Zen – Die Kunst des Weglassens
Wir erkranken am Komplexen und ruhen aus in der Einfachheit. Lebensweisheit, Glück, ja Erleuchtung basieren auf der Fähigkeit, zu reduzieren. Eine wahnhafte Wachstumsideologie hat uns dies nur vergessen lassen. Wir müssen wieder üben, uns auf fast nichts zu beschränken – um alles zu gewinnen. Zen ist eine traditionelle spirituelle Schule, die dabei hilft. (Roland Rottenfußer)
Mein Sesshin-Leiter blieb für eine Weile in der Stille. Dann sagte er: „Wenn du nach Hause gehst, schau nicht, was du hinzugewonnen hast. Schau, was du verloren hast: vielleicht eine Illusion oder ein falsches Selbstbild.“ Ein Sesshin ist ein längeres Meditationsseminar der Zen-Tradition. Man sitzt 15mal eine halbe Stunde pro Tag in Stille. Im Dokusan (Einzelgespräch) saßen der Leiter und ich einander im Meditationssitz gegenüber. Seine Antwort galt der brennenden Frage der westlichen Kultur: „Was bringt es?“ Wie kann ich von dem Seminar profitieren? Welche Eindrücke, welche „Kicks“ werde ich meinem bisherigen Erfahrungsschatz hinzufügen können? Frag nicht so, wollte der Leiter sagen: Wenn du wissen willst, was es gebracht hat, frag, was weggefallen ist.
Dieses Denken ist uns zutiefst fremd. Eine einseitige Wachstumsideologie hält unsere Köpfe und Herzen besetzt. Diese betrifft nicht nur das Wirtschafts- und Zinssystem. Auch im geistigen Bereich wird unreflektiert der Begriff „spirituelles Wachstum“ gebraucht. Man wird verführt, sich die Egolosigkeit wie eine Trophäe an die Brust zu heften. Das Hinzufügen von immer mehr gilt als gleichbedeutend mit dem Guten schlechthin. Mit Begriffen wie „Nullwachstum“ und „Minuswachstum“ verleugnen wir die Notwendigkeit von Schrumpfungsprozessen, die es in der Natur überall gibt. Als wäre es der Inbegriff menschlichen Versagens, wenn etwas weniger wird.
Wie wohltuend war da mein Zen-Sesshin, das ich zum Einstieg in das neue Jahr am Ammersee besuchte. Es wurde zu einer Lehrveranstaltung im Weglassen, einem Fest der Reduktion. Weggelassen wurde zunächst das unaufhörliche Gerede der Seminarteilnehmer untereinander. Bei Tisch: Stille. Kein Blick bohrte sich fordernd in meinen, als wollte er sagen: „Wer bist du denn? Zeig erst mal, was du drauf hast.“ Ich war allein mit meinen Gedanken – immer. Weggelassen wurde Musik und jeder Medienkonsum. Weggelassen wurde auch unnötiger Schnickschnack bei der Zubereitung des Essens. Biologische Schalenkartoffeln. Frischer Rosmarin. Etwas Butter. Salz.
In der Meditation entfielen schließlich alle visuellen Reize. Man schloss die Augen oder starrte auf den Parkettboden. Natürlich kommen da Gedanken und Gefühle hoch, aber auch die wird man, wenn die Meditation gelingt, nach und nach weglassen. Weglassen wird man am Ende auch jede Absicht, wegzulassen. Die Gier nach immer mehr Gedankenstille verklingt. Man lässt die Gedanken, die Körperwahrnehmungen, die wenigen akustischen Eindrücke kommen und gehen. Es ist wie es ist. Ich beobachte nur. Und überhaupt: Wo ist da ein „ich“?
Zen ist von jeher eine Kunst des Weglassens. Betrachtet man Zen-Zeichnungen, so scheinen alle Formen aus einem weißen Nebel aufzutauchen: Die Zweige der Bäume. Pagodenbauten. Menschen mit gleichmütigem Gesicht. Hügel in der Ferne. Sie scheinen aus dem Nichts in die Erscheinung zu treten und wieder ins Nichts zurückzukehren. In Zen-Gärten findet man oft einen „See“ aus feinem Sand, von einem Rechen mit feinen Linien durchzogen. In der Mitte ein großer Stein. Ein Zendo, ein Meditationsraum, ist stets schmucklos, die Einrichtung auf das Nötigste beschränkt.
Ein sehr liebenswerter Vertreter des Zen ist der japanische Dichter und Kalligraph Ryokan (gest. 1831). Die letzten 35 Jahre seines Lebens verbrachte er in einer Einsiedelei in den Bergen Japans. Das Leben dort war hart, vor allem im Winter. Dennoch war Ryokan für seine Heiterkeit und Offenheit bekannt. Ohne das salbungsvolle Getue eines „Meisters“ spielte er gern mit Kindern, liebte Tiere und trank mit den Bauern einen Sake. Obwohl seine karge Hütte fast nichts enthielt, wurde er eines Nachts von einem Dieb besucht. Als Ryokan heimkam und die Enttäuschung des Einbrechers sah, hatte er Mitleid und schenkte ihm sein Gewand. Unter dem Eindruck dieses Vorfalls verfasste Ryokan ein berühmtes Haiku (Kurzgedicht):
Der Dieb liess ihn da:
Dort im Fensterrahmen steht
der leuchtende Mond.
Wir kennen solche Geschichten auch im Westen. Bekannt ist etwa das Märchen „Hans im Glück“: Hans erhält einen Goldklumpen, tauscht den gegen ein Pferd. Das Pferd tauscht er gegen eine Kuh, dieses gegen ein Schwein, usw. – bis er bei einem Wetzstein angelangt ist. Der aber fällt in den Brunnen. Hans kniet nieder und betet: „Ich danke dir Gott, dass du mich von allem unnötigen Dingen befreit hast.“ Hans ist jetzt der glücklichste Mensch, frei, ohne Ballast. Das, was wirklich zählt, besitzt er ja noch. Er besaß es schon immer.
In der Koan-Sammlung „Hegikanroku“ steht folgendes Geschichte: „Ein Mönch fragt den Meister Ummon: Was ist, wenn der Baum verdorrt und die Blätter fallen? Ummon sagt: Vollkommene Manifestation des goldenens Windes.“ Hierzu erklärt der Benediktiner-Pater und Zen-Meister Willigis Jäger: „Der Goldene Wind, das ist die reine Erfahrung der Wirklichkeit.“ In seinem Buch „Das Leben endet nie“ skizziert Jäger den „Weg des Lassens“: „Der Mensch erkennt, dass ‚Heil’ nicht auf dem Weg des Anhäufens und Ansammelns zu erlangen ist, sondern nur auf dem umgekehrten Weg, auf dem Weg des Lassens.
Zu lassen statt zu tun ist schwerer als man denkt. Es gilt nicht nur die Soße zu den Kartoffeln wegzulassen, sondern auch lieb gewonnenen Konzepte über sich selbst. Ich heiße Rainer. Ich bin Schweizer. Ich bin scheu. Ich bin selbstbewusst. Ich mag die Farbe blau. Ich mag keine Hunde. Ich bin Buddhistin. Ich bin ein Kritiker der neoliberalen Wirtschaftsordnung. Lass all das weg, wer oder was bist du dann? Entfallen können auch Konzepte über die Welt: Das Leben ist schwierig. Schütze und Skorpion passen nicht zusammen. Über allem waltet Gott und die Kirche verkündet uns sein Wort. Lass all das weg, was bleibt dann?
In meinem Januar-Sesshin passte die karge Winterlandschaft bestens zum Geist des Weglassens. Keine Blumen. Kaum Farben. Die Bäume nur Skelette. Paradoxerweise kann gerade aus dieser „Leere“ eine ungeahnte Fülle erwachsen. Reinhard Mey beschrieb in seinem wunderbaren Lied „Ende der Saison“ die Freuden der Reduktion: „Wie all diese Geräusche deutlicher und lauter scheinen, wenn erst die lauten Stimmen der Saison verklungen sind.“ Als ich in den Sesshin-Pausen allein durch die Winterlandschaft stiefelte, spürte ich, wie eindringlich ich die Natureindrücke wahrnahm. Sie fielen gleichsam tief in mich hinein.
Wildgänse verklingen überm See
In der Pfütze wandert der Schatten einer kahlen Buche
Das Knacken der Schneekruste unter mir
Um Steininseln malt der Abendschein gleißende Ringe aufs Eis
Plötzlich in der Stille der Weißtöne das unerhörte Orange der Sonne
In jedem Tropfen am Fenster das gleiche Orange.
Warum fällt es uns so schwer, den Weg des Anhäufens aufzugeben – obwohl der Weg des Lassens doch heilsam ist, sogar glücklich macht? Ich will dazu in der Kürze drei Begründungen geben:
1. Weglassen widerspricht der herrschenden Wirtschaftordnung. In gesunden Systemen herrscht ein Gleichgewicht zwischen den Kräften des Vermehrens und der Reduktion. Zu viel gesammeltes Gemüse verrottet, zu wenig bedeutet Entbehrung. Dieses Gleichgewicht ist im zinsgestützten Geldsystem gestört durch die Übermacht der Profitinteressen. Werbung und Konsumanreize verführen zur Anhäufung von „immer mehr“.
2. Weglassen wird als Verzicht erlebt. Man assoziiert es mit leidvollen Mangel-Erfahrungen, z.B. Hunger. Für die meisten Zivilisations-Menschen geht es aber heute um die Reduktion von Übersättigung. Auch der kontrollierte Hunger, das Fasten, kann heilsam sein.
3. Weglassen erinnert uns an den Alterungsprozess. Jungsein bedeutete Sammeln, Hinzugewinnen. Mit jedem Jahr wachsen Kindern neue Fähigkeiten zu: Laufen, Sprechen, selbständig aufs Klo gehen … Wer älter wird, verliert dagegen ständig Fähigkeiten: Er kann nicht mehr ohne Brille sehen, nicht mehr gerade gehen, nicht mehr selbständig essen usw. Ein schmerzhafter Prozess erzwungener Reduktion, unwiderruflicher Verluste. Der Tod ist die äußerste Steigerung des Alterns. Man verliert die Fähigkeit zu denken, zu atmen, sogar die Organfunktionen versagen …
Diese drei Faktoren erklären für mich die diffuse Angst vor einer „Kultur des Weglassens“.
Weglassen ist infiziert mit einer Ahnung von Sterben. Dabei ist gerade die Aussöhnung mit dem Tod entscheidend dafür, dass wir ganz lebendig sein können. Zen ist eine Schule des Sterbens mitten im Leben. Das klingt nicht sehr anziehend, meint aber etwas Nachvollziehbares: Erst müssen alle Blätter gefallen sein, damit ich, unter einem Baum stehend, den weiten Himmel sehen kann. Erst müssen die begrenzenden Identifikationen wegfallen, damit wir erfahren, dass wir Weite sind. Was wir dann finden, ist nicht nichts – vielleicht ist es ein „goldener Wind“.
Die spirituelle Lehrerin Pyar Troll beschreibt in ihrem Buch „Reise ins Nichts“ den Prozess der „Erleuchtung“: „Es ist ein Ausbreiten der Stille und ein Schrumpfen und Sterben des Ich. (…) Kein Gewinnen, sondern ein Entblößen geschieht da, kein Addieren, sondern ein Subtrahieren, ein fortwährendes Abziehen von allem, bis NICHTS mehr übrig bleibt.“ Natürlich ist es für einen chronisch Unerleuchteten wie mich schwierig, solche Seinszustände zu verstehen. Es tröstet aber, dass viele Weisheitslehren unterschiedlicher Kulturen etwas Ähnliches beschreiben. Und dass man ab und zu eine Ahnung davon erhaschen kann. Im Anschlagen eines Tons auf dem Klavier. Im Huschen eines Eichhörnchens am Baum vor dem Fenster. Oder in einem der seltenen Momente, in denen sogar das Stillseinwollen zu schweigen scheint.