Die Auswahl

 In FEATURED, Philosophie, Wolf Schneider

Je größer die Datenmenge, umso wichtiger ist, was wir daraus durch unseren Fokus auswählen, dann davon im Gedächtnis behalten und drittens auf irgendeine Art veröffentlichen. Der populäre Streit zwischen dem, was Fakt und was Fake-News ist, erscheint mir als viel zu eng gefasst. Da wird die Lösung in immer noch mehr oder besser recherchierten Fakten gesucht. Rechthaberei und kognitive Echokammern mit Faktenresistenz zu begründen, greift zu kurz. Wichtiger wäre ein Blick auf die Auswahl dessen, was wir für relevant halten und wie diese zustande kommt. Wolf Schneider, www.connection.de

Je größer die Datenmenge, umso wichtiger ist, was wir daraus durch unseren Fokus auswählen, dann davon im Gedächtnis behalten und drittens auf irgendeine Art veröffentlichen. Wobei auch die Kommunikation zwischen zwei Menschen schon eine Veröffentlichung ist: Wir sprechen über etwas und bringen diese Auswahl – vielleicht ein Millionstel des Wahrgenommenen – verstärkt in die Welt.

»Der Film wird im Schnitt gemacht« sagen Filmeditoren hierzu. So ähnlich wie bei einem zu schneidenden Film bildet sich auch unsere Meinung. Erstens per Begriffsbildung, damit kleben wir ein Etikett auf das Wahrgenommene. Zweitens per Selektion (Auswahl) dessen, was uns als relevant erscheint. Drittens per selektiver Erinnerung an das so (eingeschränkt) Wahrgenommene. Viertens per narrativer Verknüpfung der auf diese Weise begrifflich gestalteten und mittels unserer Filter ausgewählten Erlebnisse, die ohne eine narrative Verknüpfung keinen Sinn ergäben.

So entstehen unsere Überzeugungen. Für Wissenschaftler gelten diese dann als »anekdotisch begründet«, weil sie auf einzelnen Erzählungen beruhen und nicht Ergebnis einer randomisierten Studie sind. Randomisierte Studien brauchen eine ausreichend große Zahl von Berichten (Erzählungen), und diese müssen zufällig ausgewählt sein, nicht absichtlich, denn in unserer Absicht liegt unser Vorurteil (bias).

Randomisierungsresistenz

Bei der anekdotischen Art der Wahrnehmung wählen wir unter dem für wahr Gehaltenen aus, was uns ins Weltbild passt. Erstaunlich finde ich in dieser Hinsicht das Ergebnis einer Studie, die Adrian Bardon im Krautreporter kürzlich anführte. Gemäß dieser neigen gebildete Menschen eher dazu, Fakten im Sinne ihrer Weltsicht zu interpretieren und als diese bestätigend einzuordnen: Warum Menschen faktenresistent sind.

Faktenresistenz? Wichtiger erscheint mir in diesem Disput die Randomisierungsresistenz. Der populäre Streit zwischen dem, was Fakt und was Fake-News ist, erscheint mir als viel zu eng gefasst. Da wird die Lösung in immer noch mehr oder besser recherchierten Fakten gesucht. Rechthaberei und kognitive Echokammern mit Faktenresistenz zu begründen, greift zu kurz. Wichtiger wäre ein Blick auf die Auswahl dessen, was wir für relevant halten und wie diese zustande kommt.

Insbesondere bei großen Datenmengen führt die übliche Randomisierungsresistenz zu hartem Fanatismus. Die ist heute krass zu beobachten im Umgang mit den Fakten, die wir übers Internet zu Corona vorfinden. Das wiegt besonders dann schwer, wenn sie als Statistiken aufbereitet werden, denn dann umweht sie der Nimbus der Wissenschaftlichkeit. Statistiken sind zahlenmäßig aufbereitete Vergleiche. Sie sind das ideale Futter für Überzeugungen. Je mehr Fakten es gibt, die für unsere Meinungsbildung zur Verfügung stehen, umso größer die Vielfalt an Überzeugungen, die sich hieraus bilden lassen. Im Falle von Corona befinden wir uns in einem schier unendlichen Supermarkt miteinander verknüpfbarer Fakten, aus denen wir uns Millionen verschiedene Meinungen bilden können, ohne dass auch nur ein einzige davon auf eine Fake-News hereingefallen sein muss.

Wahllos bewusst zu sein, ist das gut?

Ich habe einige spirituelle Lehrer von »choiceless awareness« reden hören, von wahlloser Wachheit als einem hohen geistigen Zustand. Ist das ein Zustand, in dem wir nicht mehr wählen, in dem unsere Wahrnehmung nicht mehr selektiv ist, so dass wir dann ohne Ausblendung oder Verdrängung »wahrnehmen, was ist«? In einer endlosen, nicht mehr überschaubaren Menge an Wahrzunehmendem würde es uns dabei so ergehen, wie den berühmten Savants, etwa dem autistischen Künstler Stephen Wiltshire aus London, der nach einem Helikopterflug über die Vatikanstadt die dort von oben gesehenen Häuser Fenster für Fenster exakt nachzeichnen konnte. Die meisten Savants sind jedoch für das praktische Leben nicht zu gebrauchen, dann dafür müssen wir auswählen, weglassen, ausblenden und verdrängen, sonst ertrinken wir in der Infoflut. Die so viel gepriesene »choiceless awareness« ist deshalb für mich kein Vorbild. Sie zeigt einerseits wozu unser Gedächtnis fähig ist – das ist grandios! Zugleich zeigt sie auch wie sehr »der Film im Schnitt gemacht« wird, d.h. wie sehr unsere Auswahl unsere Meinung prägt, ohne dass wir dabei einer einzigen Fake-News auf den Leim gegangen sein müssen.

So oder so betrachtet

Gert Scobel hat kurz nach der Demo vom 1.8. in Berlin online eine gut inszenierte, sehr emotionale Rede gehalten über sein Lieblingsthema: den Umgang mit Komplexität. Der Anlass? Natürlich der Umgang mit Corona.

Dem Ort entsprechend eher getragen emotional spricht der Virologe Hendrik Streeck am 19.8. im Dom zu Münster, dort, wo sonst die Theologen predigen, über Angst und Hoffnung und die reale Gefahr durch Covid 19. Streeck hat zu Covid 19 eine andere Meinung als Christian Drosten, und er geht geradezu scheu mit seiner ‚alternativen Sicht’ um. Nach dem Christentum die Virologie? An irgendwas muss man doch glauben …

Auch Heribert Prantl lohnt sich immer wieder zu lesen. Z.B. seine Kolumne in der SZ (ich habe sie abonniert). Dort schreibt er in der Ausgabe vom 23.8. über das Verhalten des Mainstream-Journalismus in Corona-Zeiten und kritisiert den dort in den vergangenen Monaten üblichen Alarmismus. Der bringt zwar Klicks und Auflage, aber nicht Einsicht in »die Wahrheit« und Zusammenhänge.

Warum scheitern Utopien? Die christliche ebenso wie die marxistische. Auch alle anderen? Darüber sprach Matthias Greffrath im Deutschlandfunk.

Und wie steht es um Florian Schröder, diesen genialen Narren, auf dessen Auftritt Ausnahmezustand Wahrheit ich im vorigen Rundbrief einen viel kommentierten Link gesetzt hatte? Auf der Demo in Stuttgart hat er sich – rhetorisch raffiniert, aber inhaltlich platt – auf die Seite des Mainstreams geschlagen, auf der er … doch schon immer stand.

Seit ich als junger, orange gekleideter Sannyasin in Deutschland sozusagen am eigenen Leibe erfahren habe, in was für einer Blase die seriös genannten Medien in ihrer Meinungsmache stecken können, bin ich dagegen gründlich geimpft. Und doch …. wenn man heute die SZ, den Guardian, die NYT oder Washington Post, die ZEIT, El Pais, den Krautreporter, spektrum.de, den Economist (trotz dessen unkritischer Wachstumsbegeisterung) und noch einige andere quer liest (oft nur die Überschriften) und dabei medienkritisch auf die herrschenden Narrative achtet, nähert man sich damit auf jeden Fall besser einer relevanten Auswahl politischer und ökonomischer Fakten als bei einem Querschnitt aus den sozialen Medien – so jedenfall gehe ich damit um.

Und noch ein Fundstück für an den Lebenswissenschaften Interessierte. Auf der leider sehr anzeigenlastigen Seite von iflscience.com (»I fucking love science«) wird das populäre Bild in Frage gestellt, dass die Natur eine Welt in Balance sei. Das sei eine Art Wissenschafts-Kitsch für Harmoniesüchtige heißt es dort, mit dem wir uns über die menschengemachten Zerstörungen hinwegtrösten.

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