Das lichte Gesetz des Geistes

 In FEATURED, Kultur, Peter Fahr, Philosophie

Autor Peter Fahr

Der Poet und Schriftsteller Peter Fahr begann früh zu malen und entschied sich Anfang zwanzig fürs Schreiben. Was es heißt, dem Ruf der Worte zu folgen und sein Leben der Poesie zu widmen, schildert dieser Text. „Jede Antwort birgt eine Frage“, schreibt Fahr. Seine Überlegungen gipfeln in der Essenz: „Nur wer in Bewegung ist, kommt nicht aus dem Gleichgewicht.“

Der Werdegang des Künstlers ist dunkel und geheimnisvoll. Bis ein Mensch erkennt, dass nur die Kunst seinem Leben Sinn zu geben vermag, vergehen oft Jahre der inneren Kämpfe und der äußeren Suche. Über viele Umwege kommt der Berufene zum Künstlertum. Bei Schriftstellern kann dieser Prozess der Selbstfindung besonders langwierig sein, denn Schreiben setzt eine gewisse Entwicklung vor-aus. Wer das Wort zu seinem Ausdrucksmittel macht, bekennt sich zum Geistigen.

Über die seelischen und geistigen Ursprünge einer künstlerischen Entwicklung kann spekuliert werden, denn der Werdegang des Künstlers beginnt in der frühen Kindheit, noch bevor das Selbstbewusstsein erwacht. Die prägenden Eindrücke dieser Zeit hinterlassen keine Erinnerungen. Spätere Einflüsse bündeln sich im Fluchtpunkt des Gedächtnisses und erhellen, von ihm wieder ausstrahlend, den einigermaßen vollständigen Entwurf des Künstlers.

Meine Ahnen sind Bauern, Handwerker und Arbeiter, bodenständige Leute, die ihr Geld auf dem Feld, im Stall oder in der Fabrik verdienten. Ich weiß von Förstern, Holzfällern, Steinhauern, Mechanikern und Uhrmachern. Zwei Vorfahren wanderten im 19. Jahrhundert in die USA aus und ein Großonkel väterlicherseits, dem ich täuschend ähnlich sehe, wurde in Mexiko von Banditen ermordet. In unserer Familie gab es sogenannte Durchschnittsmenschen, aber es gab auch Geschiedene, Blinde, Säufer, Nervenkranke, Politiker und solche, die ihr Hab und Gut innert kürzester Zeit durchbrachten. Davon, dass einer oder eine von ihnen geschrieben hätte, ist mir nichts bekannt. Einzig mein Vater hat in seiner Jugend gedichtet. Sein Bruder wollte Kunstmaler werden, hat diesen Wunsch aber seiner Frau zuliebe aufgegeben und blieb sein Leben lang ein talentierter Sonntagsmaler.

Herkunft

Meine Eltern stammten aus einfachen Verhältnissen. Sie waren strenggläubige Christen und rechtschaffene, arbeitssame und unbedarfte Bürger. Der Vater war von Beruf Postbeamter und stand am Beginn seiner Karriere hinter dem Schalter irgendeiner Filiale. Im Lauf der Jahre arbeitete er sich hoch bis ins Kader des Weltpostvereins. In der ohnehin knapp bemessenen Freizeit gründete er zwei nationale und zwei internationale Hilfsorganisationen, denen er Jahrzehnte lang vorstand. Er bereiste die ganze Welt. Die Mutter war Hausfrau und praktisch allein erziehend. Sie gründete später ein Kinderhilfswerk und leitete es viele Jahre.

Der Vater brachte die Welt nach Hause, wir Kinder nahmen regen Anteil an seinen Reisen. Er verkehrte nicht nur mit Flüchtlingen, Hungernden und Leprakranken, sondern auch mit Staatpräsidenten, Ministern, Funktionären der Vereinten Nationen und Medienleuten, was ihm in meinen Augen eine ungeheure Wichtigkeit verlieh. Wenn ich ihn an den Sitz des Weltpostvereins oder in die Büros der Hilfswerke begleitete, wurde mir das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte, von seinen Mitarbeitern und Untergebenen bestätigt. Sie bewunderten meinen Vater und schlossen mich, seinen Sohn, in ihre Bewunderung mit ein. Er war wichtig, ich war wichtig. Ich pinnte eine Weltkarte an die Wand meines Zimmers und markierte alle Orte, die der Vater schon bereist hatte. Ich legte mir eine Sammlung von Dokumenten an, die er mir von seinen Reisen mitbrachte: Flug-, Bus- und Metrotickets, Eintritts­karten von Museen und Kinos, Hotelrechnungen. Ich reiste in der Fantasie mit.

Mein Elternhaus war ein Ort des bescheidenen Glücks. Ich sehe mich beispielsweise als kleinen Jungen im Bett liegen, es ist Nachmittag, die Fensterläden sind geschlossen und im Dämmer des Raumes erkenne ich die Mutter, die auf das Fenster zugeht, es öffnet und die Läden weit aufstößt. Der Raum ist auf einmal erfüllt von Licht und Vogelgezwitscher, die Mutter neigt sich nach vorn, ich sehe sie im Gegenlicht, sie stützt die Unterarme auf den steinernen Fenstersims und genießt den Sonnenschein. So verharrt sie minutenlang. Ich liege im warmen Bett und betrachte sie und bin ganz ruhig und glücklich.

Ich erinnere mich an bestimmte Winterabende, an denen ich am Küchentisch saß und bastelte. Draußen war es bitterkalt, Schneeflocken tanzten vor dem Fenster. Ich bastelte ein papierenes mittelalterliches Schloss, schnitt die farbig bemalten Wände und Wehrtürme aus und klebte sie sorgfältig zusammen. Noch heute empfinde ich den heiteren Frieden, den ich damals empfand, sehe die karierte Tischdecke aus Wachstuch deutlich vor mir und rieche den penetranten Geruch des Leims. In solchen Augenblicken war ich versöhnt mit der Welt.

Lektüre

An einem heissen Sommertag – ich mag zehn gewesen sein – stürmte ich vom Garten ins Haus, um mir ein Butterbrot mit Zucker zu holen. Als ich die Haustür aufstiess, vernahm ich wunderliche Klänge aus dem Wohnzimmer, wo ich, nachdem ich mir die Schnitte zubereitet hatte, meine Schwester dabei überraschte, wie sie vor dem Radio kauerte und ihr Ohr an den vibrierenden Stoff presste. Eine Schallplatte lief und die Lautstärke war voll aufgedreht. Die Schwester lauschte einem kräftigen, wilden Gesang, der mich seltsam anrührte, sie lauschte wie in Trance, mit geschlossenen Augen und bebenden Lippen. „Non, rien de rien. Non, je ne regrette rien!“ Mit verzückten Gesichtszügen verschmolz sie mit der Stimme, der sie lauschte. „Allez venez, Milord!“ und „L’amour, ça fait pleurer.“ Danach legte sie eine neue Platte auf. Diesmal war der Gesang melancholisch und träge. „Monsieur le Président, je vous fais une lettre … Je ne suis pas sur terre, pour tuer des pauvres gens. Il faut que je vous dise, ma décision est prise, je m’envais déserter!“ Bewegt beobachtete ich die Schwester, die mich nicht bemerkte, und ich fühlte, dass die Lieder, die sie hörte, etwas Besonderes waren.

Die Verwunderung über die glühende Hingabe meiner Schwester machte auch mich hellhörig. Und so freute ich mich sehr, als die Mutter damit begann, uns Kindern vor dem Zubettgehen Jugendbücher und Fortsetzungsromane vorzulesen. Die halbstündigen Lesungen fanden im elterlichen Schlafzimmer statt. Mutter saß auf einem Stuhl am Fußende der Betten und hielt das Buch in den Schein der schummrigen Hängelampe. Sie las jeweils ein Kapitel, manchmal deren zwei, wenn wir lang genug gebettelt hatten. Sie las mit kräftiger Stimme und echter Empfindung. Lustige Passagen ließen sie schmunzeln, Liebesszenen oder tragische Episoden konnten sie zu Tränen rühren. Meine jüngeren Geschwister und ich lagen aneinander gekuschelt in den weichen Betten, die schneeweiß bezogen waren und nach den Eltern rochen, gebannt lauschten wir den Abenteuergeschichten, die so vorgelesen wurden, als hätten sie sich wirklich zugetragen. Wir träumten mit offenen Augen, das Gefühl der Geborgenheit genießend, und wenn wir uns bewegten, quietschten die Sprungfedern unter den Rosshaarmatratzen.

Als Primarschüler wurde ich ein vielgesehener Kunde der örtlichen Leihbibliothek. Am liebsten las ich die Kinderbücher von Astrid Lindgren und populärwissenschaftliche Sachbücher über Dinosaurier, Archäologie, Astrologie und Raumfahrt. Als ich mit zwölf Jahren nach Fribourg ins Internat kam, konnte ich mein bisheriges literarisches Niveau aus unerklärlichen Gründen nicht mehr halten. Ich verschlang Hunderte von Groschenheften, deren Held Jerry Cotton hieß und wechselte schließlich zu englischen Kriminalromanen über.

Und dann begann ich Tagebuch zu schreiben, ich habe damit bis heute nicht mehr aufgehört. Die schriftliche Auseinandersetzung mit dem Tag, mit der Stunde, mit dem Augenblick erleichtert mir den Gang durch die Zeit. Der Weg des geistigen Menschen ist voller Hindernisse und so stütze ich mich auf diese Konfrontation mit der Welt wie auf einen Stock. Im Gehen treffe ich auf andere Menschen, die meinen Weg kreuzen oder eine Wegstrecke mit mir zurücklegen, ich lerne sie kennen und bedenke unser Schicksal. Ich beobachte – die anderen und mich selbst –, überlege und ziehe Schlüsse, die ein paar Schritte weiter schon wieder verworfen werden. Schreibend erkenne ich täglich neu, was Zeitgenossenschaft bedeutet: Mich den Fragen zu stellen, die das Leben für mich bereithält.

Berufung

Schon mit sechzehn Jahren wusste ich, dass ich ein Künstler bin. Damals hielt ich mich für einen Kunstmaler und hatte den Wunsch, eine Akademie zu besuchen. Die Eltern waren dagegen. In den kommenden Jahren hatte ich das Gefühl, geboren worden zu sein, um verhindert zu werden. Ich wurde in Berufe gezwungen, die ich nicht ausüben wollte, zuerst von den Eltern und Erziehern, später vom Leben selbst, denn ohne Brotberuf wäre ich schlicht verhungert. So schlüpfte ich in unzählige Rollen, um mir als Künstler treu zu bleiben. Ich war Gymnasiast, Gärtner, Magaziner, Kunstgewerbeschüler, Zeitungsausträger, Seminarist, Portraitmodell, Drucker, Student, Cartoonist, Buchbinder, Beleuchter, Fotograf und Journalist. Ich bewarb mich – leider erfolglos – als Kioskhalter, Wachmann und Bouleur in einem Spielkasino. Von diesen ausgefallenen Jobs hatte ich mir Anregungen für meine künstlerische Arbeit erhofft. Einmal hatte ich den spleenigen Einfall, Sortimentsbuchhändler zu werden, ich fand sogar eine Lehrstelle, die ich dann allerdings nicht antrat.

Als junger Kunstmaler war ich fasziniert, ja besessen vom menschlichen Körper, auch vom eigenen. Meine Lieblingsmotive waren der Frauenakt und das Selbstportrait. Malend feierte ich die Schönheit des weiblichen Körpers, seine natürliche Unschuld, die mich magisch anzog, seine „Göttlichkeit“. Vor dem Spiegel hingegen zeichnete ich die rätselhafte Innenwelt meiner Person, in den entspannten oder verzerrten Gesichtszügen ergründete ich ihre Licht- und Schattenseiten, meine „Menschlichkeit“. Malen und Zeichnen waren transzendente Erfahrungen, die mich die schwierige Zeit der Pubertät überstehen ließen. Mit einundzwanzig Jahren genügten mir Gott und mein Spiegelbild nicht mehr, ich sehnte mich auf einmal nach anderen Menschen. Schreibend tat ich einen Blick durch den Spiegel und entdeckte das Du.

Nun kam ich mir vor wie jener Vogel im Käfig, der sein Lied singt und leidenschaftlich von der Freiheit träumt. Dass die Freiheit eine Katze ist, die lauernd vor dem Käfig sitzt, kümmert den Vogel nicht, er träumt trotzdem, denn der Traum ist die Seele seines Gesangs. Den Versuch, mich schreibend auszudrücken, empfand ich als große Befreiung, er war ein Aufbruch zum Mitmenschen. Natürlich befand ich mich weiterhin im Käfig, aber ich fühlte mich nicht mehr allein. Und die Katze war verschwunden. Erst allmählich sollte ich erfahren, dass die zwischenmenschliche Herausforderung die Isolation des Schriftstellers nur scheinbar aufbricht. Die liebende Begegnung mit dem anderen ist nur der erste Schritt auf einem anstrengenden Weg zum wahren Selbst, einem Weg, der den Schriftsteller aus dem Kollektiv in die Vereinzelung, aus der Anpassung in den Widerspruch und aus der Sinnlichkeit in die Vergeistigung führt.

Zwischenspiel

Nach ein paar Jahren des zaghaften Schreibens und dem Anwachsen eines Schuldenbergs ergatterte ich mir ein Stipendium und schrieb mich an der Universität ein. Ich studierte Germanistik und Kunstgeschichte, doch mein Studium blieb eine Episode, die nur fünf Semester währte.

Ordinarien und Dozenten glichen Priestern, die das Tote achten und das Lebendige ächten. Die Assistenten schienen Messdiener zu sein, die bewundernd zu den Priestern aufschauten und alles taten, um ihnen zu gefallen. Und die Studenten saßen da wie Gläubige und notierten beflissen und widerspruchslos die Kathederweisheiten.

In den Vorlesungen der Literaturgeschichte waren Schriftsteller und Dichter, die das Zeitliche gesegnet hatten, unantastbar. Die lebenden Autoren wurden, wenn sie berühmt waren, kritisiert, und wenn sie berüchtigt waren, belächelt. Waren sie weder berühmt noch berüchtigt, wurden sie ignoriert.

Meine Tagträumereien im vollbesetzten Hörsaal. Ich saß immer in der hintersten Bankreihe und meistens direkt unter den hohen Fenstern, damit ich den Saal überblicken und unauffällig nach draußen schauen konnte. Von hier aus schrumpfte der Referent auf die Größe eines Gnoms, dessen Gesten an die hilflosen Bewegungen einer Marionette erinnerten. Ich war so weit von ihm entfernt, dass sein monotones Stimmlein mich kaum mehr erreichte. Die Köpfe der Studenten vor mir verschmolzen zu einem wogenden Meer, das sich in meiner Fantasie bis ins Unendliche erstreckte. Auf den grauen Wellen dieses Meeres hüpften meine Gedanken wie bunte Korken. Und wenn die Sonne darauf schien, tauchten aus den Tiefen der Flut Meerjungfrauen auf, deren Schönheit mich betörte. Hypnotisiert saß ich da und bestaunte eine schlanke Hand mit rotlackierten Fingernägeln, die vollendete Form einer Ohrmuschel oder den goldenen Flaum eines Nackens …

Wahrheit

Seit dem Abbruch meines Studiums bin ich hauptsächlich Poet und Schriftsteller und nebenher Geschäftsführer eines Hilfswerks. Mit der Nebensache finanziere ich die Hauptsache.

Oft komme ich mir vor wie ein verwöhnter Junge mit reichlich Spielzeug. Er türmt Klötzchen auf Klötzchen, fährt mit beiden Händen bunt lackierte Autos spazieren, erfindet sich einen Bauernhof mit Hühnern, Schweinen und Kühen und antwortet auf die Frage des Nachbarjungen, was er da tue, er engagiere sich. Die Erkenntnis schmerzt. Frisch hat gesagt: „Man muss der Wahrheit auch folgen können, wo sie gegen uns ist. Man muss untergehen können, um in Wahrheit geboren zu werden. Das ist die Taufe.“ Das ist das Problem.

Oft überwältigt mich ein heftiges Verlangen nach Literatur, nach exotisch anmutenden Worten und stilsicher gebauten Sätzen. Zwischendurch verlange ich mit der ernsten Miene eines frühreifen Kindes nach dem Spiel, das jede Kunst sein sollte. Dann verfluche ich den Alltag, um von wichtigeren Dingen zu träumen, von freundschaftlichen Handschlägen und verräterischen Blicken, von wildem Streit und stiller Versöhnung, von zärtlichen Umarmungen, hemmungslosen Liebesnächten und Küssen im Regen, kurz: Von all diesen großartigen Kleinigkeiten, die das Leben so schrecklich schön machen.

Oft definiere ich mich über das Hilfsmittel des Widerstands. Ich werde angegriffen und widerstehe, indem ich mich in mich versenke und den Schatz, den ich aus der Tiefe hebe, nach außen kehre – um geliebt zu werden. Denn wer liebt, greift nicht an. Bisher gab es keinen Lebensabschnitt, in dem ich mich nicht angegriffen gefühlt hätte. Nun will ich mir einen Freiraum schaffen, vielleicht auch einen Zeitraum, in dem ich keinen Widerstand zu leisten brauche.

Das Wissen, genug gelitten zu haben. Die Empfindung, geläutert zu sein. Die Freude, mein Leben als Geschenk zu sehen. Die Lust, von vorne zu beginnen. Die Gelassenheit, es zu tun.

Brotberuf

Muße ist Gewinn, Hetze Vergeudung von Zeit. Müßiges Tätigsein gipfelt im Schöpferischen, gehetztes Tätigsein in der Verwüstung. Schöpfung feiert das Leben, Verwüstung den Tod.

Müßiggang ist aller Künste Anfang.

Da meine Bücher zu wenig einbringen, habe ich einen Brotberuf. So muss ich das Schreiben oft genug entbehren. Glücklicherweise verhält es sich mit dem Schreiben wie mit dem Trinken: Entweder du bist ein Schriftsteller oder du bist keiner. Auch wenn du trocken bist, bleibst du ein Trinker – auch wenn du nicht schreibst, bist du ein Schriftsteller.

Die Sehnsucht nach einer einfachen, reinen und redlichen Sprache verzehrt mich.

Ich werfe dem Alltag den Fehdehandschuh ins Gesicht. Dabei fürchte ich, Freude zu säen und Neid zu ernten.

Brotarbeit und Liebe sind Verbündete im Kampf gegen die Fantasie, sie weisen die Literatur in ihre Schranken. Ich sage nicht, ich sei unglücklich. Ich meine, ich bin unzufrieden. Es braucht Einsamkeiten, die den Granit der Gewohnheit spalten und damit Freiraum schaffen für die eigentliche Arbeit, das Schreiben.

Der Brotberuf steigert den Wert meiner Berufung. Der regelmässige Verzicht macht das Schreiben wertvoll und kostbar. Ich weiß, was das Schreiben mich kostet. So nimmt das Gewicht der Worte zu. Meine Texte werden niemals leicht oder leichtfertig sein.

Der Brotberuf zerreißt den Künstler, doch er bewahrt den Menschen vor dem Genie. Heute will jeder verkaufen – und sei es seine Seele. Wer schreibt, um Geld zu verdienen, hat keine Ahnung vom Schreiben. Wer aber schreibt, weil er nicht anders kann, weiß, worum es geht: Um alles oder nichts. Dieses Schreiben ist existenziell.

Freiheit

Wenn ich schreibe, vergesse ich mich und lebe gänzlich im Werk. Ist die Arbeit getan, erwache ich und sehe in den Spiegel, was mich betrübt. Ich erkenne meine Lage, die Verlorenheit, die Enttäuschung, die Trübsal. Ich leide an mir selbst. Um mich zu vergessen, beginne ich erneut zu schreiben, blühe wieder auf. Und so geht das mein Leben lang, auf und ab, und immer ersehne ich – arbeitend oder nicht – nur Ruhe.

Die Niederschrift des ersten Buches markiert einen Wendepunkt im Leben eines Schriftstellers. Sein Ringen um das Erstlingswerk versetzt ihn in einen Zustand höchster Erregung und ist für ihn möglicherweise ebenso bedeutsam wie das Abenteuer der Erstlingsliebe. Wenn nun, wie in meinem Fall, Werk und Liebe einander konkurrieren und letztlich durchdringen, gerät der Schreibende in eine Krise. Die Lebensumstände werden chaotisch.

Jede Antwort birgt eine Frage.

Ich lebe im Niemandsland des Zweifels.

Wer sich seinen Zweifeln verschließt, wird schließlich verzweifeln. Selbstkritik und Zweifel am künstlerischen Wert der eigenen Arbeit sind Voraussetzungen für den Schriftstellerberuf. Die Unzufriedenheit, die sie verursachen, kommt dem Werk zugute. Gibt man sich ihnen aber zu exzessiv hin, arten sie aus in Selbstanklage und gipfeln im Selbstmitleid. Letzteres kann eine perfide Ausrede für so manches sein: Handwerkliche Faulheit, Mangel an Mut, die Angst zu versagen. In der Mea culpa-Pose beweint man sein hartes Schicksal und drückt sich vor seiner Bestimmung, das heißt vor dem Schreiben.

Nur wer in Bewegung ist, kommt nicht aus dem Gleichgewicht.

Friedrich Dürrenmatt dachte sich die Welt als Labyrinth, in dem der Minotaurus lauert, eine Ungestalt mit dem Kopf eines Stiers und dem Leib eines Menschen. Der Minotaurus, dieses blutrünstige und einsame Ungeheuer, ist der Tod, dem wir nicht entgehen können. Weit weniger dramatisch veranlagt als Dürrenmatt, sehe ich im Labyrinth ein Gleichnis für die Wirklichkeit, die mich überfordert. Der Minotaurus ist meine Angst, die existenzielle Verzweiflung, die mich zu verschlingen droht. Ich bin Theseus, der Schriftsteller, der sich in die verschachtelten Gänge vorwagt, um die Angst zu besiegen. Schreibend töte ich den Minotaurus. Schreibend bin ich auf der Suche nach den Geschichten des Lebens, doch nur lesend ergründe ich sie. Nur lesend, am Ariadnefaden der Fantasie, finde ich den Weg aus dem Labyrinth, den Weg in die Freiheit.

Gerade die Angst, die ich schreibend überwinde, macht mich frei. Ich achte sie und beachte, was sie aus dem eigenen Dunkel ins Bewusstsein hebt. Mich selbst erkennend, bejahe ich das lichte Gesetz des Geistes.

 

Peter Fahr wird – jeweils im Abstand von einigen Wochen – in diesem Magazin eine sechsteilige Serie über das Schreiben und das Selbstverständnis des Schriftstellers veröffentlichen. Dieses ist der erste Teil, wir freuen uns auf die weiteren Folgen.

 

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