Zweierlei Maß. So kann man mit zwei Worten die Doppelmoral vieler Medien beschreiben. Im Juni, als das Thema „Black Lives Matter“ nach der Ermordung von George Floyd in Minneapolis durch einen Polizisten die Corona-Hysterie teilweise überlagerte, wurde besonders deutlich, was „Gute Demos, schlechte Demos“ waren. Die NachDenkSeiten berichteten ausführlich darüber:
„Während die Demonstrationen gegen aktuelle Einschränkungen der Grundrechte in den vergangenen Wochen strengen ordnungspolitischen Begrenzungen ausgesetzt waren, wurde den Demos gegen Rassismus in dieser Hinsicht erheblich mehr Spielraum gelassen. Dazu kam eine massive Ablehnung der Grundrechte-Proteste in der Medienberichterstattung.“
Ähnlich auch Tamara Ganjalyan im Rubikon:
„Nein, die Frage, welche Demo gut und welche böse ist, wird allein darüber entschieden, in welchem Ausmaß die Diskurs- wie auch reale Macht der herrschenden Eliten davon berührt werden — oder eben auch nicht.“
Der Verdacht ist nachvollziehbar: Da Proteste gegen Rassismus — zumal sie sich auf Vorgänge in den USA fokussieren — die derzeitige zentrale Agenda der deutschen Machteliten, also Freiheitsabbau mit Hilfe der Corona-Maßnahmen, nicht tangieren, werden sie von der Staatsmacht und den sie unterstützenden Medien nicht behindert. Sie werden sogar — trotz phobischer Abwehr gegen jede Art von Massenveranstaltung — freundlich und zustimmend kommentiert.
Stadtverwaltung und Polizei, die eigentlich dazu bestellt wären, eine ungestörte Ausübung des Grundrechts auf Demonstrationsfreiheit zu garantieren, maßen sich auf diese Weise eine Schiedsrichterfunktion über politische Inhalte an. Im Fall der Polizei, die auch hierzulande nicht selten gewalttätig vorgeht, dürfen sogar Angehörige der Tätergruppe mit darüber bestimmten, wer auf welche Weise gegen ihre Taten demonstrieren darf. Das kann nicht angehen und wurde zu Recht vielerorts bemängelt.
Selektiv rebellisch
Manche Kommentatoren aus dem linken Lager verhielten sich indes selektiv rebellisch, lobten „Black Lives Matter“ und bashten Demonstrationen, wie sie am 1. und am 29. August 2020 in Berlin stattfanden. Der Grund war — vereinfacht gesagt —, dass Erstere als gegen rechts gerichtet wahrgenommen wurden, Zweitere dagegen selbst im Verdacht standen, rechts zu sein, also zum Beispiel Nazis und Reichsbürger in ihrer Mitte zu duldeten. „Übersehen“ wurde dabei vielfach, wie gering die Anzahl von Nazis und Wirrköpfen in den Reihen der restlichen Demonstranten waren, die in sechsstelliger Zahl angereisten.
Nicht zuletzt verkannten Kritiker auch, dass sich in Deutschland unter dem Vorwand von „Corona-Schutzmaßnahmen“ ein gefährlicher Autoritarismus breitmacht, gegen den sich Antifaschismus im Jahr 2020 unbedingt wehren müsste.
Menschen werden auf der Straße von Polizisten wegen Nichtigkeiten belangt und bestraft. Menschen dürfen ihr Land, ihre Stadt, manchmal sogar ihren Wohnblock nicht mehr verlassen. Presse und Parteienlandschaft verhalten sich weitgehend gleichgerichtet. Der Staat trennt Kinder von ihren Eltern, Sterbende von Angehörigen, schreibt Menschen vor, sich ihr Gesicht zu bedecken oder einander nicht zu umarmen, fährt fast die gesamte Kultur — somit auch die kritische — herunter, treibt Menschen zu Tausenden in den Ruin, ermutigt Denunziantentum und angepasstes Verhalten. Wenn das nicht „rechts“ sein soll, welche Bedeutung hätte dieses viel gebrauchte und missbrauchte Wort sonst? Auf welche Manifestationen einer sich anbahnenden Diktatur warten Demokraten noch, bevor sie aktiv werden?
Es ist für mich nicht schlüssig, die eine Demonstrationsbewegung zu unterstützen und vor der anderen angewidert zurückzuweichen. Zumal sich beide im Kern gegen denselben Missstand richten: einen zunehmend übergriffigen Staat, der seine kritischen Bürger als Freiwild sieht und sich anmaßt, über ihren Körper verfügen zu können: sei es, dass über die Art der Gesichtsbedeckung, über Impfungen oder über Zusammenkünfte zwischen Freunden bestimmt wird; sei es, dass sich Ordnungshüter, ohne meist dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, an den Körpern friedlicher Menschen vergreifen oder sich sogar wie George Floyds Mörder als Herren über Leben und Tod aufspielen. Kritik an einzelnen Teilnehmern und Gruppen innerhalb von Demonstrationsbewegungen sind natürlich trotzdem erlaubt und notwendig.
Polizei — Lizenz zur Bürger-Misshandlung
Wissenschaftler der Ruhr-Universität, so ein Artikel auf Zeit online, „gehen davon aus, dass es jährlich mindestens 12.000 mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe durch Polizeibeamtinnen und -beamte gibt — das wären fünfmal so viele Fälle wie bisher angezeigt.“ In der Zeit heißt es weiter:
„Den Forschungsergebnissen zufolge werden die Vorfälle aber nur selten strafrechtlich geahndet: Weniger als zwei Prozent der Fälle münden in einem Gerichtsverfahren, weniger als ein Prozent enden mit einer Verurteilung. Oft stehe das Wort der Bürger gegen das der Beamten (…) Diese Zahl ist im Vergleich zur Gesamtzahl aller Straftaten gering: Hier erhebt die Staatsanwaltschaft durchschnittlich in etwa zwanzig Prozent der Ermittlungen Anklage.“
Die bittere Schlussfolgerung hieraus: Wenn sich Polizisten entscheiden, Bürgerinnen und Bürger zu schlagen, zu treten, zu Boden zu drücken oder anderweitig zu quälen, haben sie sehr gute Chancen, damit davonzukommen. Mehr oder weniger heißt das, dass Staat und Gerichte die Körper von Bürgern der Polizei zur Misshandlung — und damit ihre Seelen oft schwerer Traumatisierung — ausliefern.
Bei Menschen mit dunklerer Hautfarbe ist das natürlich nicht anders, in vielen Fällen sogar schlimmer — auch in Deutschland. Neben vielen anderen Medien in jüngster Zeit berichtete darüber Der Tagesspiegel:
„Für Deutschland haben antirassistische Initiativen und Vereine in den letzten Jahren mindestens zehn Todesfälle in Polizeigewahrsam, während Polizeieinsätzen oder in staatlichen Einrichtungen gezählt, bei denen die Opfer Nichtweiße waren und bei denen Umstände vermuten lassen, dass ihre Hautfarbe etwas mit ihrem Tod zu tun hatte.“
Viele erinnern sich wahrscheinlich noch an Oury Jalloh, der 2005 in seiner Zelle unter mysteriösen Umständen verbrannte.
Black-Lives-Matter-Aktive beziehen sich — neben diesen Fällen von Polizeigewalt in Deutschland und der gängigen Praxis des „Racial Profiling“ — vor allem auf die zahlreichen Morde an Schwarzen in den USA. Neben George Floyd wurde unter anderem Dijon Kizzee am 2. September 2020 durch Schüsse eines Polizisten getötet. Am 23. August schoss ein Polizist dem Schwarzen Jacob Blake mehrfach in den Rücken.
Szenenwechsel: Im Zusammenhang mit der Großdemonstration gegen Corona-Maßnahmen am 29. August in Berlin wurde eine schwangere Frau von der Polizei brutal misshandelt. Die junge Rechtsanwältin Raphaela Dichtl wurde auf der Münchner Kundgebung am 12. September Opfer drastischer Polizeigewalt. Zuvor war sie offenbar von einem Aktivisten der Antifa angegriffen worden. Nachdem die Frau dies bei der anwesenden Polizei angezeigt hatte, schlug sie ein „Ordnungshüter“ aus dem Hinterhalt. Sie wurde abtransportiert und lange festgehalten, eine Reihe üblicher Rechte wurde ihr entzogen.
Schädlicher „Aufmerksamkeitsneid“
Wie sich die Bilder gleichen. Zwar sollte man nicht verkennen: Im Zusammenhang mit Corona-Demonstrationen kam es bisher nicht zu Todesfällen — dies ist ein Unterschied zu den „Zuständen“ in den USA. Dennoch kann man zusammenfassen: Der Staat nimmt derzeit den Begriff der „Staatsgewalt“ allzu wörtlich, zumal auch die Corona-Zwangsmaßnahmen strukturelle Gewalt sind. Aktivisten der Schwarzen- wie der Anti-Corona-Maßnahmen-Bewegung sollte sich die Wesensverwandtschaft zwischen beiden Anliegen daher immer vor Augen halten. Gegenseitige Solidarität ist hier angezeigt.
Es kommt nicht gut an, wenn Corona-Skeptiker auf die berechtigten Anliegen von Menschen mit dunkler Hautfarbe keine andere Antwort haben als eine Art Aufmerksamkeitsneid.
Bei „denen“ gibt es positive Presse, bei „uns“ nicht. „Die“ dürfen ungestraft ohne Mindestabstand demonstrieren, bei „uns“ macht die Polizei ein großes Theater. Wieder haben wir da die spaltende Aufteilung in „die“ und „uns“, an der unsere Gesellschaft krankt. Es stimmt, dass es teilweise ein Ungleichgewicht gibt. Aber aufgehoben werden sollte dieses doch, indem fairer über Grundrechtsdemonstrationen berichtet wird und nicht, indem man die anti-rassistische Bewegung nun auch noch diffamiert und polizeilich behindert.
Angehörige der Mehrheitsgesellschaft sollten sich bei den Schwarzen unterhaken. Umgekehrt sollten Black-Lives-Matter-Aktivistinnen und Aktivisten verstärkt zu Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen kommen. Denn es ist auch ihre Freiheit, die hier stranguliert wird. Es sind ihre Kinder, die in den Schulen dressiert und mit Masken gequält werden. Es sind ihre Geschäfte, die infolge der Shutdowns von einer verfehlten Politik kaputtgemacht werden.
Schauen wir den Migrantinnen und Migranten oder auch den länger in Deutschland lebenden oder hier aufgewachsenen People of Color in die Augen. Reden wir mit ihnen, nicht nur über sie — als wären sie nur Spielfiguren in den Händen der Mächtigen, die uns vom „eigentlichen“ Thema Corona ablenken wollen. Es ist nicht nur Multikulti-Kitsch, wenn ich sage: Es sind unsere Brüder und Schwestern. Sie leiden wie wir unter dem Corona-Regime, unter einer auch in anderen Belangen verfehlten Politik, teilweise unter Polizeigewalt — und noch zusätzlich unter einigen anderen Problemen, die Angehörige der Mehrheitsgesellschaft nicht kennen.
Die Stärken des „links-liberalen“ Milieus
Ja, Anti-Rassismus-Demos werden auch von denjenigen Parteien unterstützt, die für die desaströse neoliberale Wirtschaftspolitik, für Kriege und mittlerweile auch für den massivsten Angriff auf die Freiheitsrechte seit 75 Jahren verantwortlich sind. Vielleicht aber ist grundsätzliche Opposition gegen die Mentalität von Linken, Grünen und Liberalen hier der falsche Weg. Ich kann für die mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit vom politischen System zurechtgeschliffenen Spitzenpolitiker der Grünen, der SPD und der Linken nicht bürgen.
Ich weiß aber aus eigener Erfahrung mit dem „links-grünen Multikulti-Milieu“: An der Basis gibt es viel Potenzial zu einer ehrlichen Menschenfreundlichkeit. Es herrscht eine Haltung, die allen gleiches Recht und gleichen Wert zubilligt. Gefordert wird vielfach Respekt und Schutz gerade für die Minderheiten im Land, für die Benachteiligten, noch nicht Etablierten, die oft genug auch — in den Worten Fjodor Dostojewskis — die Erniedrigten und Beleidigten sind.
Ich betrachte Menschen nicht als meine „Mitstreiter“, wenn sie mit mir zwar eine Skepsis gegenüber der Maskenpflicht teilen — sonst aber fast nichts, wenn sie für ohnehin ausgegrenzte Minderheiten nur Spott und Abwehr übrig haben. Selbst wenn viele von „uns“ in der Mehrheitsgesellschaft — zum Beispiel als Arbeitslose, Geringverdiener oder Corona-Dissidenten — benachteiligt werden; manchmal muss man seine Aufmerksamkeit auf Menschen ausdehnen, die mehrfach und noch auf ganz andere Weise diskriminiert werden als „wir“.
Für manche People of Color mag sich der Alltag so anfühlen, als würde man sich 12 Stunden am Tag ohne Maske im Supermarkt aufhalten. Ständig sind sie abschätzigen Blicken und dummen Bemerkungen ausgesetzt.
Die Dokumentationen „Rassismus in Deutschland“ sowie „Der alltägliche Rassismus in Deutschland“ haben eindrucksvolle Zeugenaussagen von Betroffenen gesammelt. So wurden Schwarze in Deutschland unter anderem auf diese Weise angeredet: „Du Affenmensch“, „Du schwarzes Miststück gehörst umgebracht“ und — nur scheinbar harmloser — „Woher kommst du eigentlich?“ oder „Was, du warst im Gymnasium?“. Eine Zeugin berichtet:
„Für mich bedeutet Schwarzsein in Deutschland, mich rechtfertigen zu müssen, dass ich Teil der deutschen Bevölkerung bin.“
Der Fußballstar Gerald Asamoah wurde unter andere mit Bananen beschmissen. Schwarze von vornherein auf Englisch anzusprechen, kommt nicht selten vor, ebenso das gut gemeinte Lob für Menschen, die nie woanders als in Deutschland gelebt haben: „Woher können Sie so gut deutsch?“. Dieses Schicksal teilen übrigens rund eine Million schwarze Menschen in Deutschland. Man sollte sich ernsthaft damit auseinandersetzen, bevor man einwendet: „Ja, aber…“.
Flüchtlinge: verschärfte Corona-Opfer
Noch ein Wort zu Flüchtlingen, obwohl sich dieses Thema nur teilweise mit dem Thema „Schwarze in Deutschland“ überschneidet: Menschen, die in beengten Verhältnissen wohnen, trifft Corona besonders hart. Überdurchschnittlich davon betroffen sind auch People of Color. Die Verhältnisse in Flüchtlingsheimen sind derzeit besonders desaströs. Mehrbettzimmer und Gemeinschaftsräume sind dort eher die Regel, was positive Testungen wahrscheinlicher macht. Eine Studie in Flüchtlingseinrichtungen des Kompetenznetzes Public Health zu Covid-19 beklagte ein besonders hohes Ansteckungsrisiko.
Nun wissen wir, dass Positivtests noch wenig über die tatsächliche Gefahr für Leib und Leben aussagen. Aber schon Quarantänen „auf Verdacht“ sind beschwerlich, und täte nicht jedem ein wenig mehr Platz, Licht und Luft gut? Es gilt heute als sicher, dass der Großbrand im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos durch die angespannte Lage dort infolge einiger getesteter Corona-Infektionen zustande kam. Die Betroffenen sind eigentlich Maßnahmen-Opfer, nicht „Corona-Opfer“.
Wer neu in ein Land kommt und ohnehin nur über eingeschränkte Rechte verfügt, wird nicht als erstes zu einer Demonstration gehen. Auch und gerade diese Menschen sind jedoch von den Corona-Maßnahmen betroffen. Wenn sie (noch) nicht für sich selbst eintreten können, müssen wir es für sie tun. Wir müssen auch für sie eine humane Gesellschaft schaffen — nach Möglichkeit eine menschlichere als wir sie vor Corona hatte. In die zu erschaffende neue und gerechtere Gesellschaft können wir vieles aus der „alten Zeit“ hinüberretten. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gehören nicht dazu. Wir können der AfD und anderen xenophoben und nationalkonservativen Kräften in diesem Punkt nicht trauen, auch wenn sie sich mit Corona-Rebellen-Sprüchen bei uns lieb Kind machen wollen.
Mit ihrer Flüchtlingspolitik haben die Regierenden einen Verrohungstrend eingeleitet, auf dem sie nur in Corona-Zeiten aufbauen können. Die Menschen in Europa wurden daran gewöhnt, Tausende Tote im Mittelmeer hinzunehmen — mehr als 20.000 waren es seit 2014 —, desaströse Zustände in Flüchtlingslagern, Leichen an Stränden, die Harter-Mann-Sprüche der Politiker, die Weigerung auch nur eine minimale Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen — nicht einmal in Notfällen.
Die Corona-Maßnahmen trafen somit auf eine bereits desensibilisierte Bevölkerung, die demzufolge die Entrechtung der Menschen in Altenheimen, die Misshandlung von Kindern, massenhafte Arbeitsverbote, die verbalen und oft sogar körperlichen Entgleisungen der Corona-Rechtgläubigen gegenüber Abweichlern klaglos hinzunehmen bereit waren. Und eben weil die Zusammenhänge zwischen beiden Formen der Unmenschlichkeit deutlich erkennbar sind, ist auch das Gegenmittel in beiden Fällen das gleiche: mehr Menschlichkeit und Zusammenhalt.
Wer spaltet hier?
Ja, mitunter wird Antirassismus von den „Eliten“ zur Spaltung der Gesellschaft missbraucht. Zumindest ist eine solche Absicht erahnbar, wenn sich Talkshows, Dokus und Zeitungsartikel in diese Richtung kampagnenartig ballen. Wenn „Schwarz“ und „Weiß“ gegeneinander aufgebracht werden, ist keine Kraft mehr da für den Kampf gegen diejenigen, von denen die einen wie die anderen unterdrückt und finanziell missbraucht werden. Hannes Wader sang in „Es ist an der Zeit“ über einen toten Soldaten, dieser habe seinen „wirklichen Feind nicht erkannt bis zum Schluss“. Ja, wir müssen diesen wirklichen Feind endlich erkennen.
In der Filmreihe „Die Tribute von Panem“ wird eindrücklich dargestellt, wie junge Menschen von ihrem Staat in einen tödlichen Kampf gegeneinander gehetzt werden. Die wirklichen Gegner sind jedoch diejenigen, die diesen grausamen Kampf inszeniert haben. Symbolisch schießt Filmheldin Katniss Everdeen am Ende des zweiten Films einen Pfeil in Richtung der Kuppel über der Wettkampfarena — dorthin, wo die Regisseure und Voyeure dieses grausamen Spiels sitzen. Lassen wir uns nicht „spalten“, schon gar nicht entlang der vermeintlichen Grenzen, die durch unsere Hautfarbe, durch Herkunft, Sprache und Religion gegeben sind.
Aber wer ist es denn, der spaltet? Sind es die vielen schwarzen Menschen, die jetzt im Mainstream-Fernsehen die Gelegenheit nutzen, um über ihre Diskriminierungserfahrung zu sprechen, ihre Trauer, ihre Wut endlich rauszulassen? Oder sind es diejenigen, die ihnen durch ihr diskriminierendes Verhalten erst Anlass zur Klage gegeben haben?
„Wichtigere Themen“?
Vielfach höre ich auch, „Black Lives Matter“ lenke von anderen und „wichtigeren“ Themen ab. Corona vor allem. Ebenso wie Corona vom Klimawandel ablenkt. Und der Klimawandel vom drohenden großen Krieg mit Russland oder China. Und die Kriegsangst vom sozialen Elend durch Hartz IV und vom Welthunger. Man sieht, dass der Aufmerksamkeitsneid hier mitunter absurd wird. Die Schwarzenbewegung, die Frauenbewegung, die Bewegung für die Etablierung eines „dritten Geschlechts“ — sie mögen manchen übertrieben, gar lästig vorkommen. So erscheinen sie aber vor allem Menschen, die nicht direkt betroffen sind: „Darum geht es doch nicht. Lass uns zum eigentlichen Thema zurückkommen“.
Wenn du täglich böse Blicke und dumme Bemerkungen — schuldlos und einfach für dein „So-Sein“ — erntest, dann ist Rassismus für dich eben das „eigentliche Thema“.
Oder Frauenfeindlichkeit und Belästigung durch Männer. Oder Homophobie. Oder Islamfeindlichkeit. Gerade jetzt, da viele von uns sich in der Rolle von „Corona-Rebellen“ und insofern als „Aussätzige“ eines neuen Typs wiederfinden, sollten wir es am Verständnis für Minderheiten nicht fehlen lassen.
Es ist auch nicht so, dass antirassistische Demonstranten immer nur die Hätschelkinder der Staatsmacht waren. So berichtete der Autor Valentin Betz im Magazin BW24 von Versuchen, ihn wegen angeblicher Corona-Ansteckungsgefahr von der Teilnahme an einer Black Lives Matter-Demo abzuhalten.
„Vielleicht kann nur ein Weißer das Gefühl haben, jetzt sei wegen der Corona-Pandemie der falsche Zeitpunkt, massenhaft zu demonstrieren. Vielleicht habe ich nach wie vor nicht verstanden, dass das Fass längst übergelaufen ist. Dass Abwägungen zwischen der Corona-Pandemie einerseits und dem gigantischen Unrecht, das Menschen mit anderer Hautfarbe tagtäglich widerfährt, für Betroffene längst keine Rolle mehr spielen.“
Wir sollten diese Aussage ernst nehmen.
Sind wir alle Rassisten?
Dies vorausgesetzt, können wir durchaus über bestimmte Übertreibungen im antirassistischen Diskurs reden. So störte sich die Pädagogin und Aktivistin der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Christiane Kassama an Michael Endes Jim-Knopf-Büchern. Im Zeit-Interview sagte sie:
„Jim Knopf wird leider noch oft gelesen. Jim Knopf reproduziert viele Klischees, zum angeblich typischen Wesen und Äußeren von Schwarzen. Jim Knopf ist so, wie sich Weiße ein lustiges, freches, schwarzes Kind vorstellen.“
Ich denke, diese Analyse ist verfehlt — hatte Michael Ende doch aufgrund eigener Kindheitserfahrungen während der Nazi-Diktatur in „Jim Knopf“ bewusst eine antirassistische Botschaft auszusenden versucht. Sie zeigte sich unter anderem in der Figur des Halbdrachens Nepomuk. Dieser wird im Roman „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ nicht in die Drachenstadt gelassen, da dort nur „reinrassige Drachen“ Zutritt hätten.
Dies nur als ein besonders skurriles Beispiel. Teilweise beobachte ich einen inflationären Gebrauch des Worts „Rassist“, auch gegenüber Menschen, die sich gegenüber „Persons of Color“ immer anständig verhalten haben. Da der Rassismus-Begriff meist mit Hass und Geringschätzung gegen „Farbige“ gleichgesetzt wird, ist er vielfach unnötig beleidigend. Ebenso der Versuch, schon den unverschuldeten, von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft nicht einmal gewollten Genuss von „Privilegien“ als Rassismus zu brandmarken.
Ebenso fragwürdig: der übereifrige Versuch mancher „liberaler“ Medien, Weiße quasi versuchsweise und spiegelverkehrt zu beleidigen, damit die auch mal spüren, wie sich das anfühlt. Ein Beispiel bot die „Anstalt“-Sendung vom 14. Juli 2020, in der ein karikaturhaft dargestellter tumber „Rassist“ zur Dschungelprüfung antreten und unter anderem ein Bewerbungsgespräch mit einer Frau dunkler Hautfarbe absolvieren musste.
Vorgeführt zu bekommen, was man als Weißer alles als selbstverständlich betrachtet — etwa die Tatsache, dass jeder unseren Namen fehlerfrei ausspricht —, kann eine erhellende Erfahrung sein. Die „Anstalt“ brachte somit zwar einige hilfreiche Einsichten, transportierte jedoch zugleich eher Publikumsbeschimpfung als Elitenkritik, gefiel sich in inquisitorischer Strenge gegenüber der geringsten Unsicherheit von Angehörigen der Mehrheits- gegenüber der Minderheitsgesellschaft. Nun, wir sind Menschen, da muss Unsicherheit in der einen oder anderen Richtung erlaubt sein.
Auch ein Stern-Titelthema — Ausgabe 26/2020 — schlug in diese Kerbe. Überschrieben war es: „Wie rassistisch bin ich?“, womit suggeriert wird, jeder Leser sei Rassist, fraglich sei nur noch, in welchem Ausmaß. Selbstkritik ist gut. Ebenso ist es erhellend, sich mit den Diskriminierungserfahrungen von Angehörigen von Minderheiten zu befassen. Dies sollte aber nicht in Selbst-Bashing und Gegendiskriminierung ausarten.
Die pauschale Abwertung von Menschengruppen ist immer ein „Geistesgift“ — wie Buddhisten es nennen —, auch wenn sich diese gegen die eigene Gruppierung richtet. Sie sollte aus unserem Verhaltensrepertoire verschwinden und nicht unter dem vermeintlich harmlosen Label der „Selbstkritik“ weiter ein Schattendasein führen.
Pauschale Schuldverschiebung
Seit dem Mord an George Floyd am 25. Mai 2020 hat es eine teilweise problematische Verschiebung des Diskurses gegeben. Ursprünglich ging es um extreme, tödliche Gewalt gegen Schwarze durch Polizisten. Nachdem die Diskussion jedoch eine Weile auf allen Kanälen lief, gab es später nur noch Pauschalvorwürfe der Art: „Wir sind alle Rassisten“. Das sind wir nicht.
Menschen von durchschnittlicher Empathie-Fähigkeit passiert es vielleicht mal, dass sie zu einem hier aufgewachsenen dunkelhäutigen Mann sagen: „Sie sprechen aber gut deutsch“. Das ist zwar nicht besonders achtsam. Aber es ist ein Unterschied, ob jemandem ein solcher Fehler unterläuft oder ob er sich mit dem Knie auf den Hals eines Menschen aufstützt, bis dieser erstickt. Dies tun manche Polizisten, also Vertreter des Staates, zu deren Aufgaben es gerade zählt, die Rechtsordnung und die Menschenrechte zu schützen.
Mit der „Wir alle sind Rassisten“-Diskussion versucht der Staat mithilfe der ihm gewogenen Medien seine Schuld teilweise auf uns zu verschieben. Er betreibt eine Art Crowdsourcing des Verantwortungsgefühls.
Wir kennen dieses Phänomen auch aus anderen Zusammenhängen: Politiker versuchen auf verschiedenen Wegen, uns kleinzumachen, unser Selbstbewusstsein und unsere Würde anzugreifen. Gerät jemand in soziale Not, fehlt es ihm angeblich nur an der notwendigen Willenskraft, um sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen. Schuld an der sozialen Schieflage sind demnach immer die Opfer.
„Wir alle“ sind schuld an der Klimakatastrophe und auch an den Covid-19-Toten. Die Politik hat unsere Gesundheitssystem zwar über viele Jahre systematisch gegen die Wand gefahren, hat zugelassen, dass eine hohe Feinstaubbelastung oder die miesen hygienischen und sozialen Verhältnisse in Schlachthöfen die Virus-Ausbreitung förderten — aber schuld an der Epidemie sind Menschen, die einmal eine Party feiern oder in einem Supermarkt die Maske verstohlen herunterschieben, um wieder frei atmen zu können.
Es ist gut, wenn jeder Einzelne tut, was er tun kann. Das gilt für den Gesundheitsschutz — wobei Virusinfektionen hier beileibe nicht das einzige relevante Thema ist —, das gilt für den Umwelt- wie auch den Minderheitenschutz. Dennoch werde ich den Verdacht nicht los, dass das Bevölkerungsbashing durch Politiker und Presse Methode hat. Es ist Teil einer allgemein grassierenden „Kultur“ der Schuldverschiebung. Schuldgefühle lähmen, machen uns klein und lassen uns glauben, wir hätten eine Besserung der Verhältnisse gar nicht verdient.
Der US-amerikanische Bürgerrechtler Noam Chomsky schreibt:
„Die Menschheit soll denken, sie sei wegen zu wenig Intelligenz, Kompetenz oder Bemühungen die einzig Schuldige ihres Nicht-Erfolgs. Das ‚System’ wirkt also einer Rebellion der Bevölkerung entgegen, indem dem Bürger suggeriert wird, dass er an allem Übel schuld sei und mindert damit sein Selbstwertgefühl.“
Es ist plausibel, dass mit der systematischen Herabsetzung des Selbstwertgefühls in der Bevölkerung auch die Rebellionsbereitschaft heruntergedimmt werden soll. Die Menschen werden so lange mit entwertenden Botschaften überflutet und in vielerlei Weise erniedrigt, bis sie glauben, gar nichts Besseres verdient zu haben als dieses System. In Folge dessen halten sie still.
„I can‘t breathe“
Ich lasse mich gern von einem Schwarzen, einer Muslima, einem gerade Geflüchteten korrigieren, falls aus meinen Äußerungen Vorurteile sprechen. Ungern lasse ich mich aber von Politikern darüber belehren, die sich als Warlords und Flüchtlinge-ertrinken-Lasser hervorgetan haben, die Afrika mit ihrer wirtschaftsimperialistischen Politik platt machen und die arabische Welt durch Kriege, die Lagerhaltung unter schlimmsten Bedingung für eine angemessene Antwort auf Fluchtbewegungen halten. Ebenwenig sollten mich Medien darüber belehren, die ebendiese desaströse Politik unterstützen.
Nicht die Menschen anderer Hautfarbe sind jedoch für diese Kampagne zu tadeln. Es sind — wie so oft — die Regisseure dieser Hungerspiele, die oberhalb der Kampfarena mitsamt ihrer Überwachungstechnologie thronen. „Wir“ — also die weniger privilegierten Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft wie auch die Angehörigen diskriminierter Minderheiten — müssen zusammenhalten, weil wir zusammengehören. Versuchen wir allen mit natürlicher Freundlichkeit zu begegnen.
Hören wir den „Anderen“ zu, bis sich aus der Maske ihres vermeintlichen Andersseins etwas herausschält, was sich als uns ganz ähnlich erweist. Ich meine hier nicht nur das universelle Menschsein — das, was der Jude Shylock in Shakespeares Stück „Der Kaufmann von Venedig“ sagt: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?“. Das ist selbstverständlich oder sollte selbstverständlich sein. Nein, es besteht eine besondere Schicksalsgemeinschaft all derer, die sich in diesen Tagen als Unterworfene, als Misshandelte, als Verspottete und Ausgegrenzte erleben.
Dafür stehen symbolisch auch die „I can‘t breathe“-Masken, die man immer häufiger sieht: Anknüpfend an die letzten Worte, die George Floyd vor seinem gewaltsamen Tod noch hervorstoßen konnte, kann der Satz auch als Protest gegen den Maskenzwang verstanden werden. Bestehen wir auf unserem Recht, frei zu atmen und stehen wir gegen alle auf, die uns dieses Recht nehmen wollen. Schießen wir vor allem nicht mehr gegeneinander, sondern zielen wir mit unseren argumentativen Pfeilen in Richtung oben.