Bürgerverunsicherung oder woran unser Gesundheitswesen wirklich krankt

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“Kranken hilft man” (Filmszene aus “John Q – Verzweifelte Wut”

Die SPD geht mit der Idee einer Bürgerversicherung in Koalitionssondierungen, die sie eigentlich vorab ausgeschlossen hatte. Eine Aufhebung der Zwei-Klassen-Medizin ist angeblich beabsichtig. Klingt gut, es ist aber zu befürchten, dass wieder nur eine drittklassige Sache dabei herauskommt. Was bei allen „Gesundheitsreformen“ der letzten Jahre auffällt, ist die Tatsache, dass es sich ausschließlich um Gesundheitsfinanzierungsreformen handelte. Was eigentlich eine dienende Funktion haben müsste, die Ökonomie, wird wieder einmal zur Hauptsache erhoben. Solange wir nicht der Ursache zu Leibe rücken, der Annahme dass Arztpraxen und Krankenhäuser Wirtschaftsunternehmen seien, die sich „rechnen“ müssten, erübrigt sich das Gejammer über Symptome. Alles läuft dann wieder auf eine Benachteiligung der Schlechtverdiener hinaus – auch wenn die SPD dies vorab ausschließen sollte.  (Roland Rottenfußer)

„Kranken hilft man“, lautet der zentrale Satz in Nick Cassavetes Hollywood-Drama „John Q – Verzweifelte Wut“. Denzel Washington spielt darin einen Vater, der das Krankenhauspersonal mit Waffengewalt dazu zwingen will, an seinem Sohn eine lebensrettende Herzoperation vorzunehmen. Warum das Krankenhaus das nicht ohnehin tut? John Q. ist „unterversichert“. Man lässt den Jungen lieber sterben, als eine Operation durchzuführen, die sich „nicht rechnet“. „Kranken hilft man“. Das wäre eigentlich ein ganz einfaches Motto, für jedermann spontan verständlich. Und war da nicht mal die Rede von einem „Hippokratischen Eid“?

Wenn die von der SPD favorisierte Bürgerversicherung – da sei Dobrindt vor – wirklich käme, so wäre sie nur eine von vielen Reformen, die uns in jüngerer Zeit entzückt haben. 2009 war das Jahr, in dem der Gesundheitsfond – lange angekündigt und viel angefeindet – endlich „kam“. Und weniger denn je schien es darum zu gehen, Kranken zu helfen. Gesundheitsfond, das hieß für viele Versicherte zunächst mal „tiefer in die Tasche greifen“. Als ob in unseren Taschen immer noch weitere unergründliche Tiefen mit ausreichenden Geldbeträgen verborgen wären. Die Beiträge stiegen von durchschnittlich 13,9 Prozent auf 15,5 Prozent. Dabei konnten sich Versicherte freuen, dass im Zuge des „Konjunkturpakts II“ von diesen 15,5 Prozent wieder 0,3 Prozent abgezogen wurden.

Zusatzbeiträge – eine der typischen Negativreformen

Klar war auch von Anfang an, dass die vom neoliberalen Zeitgeist ohnehin gehätschelten Arbeitgeber mit dem neuen System wieder einmal gut bedient waren. Zusatzbeiträge, die „Not leidende“ Kassen seit 2010 erheben können, müssen die Arbeitnehmer allein zahlen. Das Paritätsprinzip (Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen Sozialversicherungsbeiträge zu gleichen Teilen) ist somit im Kern ausgehebelt. Man kann auch von einer neuen Umverteilung zugunsten der Arbeitgeber sprechen. Bei Einführung der ersten Zusatzbeiträge bei einigen Kassen wie der DAK wanderten Versicherte scharenweise und entrüstet zu denjenigen Anbietern ab, die solche Beiträge vorerst nicht erhoben – die meisten zu TKK. Ein paar Jahre später führte die TKK, der Hauptprofiteur dieser Wanderbewegung, selbst Zusatzbeiträge ein. Die meisten haben seither resigniert.

Die Neuerungen der Jahre 2009 und 2010 ließen sich jedoch nicht alle eindeutig in ein Links/Rechts-Schema einordnen. Der Fond hat auch etwas mit einer Rückbesinnung auf das Kollektive zu tun. Von einer „Rückkehr des Staates“ war ja auch im Zusammenhang mit „Schutzschirmen“ für Banken in der Finanzkrise oft die Rede. Die Kassen stehen nun scheinbar nicht mehr als „Einzelkämpfer“ da, die miteinander um Marktanteile ringen. Alles wird unter ein größeres Dach gestellt, und auch Steuergelder fließen dem Fond zu. Die Stärkeren helfen den Schwächeren, und welche „Freiwilligen“ für solche Ausgleichszahlungen herangezogen werden, bestimmt der Staat. Verhaltensweisen, wie wir sie von den privaten Kassen kennen – von Gesunden kassieren, die Kranken ausschließen –, sind unter der Oberhoheit des Gesundheitsfonds ökonomisch nicht mehr sinnvoll.

„Privat oder Kasse? – die Schicksalsfrage

Wie ist vor diesem Hintergrund eine mögliche Bürgerversicherung zu bewerten? Zunächst sollte kein sozial denkender Mensch etwas gegen die Absicht einzuwenden haben, die Zwei-Klassen-Medizin abzuschaffen. Privatversicherungen waren nie etwas anderes als ein Auswuchs der unsolidarischen neoliberalen Eigenverantwortungslogik. Wenn Privatversicherte – bei meinen Eltern durfte ich das miterleben – in ein Krankenhaus eingeliefert werden, dann werden sie als erstes nicht etwa gefragt, wie es ihnen geht; sie müssen ein Formular unterschreiben, in dem sie sich verpflichten, einen Betrag zu bezahlen, der etwa dreimal so hoch ist wie das, was einem Kassenpatienten abgeknöpft wird. Das Geld dürfen sie sich dann später von der Privatkasse zurückholen. Wer das Geld – oft sind es fünfstellige Summen – nicht flüssig hat, muss bei seiner Kasse nachfragen, ob diese auf das Vorstrecken der Krankenhauskosten verzichtet.

Notgedrungen korrumpierten solche Regelungen den Medizinbetrieb. Wer nicht vom Fuß bis zur Haarspitze von Selbstlosigkeit durchdrungen ist, bei dem sind fortan Privatpatienten einfach beliebter. Arztpraxen sowie Kliniken geben sich keine allzu große Mühe, den „Zweitklassigen“ gegenüber zu verbergen, wie weit unten sie auf der Prioritätenliste stehen. „Privat oder Kasse“ wird man gleich am Eingang gefragt, was eigentlich merkwürdig ist, weil sich ein privater und ein Kassen-Nierenstein ja gleichermaßen beschissen anfühlen. Was nun den Reformvorschlag der SPD anbetrifft, so wird es ganz darauf ankommen, welche Variante sich – auch im Ringen mit den neoliberalen Hardlinern der Union – durchsetzt. Wenn jeder und jede einen gleich hohen Prozentsatz aus seinen Einkünften einzahlt, klingt das zunächst fair. Reichenschonende Abmilderungen wie die „Beitragsbemessungsgrenze“ (Die Deckelung der Beiträge für besonders gut Verdienende) dräuen aber schon am Horizont. Die Möglichkeit privater Zusatzversicherungen begünstigt wiederum… raten Sie! Zu schweigen von der Horroridee einer Kopfpauschale, bei der – um ein Beispiel zu nennen – Lidl-Chef Dieter Schwarz (geschätztes Vermögen: 22 Milliarden Euro) den gleichen Beitrag zahlen müsste wie seine Putzhilfe.

Ökonomie über alles

Was bei all diesen „Gesundheitsreformen“ aber zu allererst auffällt, ist die Tatsache, dass es sich ausschließlich um Gesundheitsfinanzierungsreformen handelt. Was eigentlich eine dienende Funktion haben müsste, die Ökonomie, wird wieder einmal zur Hauptsache erhoben. Zwar sprachen und sprechen Politiker natürlich immer wieder in Nebensätzen vom „Wohl des Patienten“. Doch bleibt das, was für die Gesundheit der Menschen aus medizinischer und seelenkundlicher Sicht zu tun wäre, weiterhin ungetan, ja es wird nicht einmal debattiert. Die Hauptfrage sollte doch sein: „Was hilft?“, oder noch besser: „Wie schaffen wir es, dass Krankheiten gar nicht erst entstehen?“

„Kranken hilft man“? So einfach ist das heute nicht mehr. In drastischen Fällen verkommt die Arztpraxis zu einer Art Zusatzleistungen-Basar. In einigen Praxen werden Patienten bereits im Wartezimmer per Videoscreen mit Werbeangeboten beschallt. Manchen Ärzten ist ihre neue Rolle als „Verkäufer“ offenbar selbst peinlich, weshalb der Wartezimmer-Programmanbieter medcreen in einer Broschüre verspricht: „Ja, Sie können Ihre Zusatzleistungen auf medscreen bewerben. So ersparen Sie sich viel vom Verkaufsgespräch mit den Patienten.“ Damit wird als selbstverständlich suggeriert, dass „Verkaufsgespräche“ zu den Aufgaben eines Arztes gehören. „Zuzahlung“ wird so in unserem Gesundheitssystem schrittweise zur gnädigerweise gewährten Ausnahme in einer Selbstzahler-Kultur.

Strafe für Prävention

Jedenfalls gilt das für so genannte Bagatell-Erkrankungen. Wenn man heute als Brillenträger eine neue Brille braucht, betragen die Kosten zwischen 400 Euro (Standard) und 800 Euro (Gleitsicht) – ohne Gestell! Zuzahlung der Kasse: 0,0 Euro. Wer sich unter diesen Umständen keine Brille leisten kann, riskiert weitere Verschlechterung seiner Sehkraft und sogar Unfälle. Wenn man heute eine Zahnarztpraxis betritt, darf man erst einmal eine Blanko-Erklärung unterzeichnen, dass man eventuell nicht von der Kasse getragene Leistungen auch ganz sicher aus eigener Tasche zahlt. Prophylaxe, also das „ganz normale“ Herumkratzen und Herumscheuern an den Zähnen nebst Ratschlägen des Arztes, wie man sich am besten die Zähne putzt, kostet 65 Euro. Eine Strafgebühr für Präventionswillige also.

Wie ökonomisch ist es überhaupt, Menschen zu helfen? Solange wir nicht der Ursache zu Leibe rücken, der Annahme dass Arztpraxen und Krankenhäuser Wirtschaftsunternehmen seien, die sich „rechnen“ müssten, erübrigt sich das Gejammer über Symptome. Selbst, wenn wir das Problem ökonomisch betrachten, kann man „Betriebe“, die ihren „Kunden“ immer mehr Geld für immer weniger Leistung abverlangen, und die ihre Mitarbeiter (Pflegepersonal und Assistenzärzte) zunehmend ausbeuten und überfordern, kaum als erfolgreich bezeichnen. Meist wird bei Diskussionen über das Gesundheitssystem geflissentlich unterschlagen, dass es neben der Kunden- und Arbeitnehmer-Perspektive noch einen dritten, aber entscheidenden Aspekt gibt: „Unternehmen“ generieren Profite für Anleger und Aktionäre.

„Kostenexplosion“ = Zinsexplosion

Wenn irgendwo ein auf rätselhafte Weise eskalierender Geldmangel auftritt, liegt man meist richtig, dahinter Profitgier und Renditejäger zu vermuten. Dies ist im Gesundheitswesen nicht anders. In welcher Weise kann der im System eingebaute Zwang, „Shareholder Value“ auszuschütten, den Medizinbetrieb beeinflussen? Zunächst auf der Ebene der Herstellungskosten: Hinter der „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen stecken auch hohe Preise für Medikamente und medizinisch-technische Geräte. Hinter diesen stecken Zins und Zinseszins für die Anleger der betreffenden „Pharma-AGs“. Hinzu kommt die Praxis der Patentierung von Medikamenten als „geistiges Eigentum“, durch die sich auf dem Pharmasektor Konkurrenz wirksam ausschalten lässt. Und wer sich konkurrenzlos fühlt, kann sich bei der Preisgestaltung völlig „frei“ fühlen.

Ein dritter Faktor sind Investitionen, die ein Arzt beim Einrichten seiner Privatpraxis tätigen muss. Kaum einer kann sich die Räumlichkeiten und teuren Apparaturen aus der „Portokasse“ leisten. Es müssen also Kredite aufgenommen werden, und davon profitieren Banken und deren Anleger. Allein in Mieten verstecken sich in der Regel über 60 Prozent Zinskosten. Ein viertes Thema ist die zunehmende Privatisierung von Krankenhäusern. Die Bundesärztekammer spricht diesbezüglich von einer „beispiellosen Privatisierungswelle“, die den Krankenhaussektor in den letzten Jahren überflutet habe. Dazu eine Zahl: Experten schätzen, dass bis zum Jahr 2020 zwischen 40 und 50 Prozent der deutschen Krankenhäuser privatisiert sein werden. Mit einer gesunden Bevölkerung und fairen Löhnen lassen sich hohe Renditen jedoch kaum erwirtschaften.

Der Medizinbetrieb braucht Krankheiten

„Kranken hilft man“?  Wenn das so einfach wäre! Wer den Satz ernst nimmt, kann finanziell schon mal in die Bredouille kommen. Eine Bekannte von mir, Heilpraktikerin, erzählte mir neulich von einer Patientin, die durch mehrmalige Behandlung nachhaltig von einem Symptom kuriert wurde. Was kann sich eine Therapeutin eigentlich Schöneres wünschen? Warum wirkte meine Bekannte dann trotz der guten Nachricht irgendwie traurig? „Sie kommt nicht mehr zu mir“, gab sie zu. „Sie ist geheilt, also braucht sie mich nicht mehr.“ Der Verlust einer treuen Stammkundin kann für eine „Kleinunternehmerin“ durchaus ein schwerer Schlag sein. Was soll die Heilpraktikerin also tun? Beim nächsten Mal eine schlechtere Therapeutin sein? Vor diesem grundlegenden Dilemma stehen alle Beteiligten am medizinischen Betrieb.

Der Wille, Gesundheit wirklich zu fördern und zu erhalten, wäre die Grundlage für alle Maßnahmen im Gesundheitswesen, die wirklich greifen sollen. Der Gesundheitsbetrieb hängt existenziell vom Vorhandensein eines Übels ab: der Krankheit. Es besteht somit die Gefahr, dass viele daran Beteiligte zumindest unbewusst nicht ernstlich an der Abschaffung dieses Übels interessiert sind. Der größte Erfolg eines Arztes (nämlich die vollständige und nachhaltige Gesundung aller Patienten) wäre zugleich sein größter Misserfolg, der Zusammenbruch seiner Lebensgrundlage. Krankheit ist gleichsam das Brennmaterial, ohne dessen ständige Erneuerung das Feuer des gesamten Medizinapparats erlöschen würde. Oder zynisch gesagt: So lange es noch einen einzigen gesunden Menschen gibt, besteht im Gesundheitswesen noch Wachstumspotenzial.

„Abschaffung der Gesundheit“

 Was bedeutet Wachstum im Gesundheitswesen konkret? Im günstigsten Fall kann es bedeuten, dass eine Allianz aus Industrie, Ärzten und Medien eine Art kollektive Hypochondrie fördert. Spiegel-Autor Jörg Blech hatte das vor einigen Jahren in seinem Artikel „Die Abschaffung der Gesundheit“ ironisch und zugleich erschütternd dokumentiert. „Natürliche Wechselfälle des Lebens, geringfügig vom Normalen abweichende Eigenschaften oder Verhaltensweisen werden systematisch als krankhaft umgedeutet“, schreibt Blech. „Pharmazeutische Unternehmen sponsern die Erfindung ganzer Krankheitsbilder und schaffen ihren Produkten auf diese Weise neue Märkte.“ Als Beispiele für „Designer-Krankheiten“ nennte der Autor u.a. das „Sisi-Syndrom“, das „Aging Male Syndrom“, die „larvierte Depression“ oder die „Leisure Sickness“. „Für jede Krankheit gibt es eine Pille – und immer häufiger für jede neue Pille auch eine neue Krankheit.“

Ebenfalls noch vergleichsweise harmlos ist es, relativ geringfügige Symptome ärztlicherseits als dramatische Krankheiten zu klassifizieren. Wirklich kriminell wäre es allerdings, Krankheiten künstlich zu erzeugen und am Leben zu halten – frei nach dem Motto: „Am Gesundheitswesen hängen so viele Arbeitsplätze, dass es unverantwortlich wäre, den Krankenstand der Bevölkerung dem Zufall zu überlassen.“ Ich werfe keinem bestimmten Arzt, keinem bestimmten Pharmaunternehmen, keinem bestimmten Politiker vor, dieses Ziel bewusst zu verfolgen. Ich warne nur vor einer systemimmanenten Logik, die im Ergebnis dazu führen kann, dass Patienten nicht optimal versorgt, sondern eher zu langfristigen Abhängigkeiten von ärztlicher Behandlung verführt werden.

„Korrupte Medizin“

Jedenfalls wäre es naiv, bei allen Akteuren pauschal den Respekt vor dem Gesetz und dem Wohlergehen der Patienten vorauszusetzen. Der Sachbuchautor Hans Weiss zeichnet in seinem Buch „Korrupte Medizin“ ein düsteres Bild vom Gesundheitssystem. „Fast alle Pharmakonzerne sind notorische Gesetzesbrecher“, behauptet Weiss. Er meint damit illegale Vermarktungspraktiken, betrügerische Preismanipulationen, unerlaubte Beeinflussung von Ärzten, verbotene Werbung sowie Manipulation von Studien. Ärzte machen sich nach Recherchen des Autors gegen Bezahlung zu willfährigen Erfüllungsgehilfen der Pharmaindustrie. Das heißt, sie loben gegenüber Berufskollegen und Patienten „zufällig“ gerade diejenigen Medikamente, die ihre Auftraggeber gut und teuer verkaufen können

Auch der Themenkomplex der „iatrogenen Erkrankungen“ (durch ärztliche Behandlung erst verursachte Krankheiten) deutet darauf hin, dass vielleicht nicht alle Ärzte gleichermaßen an der nachhaltigen Gesundung ihrer Patienten interessiert sind. Das gleiche gilt natürlich für den unübersichtlichen Bereich der Nebenwirkungen. „Beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte werden jährlich 15.000 bis 17.000 schwere Arzneimittel-Nebenwirkungen gemeldet – davon verlaufen etwa 1.200 bis 1.400 tödlich. Allerdings werden viele Zwischenfälle gar nicht gemeldet“, schreibt Hans Weiss. Ist dies nur die Folge menschlicher Fehlbarkeit? Unter Profitgesichtspunkten könnte es geradezu die Hauptwirkung dieser Nebenwirkungen sein, dass für jedes unterdrückte Symptom drei weitere an anderen Stellen des Körpers aufsprießen. Und warum ignorieren die Kassen hartnäckig mittlerweile bewährte Methoden der Natur- und Komplementärmedizin? Weil sie nicht helfen? Oder gerade weil sie helfen?

Gefährliche Arztvermeidung aus Geldmangel

Ein weiteres brisantes Thema ist auch die zunehmende Verweigerung notwendiger medizinischer Leistungen gegenüber finanzschwachen Patienten. Unsere Medizin ist schon jetzt auf dem Weg in eine Mittelklassen- und Oberklassenmedizin. Wenig verdienende und „prekäre“ Bevölkerungsschichten stehen nicht selten vor der Alternative: „Essen oder Medikamente?“ Da überlegt man sich jeden Arztbesuch zweimal. Und mit der Entscheidung, bei den Medikamenten zu sparen, ist es ja nicht getan. Die Krankheit ist ja nach wie vor vorhanden, es besteht also die Gefahr der Verschlimmerung und Chronifizierung. Eine solche notgedrungene Arztvermeidungsstrategie der Ärmeren kann dazu führen, dass ein Patient irgendwann wirklich mit einem schwerwiegenden Symptom zurückkehrt. Und jetzt wird’s richtig teuer. Für die Krankenhäuser bahnt sich dann ein erfreulicher Aufwärtstrend bei der Bettenbelegung an.

„Ist der Medizinbetrieb ökonomisch?“ Allein diese Frage zeugt von einer Pervertierung des Denkens. Umgekehrt müsste gefragt werden: „Sind ökonomische Entscheidungen gesundheitsfördernd oder nicht eher schädlich?“ Unser Wirtschaftssystem leidet unter einem eingebauten Denkfehler, der einen Zwang zu immer mehr Wachstum generiert. Wäre es da verfehlt, zu folgern, dass dieser Wachstumsdruck krank macht und mitverantwortlich ist für Burnouts, Depressionen, Selbstunsicherheit und andere grassierende „Volkskrankheiten“? Neben dem ökonomischen ist auch ein psychischer Wachstumsdruck entstanden, der auf zwei Prämissen beruht: 1. „Wenn wir nicht immer noch mehr leisten, leisten wir nie genug.“ 2. „Wenn wir nicht lernen, auf immer mehr zu verzichten, sind wir nicht hart genug für die neue Zeit.“ Dies führt zu einem kollektiven Lebensgefühl der Angst und der atemloser Getriebenheit. „Wir schlagen wie wild mit den Flügeln, dass uns der Absturz verschont“, textete Herbert Grönemeyer. Eine nachhaltige Gesundung der Wirtschaft wie auch der kollektiven Psyche ist nur möglich, wenn über ein Wirtschaften ohne Wachstumszwang, also ohne Zins nachgedacht wird.

Wirtschaft ohne Wachstumszwang

Die Lösung kann in allen Fällen nur in folgende Richtung gehen: Ärzte, Apotheker, Pflegepersonal, Medikamentenhersteller müssen existenziell abgesichert sein, ohne zu ihrer Existenzsicherung auf eine große Anzahl von Schadensfällen angewiesen zu sein. Der Hauptfokus muss sich auf Prävention richten. Zusätzliche Einkünfte für im Gesundheitsbetrieb Arbeitende (über das Grundgehalt hinaus) darf es nur geben, wenn Verdienste um die Schadensvermeidung und Prophylaxe nachgewiesen werden können. Dafür muss nicht nur der Wachstumszwang aus dem System „herausoperiert“ werden, die Macht der Pharmalobby insgesamt muss gebrochen werden. Das Abfließen von Geldern in die Hände von Renditejägern muss gestoppt werden. Freilich ist das ein anspruchsvolles Projekt, das auf erhebliche Widerstände stoßen würde. Ein beinahe unmöglicher Vorschlag. Doch wenn das „Mögliche“ unser Gesundheitsversorgung krank gemacht, kann uns wahrscheinlich ohnehin nur das „Unmögliche“ retten.

 

 

 

 

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