Zwischen den Fronten – immer noch?

 In HdS-Klassiker

Deutsche Kriegsgefangene nach der Schlacht von Aachen, Bildquelle: https://www.archives.gov/research_room/arc/Anmerkungen zur »Kriegskinder«-Debatte in der Bundesrepublik. Die Kriegskinder-Literatur, wie sie u.a. von den Werken Sabine Bodes repräsentiert wird, hat die Wahrnehmung der Folgen von Krieg, Vertreibung und deutscher Kollektivschuld in Nachkriegsdeutschland verändert. Nachdem es lange Zeit als »tabu« galt, auf deutsche Leiden – etwa die von traumatisierten Kriegsgefangenen und Soldaten – hinzuweisen. Dies wurde vielfach als „Relativierung deutscher Kriegsschuld“ gedeutet. Als dann die Welle der Aufarbeitungsbemühungen über Deutschland hereinbrach, atmeten viel auf: »Endlich sagt’s mal jemand«. Sicher haben die zutage geförderten Erkenntnisse über Familienprägungen und transgenerationale Traumata vielen geholfen, ihre eigene psychische Befindlichkeit besser zu verstehen. Aber ist ein solcher Diskurs nicht »rechts«? Dient er dem »Aufrechnen« der Leiden von Deutschen gegen die ihrer Opfer, also der psychologischen Selbstentlastung der Täter-Nachfahren? Holdger Platta bemüht sich in seinem ausführlichen, zweiteiligen Aufsatz um sorgfältige Abwägung und beschreitet einen mittleren Weg, der Schuldabwehr ebenso vermeidet wie eine Art Redeverbot mit Blick auf die eigene deutsche Versehrtheit. Holdger Platta

 

Erinnerungspolitik von rechts?

In diesen Tagen bekam ich die Vorschau auf eine Buchveröffentlichung des Frankfurter Erziehungswissenschaftlers und Direktors des Fritz-Bauer-Institutes Micha Brumlik auf den Tisch: »Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen«. Es werde in diesem Buch, so der Text des Aufbau-Verlages (siehe Literaturverzeichnis!), um eine »differenzierte Analyse« der Ereignisse unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gehen, darum, »einen Ton für die Debatte zu finden, der allen Opfern gerecht wird«. Vertreibung, Raub, Mord und Vergewaltigung, das Leid der vertriebenen Deutschen solle nicht »relativiert« werden, aber verdeutlicht werden, dass diese furchtbaren Ereignisse in einem historischen Zusammenhang stehen, der nicht seinerseits vergessen werden darf: im Zusammenhang mit der »monströsen Vernichtungs-  und Umsiedlungspolitik der Nazis« selbst. Und am Schluss – ausdrücklich im Blick auf die heftig umstrittenen Planungen zu einem »Zentrum der Vertreibungen« gesagt: »Sich dieser Geschichte zu stellen, so Brumlik, muss auf einen Verzicht jeder Gedenkkultur hinauslaufen, die sich allein auf die deutschen Opfer von Vertreibungen bezieht.«

Die Frage ist: löst auch die vorliegende Publikation diese Ansprüche ein? Und: wie sieht es in dieser Hinsicht mit einer ganzen Reihe anderer Veröffentlichungen aus, die in der letzten Zeit zu dieser Thematik erschienen sind, insbesondere zum Schicksal der Kinder während der Kriegszeit und der ersten Nachkriegsjahre? Ich denke da unter anderem an die Bücher, die der Kasseler Psychoanalytiker Hartmut Radebold zur Vaterlosigkeit von Kriegskindern vorgelegt hat – etwa an seine Untersuchungen zu den Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen „Abwesende Väter“ (erschienen im Jahr 2000 beim Göttinger Vandenhoek & Ruprecht Verlag) und an seine Gemeinschaftsveröffentlichung mit dem Schriftsteller Hermann Schulz und dem Historiker Jürgen Reulecke aus dem Jahr 2004 »Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration« (erschienen bei Ch. Links-Verlag  Berlin). Ich denke aber auch an Hilke Lorenz’ »Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation«, 2003 beim List-Verlag München herausgekommen, und an das Buch von Sabine Bode »Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen«, das Anfang des Jahres 2004 bei Klett-Cotta in Stuttgart erschien – beides Bücher, die bereits mehrfach neu aufgelegt werden mussten wie auch die »Abwesenden Väter« von Hartmut Radebold. Die öffentliche Resonanz auf diese Publikationen ist groß, groß offenbar auch das Interesse der Leserinnen und Leser an diesen Darstellungen. Ein Echo, das man mit Misstrauen betrachten muss? Bücher, die selber Misstrauen verdienen?

Nun, ein Autor sieht das offenbar so. Unter dem Titel »An die Stelle der Anklage ist die Klage getreten. Kronzeugen der Opfergesellschaft? In zahlreichen Buchveröffentlichungen melden sich die ‚Kriegskinder’ als eine neue Erinnerungsgemeinschaft zu Wort« äussert der Historiker Klaus Naumann, tätig am Hamburger Institut für Sozialforschung mit dem Arbeitsschwerpunkt »Geschichtspolitik der Bonner Republik, die Bundesrepublik als Kriegsfolgengesellschaft« erhebliche Kritik an diesen Veröffentlichungen. Ausdrücklich bezogen auch auf die hier zu diskutierenden Bücher, glaubte der Autor in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau am 17. April 2004 die folgenden Feststellungen treffen zu müssen:

  1. Die NS-Täter drohten hinter der »Batterie« dieser Bücher »aus der öffentlichen Wahrnehmung von Krieg und Nationalsozialismus« zu verschwinden;
  2. dieser »Opferdiskurs« gestatte es, »den alt gewordenen 68ern und der mitlesenden Öffentlichkeit, ‚einen milden Frieden mit der Elterngeneration (zu) schließen’ und sich ‚in einem Akt nachholender Überidentifikation die Sicht ihrer Eltern und Großeltern zu Eigen zu machen’« (die in einfache Anführung gesetzten Zitate stammen, so Naumann, aus der »Zeitdiagnose« des Psychologen Harald Welzer; Welzer leitet als Soziologe und Sozialpsychologe unter anderem die Forschungsgruppe »Erinnerung uns Gedächtnis« am Kulturwissenschaf-tlichen Institut (Essen) des Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen);
  3. es sei nicht auszuschließen, dass die 68er-Generation, »die nun als Kriegskinder gelabelt werden« (sic! HP), »mit einer Symbolik angereichert wird, die für die Opfernation steht«;
  4. und dies alles, so Naumann, besäße den Charakter eines »geschichtspolitischen Manövers«, veranstaltet von einer »neuen Sprechergruppe«, gegen deren »Vereinnahmungsversuche« es sich zu schützen gälte. Die Kriegskinder aus den späten 30er und frühen 40er Jahren »formierten (…) sich zur Erinnerungsge-meinschaft.«

Klaus Naumann, Jahrgang 1949, bekundet gegenüber den Zeugnissen bei Sabine Bode und Hilke Lorenz auch »Erschütterung und Anteilnahme«. Aber im Kern diagnostiziert der Autor doch eine große Verschwörung in Sachen »Erinnerungspolitik«: das Ganze besäße so etwas wie eine Steuerungszentrale (= »die neue Sprechergruppe«), sie stelle so etwas dar wie die gesellschaftliche Verabredung einer ganzen Generation  (= »formierte Erinnerungsgemeinschaft«) und zeige, deutlich erkennbar, eine bestimmte Intention – jene Motive nämlich, die Harald Welzer wahrzunehmen meint. Wir hätten es demnach mit dem zu tun, was seit einiger Zeit als »Erinnerungspolitik« durch die bundesdeutschen Debatten geistert (»Google«, das Internet-Suchprogramm, weist unter diesem Stichwort 1.830 Fundstellen nach; nimmt man die Nennungen für »Gedächtnispolitik« und »Geschichtspolitik« hinzu, wächst diese Zahl auf 7.307 Beleghinweise an). »Erinnerungspolitik«? – Nun, dieser Begriff ist interessant und ernst zu nehmen. Nicht vorschnell also sollte man Naumanns besorgten Darlegungen beiseite räumen. »Erinnerungspolitik« – egal, von welcher Seite aus – wäre in der Tat mehr als nur ein fragwürdiger Beeinflussungsversuch: Politik hat mit Macht zu tun und mit Durchsetzung von Interessen. Wenn man das auf das Erinnern überträgt, käme immer so etwas wie Manipulation oder Gehirnwäsche heraus. Und die Sache würde auch nicht besser, wenn man – freundlicher – konzedierte, dass es in der Politik doch auch um »Inhalte« ginge. Fremde »Inhalte« ins Gedächtnis der Menschen implantieren zu wollen, liefe ebenso auf die benannten Tatbestände hinaus. Außerdem: ist nicht tatsächlich zu fragen, ob Darstellung und Analyse von Leid auf deutscher Seite geeignet sein könnten, das Leiden anderer vergessen zu machen (wenn nicht gar: revisionistische oder gar revanchistische Ansprüche wiederzubeleben –  Ansprüche, die den Älteren unter uns durchaus noch in Erinnerung sind aus den ersten beiden Jahrzehnten dieser Republik!)? Dass Naumann Befürchtungen dieser Art hat, dass – freilich: was nicht! – diese Zeitzeugnisse auch zu den von Naumann bezeichneten Zwecken missbraucht werden könnten, liegt auf der Hand. Der entscheidende Punkt ist nur der: liegt dieser Missbrauch bereits vor? Missbrauch und Missbrauchbarkeit sind zweierlei. Konkret also: haben sich da tatsächlich eine Sabine Bode und eine Hilke Lorenz, ein Hartmut Radebold und ein Hermann Schulz, ein Jürgen Reulecke und die vielen Beiträger in diesem Band  miteinander verabredet, solche »Erinnerungspolitik« zu betreiben – mit all den nachgesagten Intentionen, Fragwürdigkeiten und Einseitigkeiten?

Die Antwort ist ein klares Nein! Die Überbesorgnis des Hamburger Wissenschaftlers ist verständlich, aber auch falsch. Und der Nachweis für Naumanns Irrtum ist leicht zu erbringen.

Zunächst (um die Frage der Beweislast zu klären): Belege für seine These hätte eigentlich der Autor selber beibringen müssen wie es üblich ist in der Wissenschaft: nicht der Skeptiker, der eine Behauptung in Frage stellt, steht in der Beweispflicht, sondern derjenige, der diese Behauptung aufgestellt hat. Aber Naumann kann in seinem gesamten Beitrag keinen einzigen Anhaltspunkt für seine Befürchtungen nennen: kein Zitat, das fragwürdig wäre, kein Hintergrundwissen über Verabredungen dieser »neuen Sprechergruppe«, das auch nur im entferntesten geeignet wäre, diese Hypothese für plausibel zu halten. »Die Wahrheit ist konkret«, hat ein deutscher Dichter einmal gesagt, gewiss kein rechter Poet Bei Naumann bleibt alles bloße Behauptung, bleibt alles abstrakt. Gefahren sollte man sehen, das wohl, aber keine Gespenster.

Das Kopfschütteln nimmt aber zu, wenn man in die – scheinbar/tatsächlich? – von Naumann analysierten Bücher schaut: da spricht die Kölner Radiojournalistin Sabine Bode, Jahrgang 1947, in ihrem Buch wieder und wieder die Naumann zufolge verleugnete NS-Thematik an, ganz im Sinne dieses Kritikers (siehe unter anderem die Seiten 27ff., 84f., 98ff., 111, 174, 214f., 263ff., 276ff. – an letzterer Stelle kommt übrigens ausführlich der eingangs erwähnte Micha Brumlik zu Wort!); ein ganze Kapitel widmet Sabine Bode dem NS-Erziehungsbuch der Johanna Haarer »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind«, und auch das Nachwort der Bielefelder Psychologin und Traumatherapeutin Luise Reddemann, Jahrgang 1938, schließt mit einem Satz, der den Bogen von den Opfern der einen Seite zu den Opfern der anderen Seite spannt: »Tiefes Mitgefühl mit anderen setzt Mitgefühl mit sich selbst voraus…« (Bode, S. 288; ähnlich schon viele Jahre vorher – so Tilmann Moser 1996, S. 110 – Thea Bauriedl, die Münchner Psychoanalytikerin; siehe Literaturverzeichnis!). Da steuert Hans Koschnik, Jahrgang 1929, Ex-Bürgermeister von Bremen und UN-Flüchtlingsbeauftragter, der aus einem sozialdemokratischen Elternhaus stammt, das von Anfang 1933 an den Repressionen des Nazi-Regimes ausgesetzt war, ein Vorwort zu Hilke Lorenz’ Veröffentlichung bei und stellt zu der Vertreibung der Ostdeutschen fest, dass Hitler es gewesen sei, »der diese Art von Besatzungs- und Raumordnungspolitik hoffähig gemacht« hatte (Lorenz, S. 14). Da lässt die Autorin Lorenz selber, Jahrgang 1962, als Journalistin tätig in Stuttgart, ebenfalls keinerlei Zweifel aufkommen an ihrer negativen Einschätzung der Nazi-Diktatur und an der ursächlichen Rolle, die das NS-Regime für alle die in ihrem Buch geschilderten Grauen im Leben der deutschen Kriegskinder spielte (unter anderem auf den Seiten 25, 28, 39, 62, 144, 161, 179, 204, 252, 266, 267, 268, 296). Aber das alles muss der Kritiker Naumann offenkundig überlesen haben. Oder gibt es womöglich eine Erklärung dafür – einen Grund, den vielleicht selbst die angegriffenen Autorinnen und Autoren nicht sofort verwerfen sollten: das Wissen um die historischen Ursachen all dieses Leids und die schockartige Erfahrung, dass man zumindest in den ersten beiden Jahrzehnten unserer Republik nur unzureichend mit diesem grauenhaften Erbe umgegangen ist (siehe Ralph Giordanos Buch zur »Zweiten Schuld«, Angabe dazu im Literaturverzeichnis!)?

Und wie sieht es mit den anderen Publikationen aus? Mit Radebolds Buch »Abwesende Väter«, mit Schulz/Radebold/Reuleckes »Söhne und Väter« und – nicht zuletzt – mit dieser Veröffentlichung hier? Werden wir in diesen Büchern fündig, fündig im Sinne des Naumann’schen Generalverdachts? Betreiben also  – wenn schon nicht die Journalistinnen –  so doch – ausgerechnet! –  die Wissenschaftlerinnern und Wissenschaftler die von dem FR-Autor beschriebene »Erinnerungspolitik«?

Zugegeben, es fällt mir bei der Beantwortung dieser Frage schwer, jene Zurückhaltung zu wahren, die gleichwohl vonnöten ist. Denn worauf liefe – man mache sich das klar – bereits diese Frage hinaus? Auf die Möglichkeit, dass gleich eine ganze Reihe von WissenschaftlerInnen und PsychotherapeutInnen in der Bundesrepublik gegen grundlegende Prinzipien ihrer Fachdisziplinen verstießen! Dadurch nämlich – um nur den zentralen, den anstößigsten Punkt anzusprechen -, dass sie eigene Weltanschauungsinteressen in die Behandlung ihrer PatientInnen einfließen lassen würden, und dies sogar willentlich und ganz bewusst! »Erinnerungspolitik«, von Psychotherapeuten betrieben im Rahmen ihrer Psychotherapien, das hieße im Klartext, dass sich Behandler zu Handlangern machten, zu Helfershelfern therapiefremder Interessenspolitik, das hieße, dass sie nicht mehr lege artis arbeiten würden, sondern auf hochgefährliche Weise und in moralisch verwerflicher Weise manipulativ! Wollte Naumann das ernsthaft behaupten? Glaubt er tatsächlich, Nachweise dafür in den hier zur Rede stehenden Veröffentlichungen gefunden zu haben? Und ist sich der Autor im Klaren darüber, welches Verletzungspotential einer solche Hypothese verbirgt?

Halten wir auch hier zunächst nochmal fest: diese Ungeheuerlichkeit zu beweisen, das wäre ebenso Sache des FR-Autors gewesen wie die Beweise für die anderen Behauptungen auch. Aber er tut es wiederum nicht,  und diese Beweise gibt es auch nicht. Gleichwohl: schauen wir auch in die Beiträge der letztgenannten  WissenschaftlerInnen kurz noch hinein.

Radebold, um mit ihm zu beginnen, schrieb bereits in seinem Buch »Abwesende Väter« aus dem Jahr 2000 von den »Kindern der Täter« wie von den »Kindern der Opfer« (S. 36) und kritisierte schon dort die »Verdrängung des Nationalsozialismus  im psychotherapeutischen Bereich (bei den Psychotherapeuten selbst und ihren Psychotherapien« (S. 37). Bereits in dieser Veröffentlichung sprach er von den »Auswirkungen des Nationalsozialismus (Hervorhebung: HP) jetzt schon in der dritten Generation« (S. 38). Und auf den Seiten 180 bis 185 schilderte Radebold unter anderem die psychoanalyse-internen Debatten zum Thema Drittes Reich in Psychotherapien (siehe dazu auch meine eigene Veröffentlichung aus dem Jahr 1986!) und greift auch in dem vorliegenden Band die fatale Folge der »Idealisierung von Vätern und Müttern auf, die im Dritten Reich als Täter aktiv tätig gewesen waren«,  sowie die Gefahr der »Übernahme ihrer Ideen, Ansichten und Verhaltensweisen« aus der NS-Zeit – dann nämlich, wenn die Auswirkungen der Kriegsgeschehnisse auf die damaligen Kinder nicht aufgearbeitet würden. Und sein Co-Autor Hermann Schulz, Jahrgang 1938, Verfasser zahlreicher vielfach ausgezeichneter Romane, betont in seinem Beitrag zu der Veröffentlichung »Söhne ohne Väter« (2004) ausdrücklich: »Es geht nicht um einen Platz auf dem Markt der Opfergruppen, sondern um die Wahrnehmung unserer eigenen Geschichte, um die späte Chance, unsere Gesellschaft heute in ihren Defiziten besser zu begreifen« (Schulz u. a., S. 20). Was daran sollte politisch fragwürdig, moralisch gar verwerflich sein? Es ist diesen Autoren – wie Bode, wie Lorenz – doch zuzustimmen, dass hier Nachhol- und Klärungsbedarf besteht. Und hieße denn wirklich, von dem Leid der einen zu sprechen, das Leid der anderen vergessen zu machen? Welche Logik etablierte sich hier? Gibt es tatsächlich nur das »Entweder – oder« anstelle des »Sowohl – als auch«? Mir scheint, das wäre ausschließlich Naumanns subjektive Auslegung dieses Sachverhalts – eine Sorge, die ich nur mit Verständnis, aber ohne Einverständnis zur Kenntnis nehmen kann; objektiv fundiert – belegt und belegbar – wäre diese Interpretation nicht. Und so stelle ich abschließend zu diesem ersten Teil fest:

Bode und Lorenz, Radebold und die anderen AutorInnen haben eindrucksvolle Beiträge zur »Kriegskinder«-Thematik vorgelegt, Schilderungen und Analysen, die frei sind von den unterstellten Einseitigkeiten und zeigen, wie dringend erforderlich die Erforschung auch dieser Abschnitte unserer Geschichte ist – apropos: bis weit in die Zukunft hinein. Denn so rasch, befürchte ich, werden wir die Phase der Kriege nicht hinter uns lassen. Psychische Kriegsfolgen, »posttraumatische Belastungsstörungen«, sie werden verantwortliche Publizisten und Wissenschaftlerinnen auch in den kommenden Jahren nicht in Ruhe lassen – und vor ihnen die Menschen nicht, die Opfer dieser Geschehnisse werden. Oder sollte dem kritischen Autor Naumann entgangen sein, dass ausgerechnet die Führung der westlichen Führungsmacht Kriegführung wieder für ein Mittel der Politik hält?

 

Erinnerungspolitik von links?

»Erinnerungspolitik von rechts«, auf diesen Vorwurf läuft im Kern der Vorwurf des Hamburger Wissenschaftlers Naumann an die Adresse der genannten Wissenschaftler und Publizistinnen hinaus. Und dass es so etwas gibt, habe ich ja an einem anderen Beispiel selber dargestellt, in meiner Analyse der Buchpublikation »Die selbstbewusste Nation«, 1994 herausgegeben im Berliner Ullstein-Verlag von den Journalisten Heimo Schwilk und Ulrich Schacht (siehe dazu Platta 1998, S. 171ff.!). Aber gibt es nicht auch das Pendant zu dieser »rechten Erinnerungspolitik«? Und mengt sich nicht auch dieser Vorwurf in die Debatten ein: es gäbe in der Bundesrepublik so etwas wie eine »Erinnerungspolitik von links«? Und die »Sprechergruppe« und Verabredungen dieser »Fraktion« belasteten das öffentliche Gespräch über die NS-Zeit mindestens so stark, wie es – Naumann zufolge – die »geschichtspolitischen Manöver« der angeblich Rechten tun?

International gibt es ja schon seit längerem den einschlägigen Slogan dafür: »There’s no Business like Shoah-business« – ganz so, als ob der Holocaust ein Musical gewesen wäre (denn auf ein solches, auf einen Songtitel aus »Annie, get your gun!«, geht dieser zynische Slogan zurück). Und mit diesem Vorwurf, es gehe beim Erinnern an die Ermordung der europäischen Juden nur um’s Geldverdienen,  werden seit Jahren der Staat Israel und der Weltrat der Juden, Regisseure wie Steven Spielberg (»Schindlers Liste«, 1993)und Claude Lanzmann (»Shoah«, 1985), Autoren wie Eli Wiesel und Daniel Goldhagen überzogen (Nichtjuden – ich komme darauf zurück – werden als gehorsame »Meinungssoldaten« abgetan). Merkwürdig ist das natürlich schon: in einer zunehmend von den »Raubtiergesetzen des Kapitalismus« beherrschten Welt – so sehen das unter anderem Helmut Schmidt, die weltweit-vernetzte globalisierungskritische Organisation Attac und der Schweizer Autor Jean Ziegler (siehe Literaturverzeichnis!) – wird das Geldverdienen an einem bestimmten Punkt urplötzlich zum Skandal: dort, wo es um Erinnerung geht, um Erinnerung an millionenfachen Mord. Dieser Propaganda zufolge scheint es nichts Schlimmeres zu geben als Gelderwerb, der zugleich auch humanitären und aufklärerischen Zwecken dient. Und was hat das mit unserem Thema zu tun?

Zweierlei: erstens gibt es höchstrenommierte Vertreter dieser »Denkschule« auch in der Bundesrepublik, seit 1998 zumindest, und zweitens sollten sich alle, denen an einem zweifelsfreien Projekt »Kriegskinder« liegt, überlegen, ob sie ausgerechnet diesen Sonntagsredner zu ihrem Gewährsmann machen wollten –  wie leider an einer Stelle in diesem Buch geschehen. Es könnte sonst sein, dass Beiträger, die sich derart verrennen, mit beitragen zu den Befürchtungen eines Klaus Naumann und damit zum Entgleisen eines öffentlichen Dialogs. Destruktive Differenzen zwischen Menschen entstehen stets dann besonders leicht, wenn jeweils die Differenzierungen verloren gehen. Bode und Lorenz, Schulz und Radebold haben in ihren Arbeiten gezeigt, dass sie zu Differenzierungen fähig sind; die ihnen unterstellten Einseitigkeiten oder Vereinseitigungen gibt es nicht. Doch wenn ich festgestellt habe, dass sich im Beitrag Naumanns diese innere Differenzierung nicht auffinden lässt – bei allem Verständnis für die Überbesorgnis des Hamburger Sozialwissenschaftlers – , so muss ich doch andererseits feststellen dürfen, dass es auch auf der Befürworterseite des »Kriegskinder«-Projekts einige undifferenzierte Äußerungen gibt, vor denen diese Arbeit zukünftig bewahrt bleiben sollte. Aber der Reihe nach (und mit den ersten Feststellungen lüfte ich ganz sicher kein Geheimnis mehr):

Selbstverständlich habe ich mit dem bundesdeutschen Vertreter jener Denkschule, die mit der Erinnerungsarbeit zum Thema Holocaust nur noch sachfremde Zwecke zu assoziieren vermag, Martin Walser gemeint. Und die Rede ist natürlich von jener Rede, die der berühmte Autor am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche hielt, aus Anlass der Überreichung des »Friedenpreises« an ihn, zuerkannt vom Börsenverein des deutschen Buchhandels. Doch zunächst im Sinne des eigenen Differenzierungswunsches gesagt: eindeutig gab es in dieser Ansprache Aussagen, die vollkommen  unzweideutig sind:

  1. »Auschwitz«, das ist und war für Walser auch an diesem Tag »die unver-gängliche Schande«;
  2. »kein ernstzunehmender Mensch leugnete Auschwitz;
  3. kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelte an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum«;
  4. »unbestreitbar« gehöre es zu den »Gewissensthemen der Epoche«;
  5. und wer es heute anspräche, diene damit »immer guten Zwecken«, »ehren-werten«… (alle Zitate aus der Walser-Rede hier und im Folgenden nach: www.literatur-seiten.de/walser.htm)

Nun mag man, bei besonderer Empfindlichkeit vielleicht (gerade auch gegenüber der Sprache des empfindlichen Sprachvirtuosen Walser, in Kenntnis seiner Bildung und Diktion), bei der letzten Formulierung womöglich doch schon etwas Unbehagen verspüren: »immer« gute Zwecke sollten es sein, die Menschen von Auschwitz sprechen ließen – ist das nicht fast schon eine Vokabel des Überdrusses, nicht schon eine Lobesdrehung zu viel? Und schwingt da beim altfränkischen »ehrenwert« – ein Wort, das immerhin so veraltet erscheint, dass es im neuen DUDEN zur Rechtschreibung gar nicht mehr vorkommt und auch im WAHRIG, dem Wörterbuch der deutschen Sprache, fehlt (siehe Literaturverzeichnis!) – nicht etwas mit, das wir sonst aus anderen Zusammenhängen kennen, und positiv sind diese Assoziationen allesamt nicht: die »Ehrenwerte Gesellschaft« etwa – sprich: die Mafia! – , das ironisch betitelte »Ehrenwerte Haus«, deren Kleinbürgerverlogenheit ein Udo-Jürgens-Song aus dem Jahr 1974 beschwor, und – beim Dichter Walser nicht als letztes zu erwägen – die Anspielung auf eines anderen Dichters Wort, die Anspielung nämlich  auf die berühmte Verteidigungsrede des Antonius’ aus Shakespeares »Julius Caesar« (bei uns verbreitet in der Schlegel-Tieck’schen Textversion): »Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann!«? – Über eine andere Wahrnehmung als meine eigene verfüge ich in diesem Falle nicht und bekenne deshalb: ganz geheuer ist mir diese merkwürdig überinstrumentierte Freispruchsformulierung,  da diene etwas »immer guten Zwecken, ehrenwerten«, nicht. Aber: lassen wir’s offen, an dieser Stelle jedenfalls!

Offen hingegen ist überhaupt nicht, was Martin Walser sonst noch an diesem Sonntag gesagt hat und was fast alle Besucher am Schluss zu »standing ovations« animierte und nur – fast nur – den einen Gast fassungslos und ohne Beifall sitzen bleiben ließ: Ignatz Bubis.

  1. Er verschlösse sich »Übeln, an deren Behebung« er nicht »mitwirken« könne, ließ Martin Walser bereits zu Anfang seiner Rede wissen – eine Maxime, die, ernstgenommen, jede Beschäftigung mit Geschichte für obsolet erklärt und jedes Engagement auch in der Gegenwart, wo zumindest am Anfang nicht erkennbar ist, ob die eigene Tätigkeit etwas bewirken könnte; und Walser bewertete es nach diesem Sargdeckel-Bekenntnis als Ergebnis eines Lernprozesses, dass er nun auch »wegschauen« könne;
  2. den anderen aber, die das nicht tun, unterstellte er moralischen Sadismus und Verletzungsabsichten: »Die, die mit solchen Sätzen auftreten (=gemeint: mit Berichten in Zeitungen über Brandanschläge auf – so Walser – »Asylanten-heime«. HP), wollen uns wehtun, weil sie finden, wir haben das verdient«;
  3. gleichzeitig sei doch noch jeder »ein von Eitelkeiten dirigierter Gewissenskämpfer«, und Walser bezeichnete sie als »Meinungs- und Gewissenswarte« der Nation, als »Meinungssoldaten«, die »mit vorgehaltener Moralpistole, den Schriftsteller in den Meinungsdienst nötigen« wollten;
  4. und schließlich: er sei »fast froh«, wenn er glaube, »entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken«.

Der letzteren Aussage folgt, wie bereits zitiert, die zumindest für mich zwischen Freispruch und Abwehr  changierende Formulierung, dass dies – die »Instrumentalisierung« nämlich – »immer guten«, »ehrenwerten« Zwecke diene. Erschlägt hier die Negativität des Begriffs »Instrumentalisierung« nicht alles, was daran angeblich »gut« sein soll – eine Vokabel, die unzweideutig pejorativen Charakter besitzt, da sie angesiedelt ist im Wortfeld zwischen „Zweckentfremdung“ und „Mißbrauch“? Und was enthält diese Rede an Welt- und Selbstschilderung sonst?

Man muss wohl nicht sehr in die Tiefe gehen: Zum einen ist typisch, dass Walser, der sich bereits mit seinen Eingangsbemerkungen – wie festgestellt – als Entsorgungsanwalt in Sachen deutscher Geschichte eingeführt hat, allen anderen, die anders denken, moralisch-psychologisierend und psychologisch-moralisierend nur negative Motive unterstellen kann: ob es »Eitelkeit« ist oder »Sadismus«, »Instrumentalisierung« oder bloßer »Gehorsam« – wie anders wäre der Begriff »Meinungssoldaten« in dieser Beziehung zu verstehen? – : der Autor vom Bodensee lässt, was Moral und Psyche betrifft, an diesen Menschen kein gutes Haar. So »ehrenwert« deren Motive also – Walsers ausgesprochener Bekundung zufolge – auch sind: die Menschen selber sind es offenkundig nicht.

Doch damit nicht genug: in politischer und in historischer Hinsicht stellt sich Walsers Rede womöglich noch problematischer dar. Mit dem Begriff der »Meinungs- und Gewissenswarte« beschwört der Autor, der sich – hier wie auch sonst! – auf die Konnotationen seiner Sprache und die Assoziationshöfe seiner Wörter durchaus versteht, natürlich unabweisbar die Erinnerung an die Nazi-Zeit selber herauf, an jene kleinen Helfershelfer des Regimes, die man damals »Blockwarte« nannte. Wer oder was waren das? – Nun, der ZDF-Internetdienst »100 Wörter des Jahrhunderts« ( siehe: www.see-blick.de) definiert sie als »Schnüffler«, deren Aufgabe es war, »zu sehen, zu hören und zu melden«, und Max Frisch, der Schweizer Kollege, der lange vor Walser – 1976 nämlich – in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis bekam, schildert in seinem Stück »Nun singen sie wieder«, einen Hauswart in genau dieser Funktion (Frisch 1966, S. 110). Kurz: unterschwellig setzt Walser alle Menschen, die heute an Auschwitz erinnern, mit diesen Kleinst-Spitzeln von damals gleich – oder rückt sie doch so nahe zusammen, dass sie nicht mehr voneinander unterscheidbar sind: beide Personengruppen sind Agenten totalitärer Kontrolle und Überwachung.  Das, was Walser  vielleicht für einen netten polemischen Einfall gehalten hat, diese Metaphorik von den »Gewissens- und Meinungswarten«, stellt ganze Teile der bundesdeutschen Mediengesellschaft unter Totalitarismusverdacht. In der Verrückungspsychologie dieser Begriffe werden die »eitlen« und »sadistischen« »Gewissenskämpfer«, die an Auschwitz erinnern, diese Blockwarte unseres Gedächtnisses, selber zu Helfershelfern eines neuen Nazismus in der Bundesrepublik. Sieht so tatsächlich unsere Gesellschaft aus? Haben wir es hier noch mit Weltschilderung zu tun oder schon mit einem anderen Befund?

Ähnlich fällt die Analyse von Walsers »Meinungssoldaten« aus: die »Gehorsams«-Unterstellung wurde bereits angesprochen. Ad personam gesprochen, bedeutet das also: die da so reden, über Auschwitz und NS-Geschichte, reden ja gar nicht aus eigenem Antrieb, aus freien Stücken so. Sie unterstehen oder unterstellen sich einem Befehl, sie tun ihren Dienst – »Meinungsdienst«, wie es bei Walser heißt – , sie agieren als Befehlsempfänger, sie holen sich womöglich beim täglichen »Morgenappell« die »Tagesparole« ab für ihre alltägliche Medienarbeit und gehen dann bewaffnet ihrer Arbeit nach, mit der »Moralpistole« in der Hand. Ad rem, das Moment der Weltschilderung betreffend, läuft also auch diese Metaphernsammlung auf das Bild einer totalitären Gleichschaltung hinaus: ganz Deutschland unter einem Befehl, ganz Deutschland massenmedial mehr oder minder durchmilitarisiert und ein Kasernenhof. Auch in diesem Punkt, nicht nur, wenn man den Konnotationen zu Walsers »Gewissenswarten« folgt, landen wir also, statt in der bundesdeutschen Demokratie, mitten im Nazireich. Und auch hier – erneut ist das der bezeichneten Verrückungslogik geschuldet – sind es die Antifaschisten, die in Deutschland ein neues undemokratisches Regime zu errichten drohen, so etwas wie eine Militärdiktatur im Medienbereich. Walser aber, auch das geht zwingend aus seiner Rede hervor, die er »vor Kühnheit zitternd« – so seine Selbstbeschreibung – hielt , Walser aber ist demnach ihr tapferer Widerstandsheld. Soweit, nach dem Moment der Weltschilderung, das Moment der Selbstschilderung in diesem Sonntagstraktat.

Ich meine: bei diesem »Instrumentalisierungs«-Gerede über bundesdeutsche »Meinungssoldaten« und »Gewissenswarte« stehen wir dem Gegenstück zu jener »Erinnerungspolitik« gegenüber, die Klaus Naumann beim Thema »Kriegskinder« am Werke sieht. Diagnostizierte der FR-Autor »Erinnerungspolitik von rechts«, so offenkundig der renommierte Suhrkamp-Autor »Erinnerungspolitik von links«. Es dürfte erkennbar geworden sein, dass ich beide Versionen, bundesdeutsche Realität zu deuten, gleich weit entfernt sehe von der Realität und mir keine dieser beiden Verkennungsvarianten von Wirklichkeit auch nur annähernd zu eigen machen kann. Beide Versionen, wie dargestellt, bergen auch ein hohes Verletzungspotential in sich für die jeweils »andere Seite« – Walsers Vorwurf an die Adresse der »Instrumentalisierer«, »sie wollen uns wehtun«, fällt also auf ihn selber zurück. Dennoch bekenne ich, bei gleichem Abstand zu den konträren Realitätsdeutungen, die von den beiden Autoren vertreten werden, dass mir, was die erkennbaren Motive – die Befürchtungen und Sorgen – angeht, die für diese beiden Gegenwartsdeuter den Beweggrund abgegeben haben dürften, der Hamburger Klaus Naumann ungleich näher steht als der Sonntagsredner vom Bodensee. Wie problematisch und unbegründet auch immer: bei dem FR-Beiträger meldet sich spürbar eine Angst – und Angst ist immer ernst zu nehmen (ich hoffe, auch die von ihm Angegriffenen können es bei ihm tun); bei Walser hingegen meldet sich für mich nur totale Empathielosigkeit zu Wort, Einfühlungsunfähigkeit gegenüber dem, was ihm offenbar fremd ist. Und das, zugegeben, ist mir etwas fremd. Für mich stellt Walsers Rede nichts anderes dar als Randalieren auf hohem sprachlichen Niveau. Und ich kann nur hoffen: auch ich wäre an diesem Sonntagvormittag des 11. Oktober 1998 in der Paulskirche sitzen geblieben und hätte keine Hand zum Beifall gerührt. Zuhause, wo ich diese Redeauftritt seinerzeit live am Fernseher erlebte, war es jedenfalls so.

Die Kriegskinder verstehen, auch wenn sie 68er sind!

Mit großer Empathie und Genauigkeit gehen die Autorinnen Ursula Bode und Hilke Lorenz dem Schicksal der Kriegskinder nach; mit großer Empathie, Genauigkeit und wissenschaftlicher wie psychotherapeutischer Kompetenz widmet sich Hartmut Radebold, geradezu ein Pionier auf diesem – jawohl: das ist es auch – Forschungsgebiet, dem Schicksal dieser Menschen. Die Ergebnisse dieser Forschung sind in diesem Band zusammengetragen und zeigen, dass es dringend erforderlich ist, diese Forschung fortzusetzen – und ich scheue mich an dieser Stelle nicht zu ergänzen: derart wichtig, dass in viel größerem Ausmaß als bisher auch Finanzmittel für diese Forschung zur Verfügung gestellt werden müssten!

Die verschiedenen Traumata, die in den Beiträgen dieses Bandes und in den anderen hier erwähnten Publikationen erwähnt und geschildert werden, sind höchst unterschiedlicher Natur, unterschiedlich in ihren Auswirkungen, unterschiedlich in Intensität und Charakter, je nachdem, wie alt die Kinder beim Erleben ihrer traumatischen Erfahrungen waren, je nachdem auch – scheint mir -, wie die Kinder bei diesen Katastrophen ihre Eltern erleben mussten, wenn diese zugegen waren. Oft brach für die Kinder die Welt erst zusammen, wenn auch die Eltern zusammenbrachen.

  1. Verlust der Eltern oder zumindest Verlust eines Elternteils (vorrangig behandelt bislang: Vaterlosigkeit, aus der Perspektive der Söhne erlebt);
  2. Verlust sonstiger naher wichtiger Personen, zeitweilige Trennung vom Elternhaus (Stichwort »Kinderlandverschickung«);
  3. Verlust der Heimat (auch der »Übergangsobjekte«, nach Winnicott; siehe Literaturverzeichnis!);
  4. Vertreibung und Flucht;
  5. Gewalterfahrungen (Hinrichtungen, Erschießungen, Vergewaltigungen); Bombardierungen;
  6. Fliegerangriffe (direkt auf die eigene Person);
  7. sozialer Abstieg und Verarmung;
  8. Feindseligkeitserfahrungen am neuen Wohnort (oft über viele Jahre hinweg);
  9. Aufwachsen als »Schlüsselkind« (wenig beachtet bislang); psychische Abwesenheit von Vater und/oder Mutter .

Die Liste der traumatischen Erfahrungen, die da, insgesamt, die Kinder der Jahrgänge 1930 bis 1948 machen mussten, ist lang (am wenigsten noch zähle ich die spezifischen Erziehungserfahrungen der Kriegskinder zu diesem Katalog; sie waren, scheint mir, nicht kriegs-, sondern ns-bedingt und gingen auf die spezifischen Erziehungsmethoden des Dritten Reichs zurück, vor allem wohl auf den berüchtigten Nazi-Bestseller »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« von Johanna Haarer, 1934ff.; siehe dazu die Untersuchung von Sigrid Chamberlain 1997!). Es ist eine schrecklich lange Liste der Schrecknisse und des Grauens. Und zu Recht weist Radebold mit anderen Autorinnen darauf hin, dass es oft sogar zu kumulativen Traumatisierungen kam. Was da was auslöste, dürfte noch lange nicht zu Ende erforscht sein. Und sicher auch nicht im genügenden Ausmaß, was jeweils die richtigen, die wirksamsten therapeutischen Antworten auf diese verschiedenen Traumata und posttraumatischen Störungen sind.

Was aber bislang wenig bis gar nicht ins Auge gefasst worden ist, das ist der Zusammenhang zwischen dem Erleben dieser frühen Traumata und dem, was hie und da – nahezu isoliert von dieser Fragestellung – unter dem Stichwort »68er-Bewegung« angesprochen wird. Um es vorwegzunehmen: fast immer ohne jedes Verständnisbemühen, nahezu lieblos oft, in keinem Fall aber in einen sorgfältig analysierten Kontext gebracht mit den kriegsbedingten Traumata. Pointiert: hier sehen wir ein weiteres Mal die Kriegskinder zwischen den Fronten platziert (auch wenn diese – die gegenwärtigen – Fronten ungleich harmlosere Fronten sind als die Fronten während der Kriegszeit!). Als Kriegsgeneration von ihren frühen Traumata attackiert, sehen wir die nämlichen Menschen, als APO-Generation, nun auch attackiert von Befürwortern des »Kriegskinder«-Projekts. Ich habe das mit einiger Bestürzung registriert. Doch auch hier der Reihe nach:

Fälschlicherweise glaubte der Hamburger Historiker Naumann in seinem Beitrag für die Frankfurter Rundschau feststellen zu müssen, dass mit der »Kriegskinder«-Thematik eine ganze Generation – die Generation der 68er nämlich – umge»labelt« werden solle zu »Kronzeugen der Opfergesellschaft«: »Als 68er hatten sie gegen ihre Eltern gekämpft, jetzt ist die Klage an die Stelle der Anklage getreten«, hieß der entsprechende Satz, und Naumanns Schlussfolgerung war: Deutschland solle damit entlassen werden aus seiner Rolle der historischen Täterschaft in die Rolle der »Opferschaft«. Aus drei Gründen mindestens ist diese Feststellung falsch,  und zwar falsch in einem ganz basal-empirischen Sinne jenseits aller Deutungen:

  1. In den von dem FR-Beiträger angesprochenen Büchern kommt das Thema APO, analytisch in Zusammenhang gebracht mit der »Kriegskinder«-Thematik, gar nicht vor.
  2. In der Generation der »Kriegskinder« – übereinstimmend werden in allen Publikationen die  Jahrgänge  1930  bis 1948 genannt – , macht die 68er-Generation, schon  rein  arithmetisch,  schon  von der Jahrgangszugehörigkeit her, höchstenfalls eine kleine Teilgruppe aus: etwa die zwischen 1940 bis 1947 Geborenen;
  3. und selbst innerhalb  dieser Teilgruppe der zwischen 1940 bis 1947 geborenen Kriegs-  und  Nachkriegskinder  stellten  die  Akteure  der APO-Bewegung lediglich eine kleine Teilgruppe dar: fast ausschließlich war die APO-Bewegung eine Studentenbewegung –  und  selbst  als  Studentenbewegung  repräsentierte die APO nur eine starke aktive  Minderheit  an  den bundesdeutschen Universitäten (von Ausnahmen wie Berlin und Frankfurt am Main vielleicht abgesehen). Kurz:

Noch jeder 68er war – zumindest dem Alter nach – ein »Kriegskind« gewesen, doch nur wenige »Kriegskinder« waren auch 68er gewesen. Diesen grundlegend-faktischen Sachverhalt sollte man zuallererst nicht aus den Augen verlieren.

Aber was bedeutet das in psychologischer Hinsicht? Was haben die Autoren – soweit sie diese Thematik überhaupt ansprechen – aus dieser Tatsache gemacht? Genauer: aus deren Verkennung?

Nun, für Naumann, wie dargestellt, ist die Sache klar: »die« 68er werden bei der »Kriegskinder«-Debatte »umfunktioniert« oder »funktionieren« sich selber »um« – sie haben angeblich den Rückweg angetreten in die Klage und in die Re-Identifikation mit den eigenen Eltern (ich erinnere hier an das Welzer-Zitat). Und wie sehen die Autoren »von der anderen Seite« dieses Problem? Kommen da die 68er besser weg?

Ich gebe zu, ich habe lange gezögert, ob ich – der ich Kriegskind und 68er bin – die folgenden Sätze überhaupt aufschreiben sollte, und ich tue das auch jetzt nur mit jenem subjektiven Anspruch, der andere Beiträger in diesem Band von ihren Gefühlen, ihren Angstträumen und Assoziationen sprechen ließ (Gertraud Schlesinger-Kipp etwa, Dagmar Soerensen-Cassier und Jürgen Hardt): ich habe mich nach manchen Sätzen zur APO-Generation geradezu geohrfeigt gefühlt, es kam mir an einigen – einigen wenigen – Stellen so vor, als würde ich aus einem Zimmer, in das ich gerade freundlich eingeladen worden war, wieder zur Tür herausgeprügelt. Alle Einfühlung, alles Interesse, alle Zuneigung, so schien und scheint es mir, schlugen und schlagen an diesen Stellen um in Zurückweisung und Aggression. Ein Erleben, das mit seiner Heftigkeit wohl der Erklärung bedarf.

Zunächst (und ich bin nun genötigt, einen Moment lang von mir zu reden): ich weiß, was es heißt, ein »Kriegskind« zu sein. Mögen die Kriegsereignisse während meiner ersten Lebensmonate – ich wurde 1944, im August, in Niederschlesien geboren – noch vollkommen spurlos an mir vorübergegangen sein (freilich, ich habe Zweifel an dieser Folgenlosigkeit: panische Angst vor Feuerwerk bis etwa zu meinem sechsten Lebensjahr, schwere wiederholte Albträume – pavor nocturnus – bis etwa zu meinem zehnten Lebensjahr legen eher eine andere Deutung nahe): was für meine frühe Kindheit bis weit in die ersten Jugendjahre hinein auf jeden Fall prägend wurde und prägend blieb, das waren Verarmung und sozialer Abstieg meiner Eltern (vor allem die depressiven Reaktionen des Vaters darauf) und unmittelbar für mich (wie meinen älteren Bruder) vor allem der Hass und die Feindseligkeit, die uns an unserem neuen Wohnort im Ruhrgebiet von Seiten der Einheimischen entgegenschlugen: nach Flucht aus Niederschlesien im Güterzug, nach Auffanglager in einem ehemaligen Kinosaal und knapp zweijähriger Barackenzeit Beschimpfungen also als »Ausländerpack« und »Polackenbrut«, die in der »kalten Heimat« nur »Scheiße« besessen hätten, und eine Kindheit, in der man nie das Gefühl verlor, dort, wo man nun aufwuchs, im Grunde nur geduldet zu sein und unablässig auf der Hut sein zu müssen. Vor dieser Erlebnisperspektive verstand ich die Berichte der anderen Kriegskinder, wie sie bei Bode, Lorenz und Radebold nachzulesen sind, nicht nur mit dem Kopf: auch die eigene Vergangenheit lebte wieder in mir auf; was mehr oder minder verschüttet schien, war wieder präsent, gerade auch emotional. Ich nahm aber auch gleichsam in diesen Büchern Platz, es war, als ob ich einen Raum betreten hätte, in dem auch die eigene Lebensgeschichte wieder Geltung besitzt. Die Bücher sprachen nicht nur zu mir, empathisch und liebevoll, von anderen Menschen, sondern sie hörten auch mir, empathisch und liebevoll, zu. Ein Vertrauen entstand, das gleichzeitig auch ein wenig schutzlos macht. Mit dieser Identität und Gefährdung las ich also in den letzten Wochen vom Leid der anderen aus »meiner« Kriegskindergeneration – wie so viele andere vor mir: tief angerührt.

Aber natürlich auch mit meiner »anderen« Identität, die, wie ich es sehe, zu einem Teil aus dieser ersten Identität hervorgegangen ist – unbewusst wie auch höchst reflektiert. Und auch hier bin ich genötigt, kurz noch einmal persönliche Lebensgeschichte zu schildern (im sicheren Wissen, dass sie für viele anderer »meiner« 68er-Generation ebenso typisch  ist!). Ich glaube nämlich, dass ohne die Kriegsgrauen und Fremdenhass-Erfahrungen auch spätere Reflexe, Reflektionen und Entwicklungen nicht wirklich begreifbar sind. Das schloss die Übernahme von Verantwortung für die politisch-moralischen Entwicklungsprozesse in der Bundesrepublik ausdrücklich mit ein und geht in der Diagnose angeblich vorhandener unbewusster Schuldgefühle keinesfalls auf.

1961/192 war es, dass ich zum erstenmal, in einem Kino, Filmbilder von Auschwitz, Buchenwald und dem Warschauer Ghetto sah, in Erwin Leisers Dokumentarfilm »Mein Kampf«. Ich konnte mich gegen das Entsetzen nicht wehren, auch gegen die Tränen nicht, nicht gegen die Unfähigkeit, mit meinem Freund darüber sprechen zu können, als wir wie versteinert das Kino verließen. Und ich erinnere mich und weiß, dass es diese – vielleicht nicht traumatisch zu nennenden, aber schockartigen – Erlebnisse waren, die mich dann 1966/1967, nach Beginn meines Studiums in Göttingen, auf die Straße trieben, um gegen NPD-Aufstieg, Abbau demokratischer Grundrechte (= die sogenannten »Notstandsgesetze«), gegen die Völkermordaktionen einer befreundeten Weltmacht im fernen Vietnam, gegen den Staatsgastbesuch eines blutigen Diktators aus Persien in Deutschland zu protestieren, gegen die Erschießung eines  Studenten durch einen Beamten der Berliner Kriminalpolizei. Bei mir – und bei vielen Mitdemonstranten auch – ging die Sorge um, dass in Deutschland und weltweit Entwicklungen eintreten könnten, die wieder jenen Verhältnissen ähneln würden, die wir mittlerweile »kannten« – welch schwaches Wort! – aus der NS-Zeit. Und nun frage ich: zeugt es vor diesem Hintergrund nicht von tiefstem Unverständnis, behaupten zu wollen, der studentische Protest habe sich gegen die Demokratie gerichtet? Kommt es angesichts dieser doppelten Lebensgeschichte vieler von uns – als Kriegskinder wie Angehörige der APO-Bewegung – nicht einer Ohrfeige gleich, lesen zu müssen, hier hätten Söhne nur unaufgearbeitete Konflikte mit ihren Vätern ausagiert und es gäbe wohl heute noch »notorische« 68er, die in »komplexen Eltern-Kind-Beziehungsmustern« verstrickt geblieben sind – und dies auch bleiben mögen? Angesichts solcher Vereinseitigungen sei festgehalten: das Leben vieler »Kriegskinder« ist doppelt kontaminiert. Es wurde bestimmt von den Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit und den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik. Oder persönlicher gesagt:

Ich hatte keinen Bedarf an »nachträglichem Ungehorsam« gegenüber dem Vater – und viele andere auch nicht. In meiner Herkunftsfamilie gab es ohnehin keinen Anlass dafür, da mein Vater auf seine kleine bescheidene ängstliche Weise Widerstand geleistet hatte gegen das Dritte Reich – was mir bereits als Heranwachsender vollkommen bewusst geworden war – , und in den Familien zahlreicher anderer 68er war dieser dringend erforderliche »Ungehorsam« längst schon vor 1968 »nachgeholt« worden. Wer anderes behauptete, schriebe im Kern an überaus wichtigen Beweggründen der 68er-Bewegung vorbei. Derartige Sätze verstünden die jungen Menschen von damals nicht, sondern qualifizierten sie nur noch ab. Sie sähen auch keine Zusammenhänge zur Vorgeschichte – zur kollektiven wie zur individuellen – mehr, sie psychologisierten und polemisierten nur noch jegliches Wissen und jegliches Verständnis weg. Statt beizutragen – was noch Aufgabe jeder Psychoanalyse ist (siehe hierzu Bauriedl 1988, S. 101ff.!) –, Unbewusstheit aufzuheben, schüen sie neue Unbewusstheit und trügen damit zur Fortsetzung destruktiver Missverständnisse bei. Um gegen einen Ex-Nazi als Bundeskanzler zu sein, bedurfte es keines unaufgearbeiteten Ödipus-Komplexes in Drittauflage; um mit Entsetzen zu reagieren auf den Einsatz chemischer Massenvernichtungswaffen (= »Agent Orange«) in Vietnam,  musste man nicht neurotisch sein (das waren wir womöglich außerdem); um besorgt zu sein über den Einzug der »Nationaldemokraten« in nahezu alle bundesdeutsche Länderparlamente während der Jahre 1966 bis 1968, musste man nicht Anhänger sein des – nebenbei: eher selbst-persiflierend gemeinten – Slogans »Trau keinem über 30!«. Wir kannten den Unterschied zwischen einem Adolf von Thadden und einem Ernst Bloch. Und selbst derjenige, der durch die 68-Bewegung zutiefst verletzt worden sein mag – anders nämlich kann ich die Abqualifizierungen der 68er nicht verstehen – , muss sich doch fragen lassen, ob er zur Erklärung dieser Protestgeneration nicht auch andere Gründe ausfindig machen kann als eine – offenbar dann vom Himmel gefallene – antidemokratische Grundhaltung bei den Studenten oder – nahezu ein Deutungsklischee inzwischen! – neurotischerweise unaufgearbeitete Sohn-Vater-Konflikte. Die Unbewusstheit, die früher über dem Persönlichen gelegen haben mochte, sollte nicht verschoben werden und sich nun über alles Politische legen (siehe hierzu auch Hardt 2004!). Außerdem, scheint mir, weiß hier offenbar die eine Hand nicht mehr, was die andere tut. Was die einen – Bode, Lorenz, Radebold, Schulz, die vielen Beiträger der Buchedition hier – in präziser empirischer und empathischer Arbeit zutage gefördert haben an Folgewirkungen der kriegsbedingten Traumata bei jenen Kindern, die 1968 junge Erwachsene waren und sich zum Teil bei der außerparlamentarischen Opposition engagierten, das ist bei der Abqualifizierung der 68er durch derart negativ-eingestimmte Teilnehmer an der »Kriegskinder«-Debatte offenbar keinerlei Beachtung mehr wert. Ich konkretisiere:

Immer wieder wird in den Veröffentlichungen über die Kriegskinder – auch im vorliegenden Band – neben anderem konstatiert, dass oft zu den Nachwirkungen der Kriegs- und Nachkriegsgreuel die folgenden Symptome zu zählen sind:

  1. »Defizite der emotionalen Kompetenz«, »Beeinträchtigung der emotionalen Kommunikationsfähigkeit«, »Gefühlsabwehr und – verleugnung«, »ausgeprägte Beziehungsstörungen«, »Verpönung der Gefühle von Traurigkeit und Verzweif-lung« – so Radebold;
  2. »Ausbildung einer generellen Gefühllosigkeit im Sinne der sogenannten Alexi-thymie« – so Tillmann Greb;
  3. »kontraphobisches…provokant-unverschämtes Auftreten« – so Günter Jerou-schek;
  4. »eher misstrauische Einstellung« – so Elmar Brähler und andere;
  5. »Weitergabe von Schuldgefühlen« an diese Generation – so Dagmar Soerensen-Cassier;
  6. »unbewusste Motive wie Wiedergutmachung, Reparation und Ersatz« – so Bertram von der Stein.

Dies alles weiß man nun – oder glaubt man zu wissen – , dies alles wird als Belastung für die »Kriegskinder« diagnostiziert; doch sind diese »Kriegskinder« als 68er »auffällig« geworden, wird dies – merkwürdig genug – zum Belastungsmaterial gegen sie. Man stelle sich vor, was das für Psychotherapien bedeuten würde, diese widerspruchsvolle Doppelfront aus moralisch-psychologischer Abqualifizierung und Verständnis zugleich: Niemandsland? Double-bind? Hier, scheint mir, ist Rückbesinnung und Nacharbeiten erforderlich, Selbstreflexion und Selbstempathie bei denjenigen, die sich mit ihren Vorwürfen gegen die »bösen« »neurotischen« 68er derart in ihre Vorwurfshaltung verlaufen haben. Anderenfalls belasteten solche politischen Einseitigkeiten das gesamte Forschungsprojekt. Und ich stellte an früherer Stelle schon einmal fest: destruktive Differenzen treten dann auf, wenn Differenzierungen verloren gehen. Hier drohen sie das.

Jürgen Reulecke, der eine der beiden Autoren, an den ich mich mit diesem Appell wende – von ihm stammt die – völlig unbelegte – These, dass die APO-Bewegung eine antidemokratische Bewegung gewesen sei (s. Schulz u. a., S. 149! – Apropos: ich kenne nur eine empirisch-psychologische Untersuchung, die sich mit dem politischen Bewusstsein der Studenten zu dieser Zeit beschäftigt hat, und diese Studie belegt das genaue Gegenteil:  die zweibändige Studie von Sperling/Jahnke 1974 (1993), s. Literaturverzeichnis!) –, Jürgen Reulecke hat sich verdienstvollerweise zur Aufgabe gesetzt, die überkommene Geschichtswissenschaft zu ergänzen durch eine »psychohistorisch fundierte Mentalitätsgeschichte« (Schulz u.a., S. 145). Dies verlangt dem Forscher gleich mehrfache Qualifikationen ab, historische wie psychologische – was keine Kleinigkeit ist. Ausdrücklich ist dem Gießener Historiker zuzustimmen, dass es auch um »Erfahrung« und »Subjektivität« gehen müsse, wenn man Geschichte verstehen will (ibid., S. 145). Es ist zu wünschen, dass dies nicht in ersten Ansätzen stecken bleibt, wozu auch seine von mir kritisierten Missverständnisse zählen.

Und Angelika Trilling, die als Diplompädagogin im Bereich Altenarbeit tätig ist, zahlreiche Publikationen zu diesem Thema vorweisen kann und im vorliegenden Band interessante Vergleiche zwischen den Erinnerungskulturen in Großbritannien und Deutschland anstellt – von ihr stammen die von mir kritisierten Aussagen zu den »notorischen 68ern«, die, bitteschön, in ihren alten Konflikten stecken bleiben mögen, und sie ist es auch, die glaubt, Martin Walser als einen der »Wohlwollendsten« bei der Debatte über den deutschen Faschismus bezeichnen zu können – , Angelika Trilling möchte ich entsprechend zur selbstempathischen Klärung der eigenen Verletztheit ermutigen, die – so vermute ich – auf Verhaltensweisen der 68er zurückzuführen ist.  Denn um nicht missverstanden zu werden: es geht hier nicht darum, zurückzukritisieren – meinerseits nun –, sondern, um Kontextverständnis und Aufhebung der Unbewusstheit auf allen Seiten, damit aus dem Teufelskreis von Antihaltungen und Anti-Antihaltungen und Anti-Anti-Antihaltungen herausgefunden werden kann.

Wenn man – zu einem Teil ganz sicher zu Recht – uns 68ern vorgeworfen hat, dass unser Protest oft allzu  lieblos und aggressiv vorgetragen worden sei und unsere Kritik allzu oft auch geprägt erschien von einem moralischen Rigorismus, der für andere nur schwer erträglich war und auf ein sehr strenges – womöglich zwanghaft-starres – Überich zurückschließen lässt, dann sollte bei allem Verständnis für diese Kritik an der kritischen APO-Generation – gerade im Zusammenhang mit der »Kriegskinder«-Thematik hier! – doch auch festgestellt werden dürfen: man kann nicht andere Kinder erwarten, als von den Eltern erzogen worden sind – mit deren Begrenztheiten und deren Not! Und bedenkenswert ist doch sicher auch das Folgende noch:

  1. War dennoch nicht oft genug bei unseren Protesten die Sorge, die uns umtrieb, wahrnehmbar genug? Sollte sorgfältige psychohistorische Forschung nicht auch diese Frage klären: wie sah es auf der Gegenseite zur APO mit der Wahrnehmungsfähigkeit aus? Und vorher noch: was war mit dem Ursachenbündel der »Zweiten Schuld«? Nimmt man tatsächlich an, das habe nicht zur Entstehung der APO beigetragen?
  2. Trafen die genannten Vorwürfe – Aggressivität und moralischer Rigorismus – tatsächlich auf alle 68er zu? Stimmt wirklich dieses pauschale Verdikt, oder gab es nicht von Anfang an – ich glaube mich sehr genau zu erinnern! – auch die anderen 68er, von manchen »Genossen« als »systemimmanente Veränderer« oder auch »Psychofraktion« verschrien? Nicht zuletzt der Begründer des Verlages, in dem dieses Buch erscheint, kann ein Lied davon singen!
  3. Bestimmten nicht damals und bestimmen nicht heute vor allem auch medienspezifische Bilder den Blick? War es nicht damals so, und heute sieht das nicht anders aus, dass medientypischerweise vor allem die öffentliche Aufmerksamkeit gerichtet wurde auf die Extremformen dieser Bewegung? Rabatz machte fast immer Schlagzeilen. Aber auch das Argument? Also, quellenkritisch an die Adresse von Historikern und Psychologen gesagt: von welchen Quasigesetzlichkeiten der Mediengesellschaft wird bis auf den heutigen Tag das Bild von der APO nicht zuletzt auch – auch, sage ich – verzerrt? Und schließlich:
  4. Wie sah das eigentlich – in puncto Aggressivität und moralischer Rigorismusvor dem Entstehen der APO in der Bundesrepublik aus? Egal, ob man an Erziehungsdressuren im Haarer-Stil denkt oder an den Debattenstil im Bundestag? Kann man ex post von den 68ern an Reife verlangen, was kaum jemand sonst in der Gesellschaft vorher vorgelebt hat?

»Den richtigen Ton finden« für unsere Debatte, »differenziert analysieren«, eine »verantwortungsvolle Erinnerungskultur« entwickeln – das waren Brumliks Stichworte zum Beginn dieses Beitrags. Ich denke, dieser Forderungskatalog bedeutet für unsere Fragestellung hier:

  1. Durch die Erscheinungsformen der Geschichte und Geschichten hindurch ihr Wesen erkennen. Das ist, gerade wenn es ums »Subjektive« geht, nicht immer leicht; es schließt aber verstehende Einfühlung gerade auch in die unbewussten Prozesse mit ein, auf der eigenen wie auf der anderen Seite;
  2. zwischen Extremformen und Kerngeschehen unterscheiden lernen – und zwischen beidem den Zusammenhang erkennen;
  3. dabei Kenntnis berücksichtigen über die Quasigesetzlichkeiten der Mediengesellschaft; sonst droht die Gefahr selektiver Wahrnehmung bis zur völligen Entstellung der Wirklichkeit;
  4. der eigenen emotionalen Reaktionen bewusst werden und lernen, diese zu bearbeiten und zu verstehen – und dies nicht zuletzt so, dass auch der jeweils andere sie versteht oder verstehen kann.

Nur so, wenn sich Historiker dem Psychologischen öffnen und die Psychologen dem Historischen – und beide auch imstande sind, auf allen Seiten Unbewusstheit aufzuheben – , können wir Geschichte potentiell ganz verstehen: die Geschichte der »Kriegskinder«, die Geschichte der »APO-Generation« – und zwischen beiden Geschichten den Zusammenhang. Verständnis hier, Verurteilung da helfen nicht. Die Wahrheit ist nur als Ganze zu haben, der Mensch nur mit seiner vollständigen Geschichte ganz zu verstehen – oder gar nicht. Und ich meine: auch nur jenseits einer »Erinnerungspolitik« von links oder von rechts kann dies gelingen. Sonst lassen wir die »Kriegskinder«, die inzwischen erwachsen geworden sind, dort, wo sie das Leben als Grauen erfahren mussten: zwischen den Fronten.

 

»Literaturverzeichnis«

Aufbau Verlag Berlin (2004): Herbst 2004. Das Programm.

Bauriedl, T. (1988, Neuausgabe): Die Wiederkehr des Verdrängten. Psychoanalyse, Politik und der einzelne. München (Piper).

Bode, S. (2004): Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart (Klett-Cotta).

Brumlik, M. (2005, in Vorbereitung): Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin (Aufbau).

Chamberlain, S. (1997): Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher. Gießen (Psychosozial).

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Giordano, R. (1987): Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg (Rasch und Röhrig).

Haarer, J. (1934): Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. München (Lehmann).

Hardt, J. (2004): Die Frage nach dem Menschen stellen. Keine systemkonforme Psycho-technik neben anderen: Die Zukunft der Psychoanalyse und die Laienfrage am Beispiel von Hanns Sachs. In: Frankfurter Rundschau vom 8. Juni 2004, S. 19.

Heimannsberg, B., Schmidt, Chr. J. (Hgg.) (1988): Das kollektive Schweigen. Nazivergangenheit und gebrochene Identität in der Psychotherapie. Heidelberg (Asanger).

Lorenz, H. (2003): Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation. München (List).

Meyer, A. (1990): Die Kinder von Auschwitz. Göttingen (Lamuv).

Moser, T. (1996): Dämonische Figuren. Die Wiederkehr des Dritten Reiches in der Psychotherapie. Frankfurt am Main (Suhrkamp).

Naumann, K. (2004): Aus Anklage ist Klage geworden. Kronzeugen der Opfergesellschaft? In zahlreichen Buchveröffentlichungen melden sich die „Kriegskinder“ als eine neue Erinnerungsgemeinschaft zu Wort. In: Frankfurter Rundschau vom 17.4.2004.

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Platta, H. (1986): Der Kampf um Erinnerung. Anmerkungen zur Psyche-Kontroverse über die Rolle der Psychoanalyse im Nationalsozialismus. In: psychosozial 28, S. 92-104.

Platta, H. (1998): Ich-Vernichtung als Identitäts-Idee. Das Menschenbild der Neorechten in der Bundesrepublik. In: ders.: Identitäts-Ideen. Zur gesellschaftlichen Vernichtung unseres Selbstbewußtseins. Gießen (Psychosozial), S. 173-213.

Radebold, H. (2000): Abwesende Väter. Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).

Schulz, H., Radebold, H., Reulecke, J. (2004): Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration. Berlin (Ch. Links).

Schwilk, H., Schacht, U. (Hgg.) (1994): Die selbstbewußte Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte. Berlin (Ullstein).

Sperling, E., Jahnke, J. (1974, Neuauflage 1993): Zwischen Apathie und Protest. Bde I und II. Bern und Göttingen (Huber).

Wahrig, G. (Hg.) (1978): dtv-Wörterbuch der deutschen Sprache. München (dtv).

Welzer, H., Moller, S., Tschugnoll, K. (2002): „Opa war kein Nazi!“ Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main (Fischer).

Welzer, H. (2004): Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationsromane. In: Mittelweg 36, 1, S. 53-64.

Winnicott, D. W. (1999): Kind, Familie und Umwelt. München (Reinhardt).

Wirth, H.-J. (1988/89): Der Fall Jenninger und unsere Schwierigkeiten mit der deutschen Vergangenheit. In: psychosozial 36, S. 55-61.

Wirth, H.-J. (2001): Hitlers Enkel oder Kinder der Demokratie? Gießen (Psychosozial).

 

Anmerkung der Redaktion: Der zweiteilige Artikel von Holdger Platta überschneidet sich thematisch in vielerlei Weise mit dem Inhalt seines Gedichtbands „Ruhmesblatt mit Linsengericht“, den wir auf diesem Weg noch einmal wärmstens empfehlen. Rezension zum Buch hier.

Holdger Platta:
Ruhmesblatt mit Linsengericht. Erzählgedichte
Pop Verlag
82 Seiten, Euro 12,80

 

 

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