher bekennen und ein einvernehmliches flexibles Quotensystem entwickeln.
– Eine europäische Initiative mit dem Ziel der Angleichung der Unternehmenssteuern wird gestartet, damit die innereuropäische Konkurrenz um die günstigsten Steuersätze für Unternehmen (zur Zeit bis hin zu 0%) beendet wird. Die Politik der skandalösen Reichtumsvermehrung der Konzerne und der Verarmung der öffentlichen Hände muss beendet werden.
– Die Finanztransaktionssteuer muss endlich eingeführt werden.

Ohne eine veränderte Sozialdemokratie wird all das nicht gehen. Die aktuellen Versuche des SPD-Chefs Gabriel, die „Frage der sozialen Gerechtigkeit wieder mehr in den Mittelpunkt zu rücken“ wären ein Hoffnungsschimmer, wenn man nicht befürchten müsste, dass dies wieder einmal der Versuch ist, vor den Wahlen 1917 links zu blinken, um dann wieder rechts abzubiegen und mit der CDU in einer großen Koalition kleinlaut weiterzumachen wie bisher. Vielleicht sind es ja die zivilgesellschaftlichen Kräfte einschließlich der sich aus ihrer Nibelungentreue lösenden Gewerkschaften, die hier massiven Druck ausüben werden. Die Hoffnung gebe ich nicht auf.

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