Europa auf Abwegen

 In FEATURED, Peter Fahr, Philosophie, Politik

Brüssel, Atomium

Die Europäische Union steht an einem Scheidepunkt ihrer Geschichte. Die Mitgliedstaaten – viele reich geworden durch Kapitalismus, Kolonialismus, Industrialisierung und Digitalisierung – setzen ihr aufklärerisches Erbe aufs Spiel und gefährden damit die Demokratie. Der Essayist und Poet Peter Fahr sieht in der Bewahrung humanistischer Werte in der Politik die Chance zur Überwindung der Krise. Peter Fahr

 

„Ist der Mensch gut?

Der Mensch ist weder böse noch gut.

Er wird, wozu er sich macht.“

Peter Weiss

 

Europa, die Wiege der Demokratie, gleicht einem Hexenkessel. Gesellschaftliche und politische Kräfte driften in extreme Positionen ab und liefern sich heftige Kämpfe. Der Kontinent, dem wir Aufklärung, Menschenrechte und die philosophische Idee der Humanität verdanken, verwandelt sich zusehends in einen Unort von geschichtlicher Amnesie, Kapitalismushörigkeit, sozialer Ungerechtigkeit, Nationalismus und Fremdenhass. Panik hat uns erfasst, eine übermächtige Angst, die das Denken lähmt und paradoxe Reaktionen auslöst: Die korrupten Eliten führen zu einem politischen Rechtsdrall der Mitgliedstaaten, die Klimakatastrophe zu mehr CO2-Ausstoss, die Corona-Pandemie zu totalitären Schutzmaßnahmen, die kapitalistische Profitwirtschaft zu Hartz IV, die prekären Verhältnisse zur Flucht ins Internet, die Hilfe suchenden Flüchtlinge zu Gewalt und Unmenschlichkeit. Der Lack der europäischen Zivilisation blättert ab – darunter erscheint die Fratze der Barbarei.

Reichtum durch Eigentum

Die Europäische Union (EU) wurde 1992 mit dem Vertrag von Maastricht gegründet. Der Staatenbund umfasst 27 Länder, außerhalb Europas Zypern und einige Überseegebiete, und rund 450 Millionen Einwohner, die 24 Amtssprachen sprechen. Seit ihrer Gründung geht es der EU in erster Linie um ökonomische und geopolitische Interessen, ihre kulturelle Identität ist zweitrangig. 19 Mitgliedstaaten bilden eine Wirtschafts- und Währungsunion, die 2002 den Euro einführte. Die EU ist der zurzeit größte Güterproduzent und die weltweit größte Handelsmacht, ihre Mit­gliedstaaten haben einen der höchsten Lebensstandards.

Noch vor 200 Jahren verließen viele unserer Ahnen den von Elend und Hungersnöten geplagten Kontinent, um anderswo ihr Glück zu versuchen. Woher kommt unser heutiger Wohlstand? Woher kommt unser Reichtum? Kurz gesagt verdanken wir ihn den folgenden Stufen einer verheerenden Entwicklung: Erste industrielle Revolution; die Aufteilung der Welt in Kolonien der industrialisierten Länder, das heißt die politische Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung abhängiger Völker; der Aufschwung des Kapitalismus, das heißt der Wirtschaftsform, die durch Privateigentum an Produktionsmitteln und Steuerung des Wirtschaftsgeschehens über den Markt gekennzeichnet ist; zweite industrielle Revolution; imperialistische Welt- und Wirtschaftspolitik, das heißt Ausdehnung des politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflussbereichs mit konzentrierten Industrie- und Bankmonopolen; weitere Ausbeutung und Schulden-Knechtschaft ehemaliger Kolonien in Zusammenarbeit mit lokalen korrupten Eliten; Umweltzerstörung; digitale Revolution; Globalisierung, das heißt Machtzuwachs transnationaler Konzerne, Verselbständigung der Finanzmärkte und Ungleichverteilung globaler Ressourcen.

Wir haben uns an den Wohlstand gewöhnt, unser Reichtum ist selbstverständlich geworden. Unsere Flucht in den Konsum hat uns rücksichtlos gemacht. Uns geht es gut, weil es anderen schlecht geht. Interessiert uns das? Uns interessiert doch im Grunde nur unsere Garderobe, die berufliche Karriere, der neue Wagen, der Ausbau unseres Hauses, die Ferien in der Karibik. Dass wir, um den hohen Lebensstandard zu halten, nicht nur in der südlichen Hemisphäre über Leichen gehen, die Natur massiv zerstören und das globale Klima erwärmen, wollen wir gar nicht wissen. Und wenn wir es begreifen, reagieren wir panisch und verdrängen es. Wir heizen weiter mit Öl, fahren weiter Auto, fliegen weiter in die Ferien. Unser paradoxes Verhalten begünstigt die Klimakatastrophe

Macht durch Panikmache

Ende 2019 erkrankt im chinesischen Wuhan der erste Mensch an Covid-19. Von der raschen Verbreitung des Corona-Krankheitserregers SARS-CoV-2 sind bis heute über 200 Länder betroffen. Im März 2020 erklärt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Krankheit zur Pandemie. Rund 32 Millionen Menschen haben sich bereits mit der hochansteckenden Atemwegserkrankung infiziert, fast eine Million Infizierte sind daran gestorben. Die Klimakatastrophe konfrontiert uns mit der Vergänglichkeit der Menschheit, das Coronavirus macht diese Vergänglichkeit zur existentiellen Erfahrung. Der hartnäckige Parasit reisst uns aus der Gewohnheit einer arrangierten Wirklichkeit. Er entlarvt unsere Inszenierung des Lebens und schürt den existentiellen Zweifel. Umso mehr, als wir den Angreifer nicht sehen, hören, riechen, schmecken oder ertasten können. Die scheinbare, aber behauptete Kausalität des Seins wird aufgebrochen. Wir begreifen nicht, was geschieht, wir fallen aus der Ordnung und geraten in eine Krise – seelisch, sozial, wirtschaftlich und politisch.

National und international beschlossene Maßnahmen wie Mindestabstand, Desinfektion der Hände, Schutzmaskenpflicht und Lockdown haben drastische Auswirkungen auf eine Vielzahl von Lebensbereichen. Nichts ist mehr, wie es war. Erst hadern wir mit den teils widersprüchlichen Maßnahmen, dann geben wir klein bei und gehorchen. Das wahre Coronavirus ist unsere Angst vor dem Virus. Freiwillig verabschieden wir uns von der Freiheit. Die Flucht in den Gehorsam animiert die politische Elite, unsere demokratischen Rechte weiter zu beschneiden. Die wirtschaftliche Elite missbraucht den Machtzuwachs im Fahrwasser der Pandemie für Restrukturierungen und Entlassungen.

Nach der überstandenen ersten Pandemie-Welle erwarten wir nun angsterfüllt die zweite. Das Virus wurde nicht gestoppt, die Maßnahmen haben nur das Tempo gedrosselt, mit dem es sich verbreitet. Die Infektionszahlen steigen wieder deutlich an, in manchen Ländern sogar steil. Wie werden wir uns diesmal verhalten? Vermutlich werden wir weiter gehorchen und unseren verlorenen bürgerlichen Rechten nicht einmal nachtrauern. Unsere Angst ist eine Büchse der Pandora, ihre Heimsuchungen begünstigen die Digitalisierung und Pathologisierung der Gesellschaft.

Überwachung durch Ablenkung

Die Digitalpolitik der EU wird in der Initiative Europa 2020 geregelt. Die Agenda beinhaltet den Ausbau des Breitband-Internets, die Förderung eines gemeinsamen Marktes für internetbezogene Dienstleistungen und den allgemeinen Zugang zu schnelleren Netzzugängen. Im Schatten von Klimakatastrophe und Corona-Pandemie wird die Digitalisierung der Gesellschaft vorangetrieben – mit fadenscheinigen Argumenten. Das digitale Geschäft bietet viele Vorteile: Es beschert gigantische Gewinne, erleichtert die nachrichtendienstliche Überwachung und algorithmische Beeinflussung der Konsumenten und lenkt diese vom Wesentlichen ab – nämlich von sich selbst. Solche Menschen sind leichter zu regieren.

Die meisten Bereiche der menschlichen Sphäre werden mit G5-Technik durchleuchtet: Wir werden gläsern. Die Mitgliedstaaten nutzen die erfassten Daten für ihre zwielichtigen Zwecke. Mit erwünschtem Nebeneffekt: Wir entfernen uns von der Wirklichkeit und verlieren uns im Internet, wir sind zunehmend orientierungslos und beginnen uns seelisch zu verändern, werden quasi autistisch und verabschieden uns immer mehr von der Gemeinschaft. Die Flucht in die virtuelle Scheinwelt macht uns weltfremd und unpolitisch – und gerade darum anfällig für pathologische Entwicklungen wie Nationalismus, Fremdenhass und Rassismus. Die digitale Zivilisation begünstigt die analoge Barbarei.

Zusammenhalt durch Gewalt

Im Rahmen des EU-Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts arbeiten die Mitgliedstaaten in der Innen- und Justizpolitik zusammen. In der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bemühen sie sich um ein einmütiges Vorgehen, was in der Asyl- und Flüchtlingspolitik überhaupt nicht funktioniert, da die meisten Staaten im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten auf Abschreckung setzen. Dabei sollte nach europäischem Recht auch Personen Asyl gewährt werden, die aufgrund von Bürgerkriegen oder einer anderen Gefahr für ihre körperliche Unversehrtheit vorerst nicht in ihr Heimatland zurückkehren können.

Laut Hochkommissariat der Vereinten Nationen (UNO) sind weltweit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht, darunter 25 Millionen, die vor Krieg, Folter und anderen unmenschlichen Handlungen fliehen. Nach Europa drängen vor allem Opfer der Bürgerkriege in Syrien, Afghanistan, Somalia, Palästina und dem Irak. Sie kommen auf dem Landweg oder übers Mittelmeer, wo sie von der türkischen Küstenwache und der European Border and Cost Guard Agency (FRONTEX) abgefangen und mit „Push-Backs“ drangsaliert werden: Die Polizisten schießen in die Luft oder rund um die Flüchtlingsboote ins Wasser; sie umfahren die Boote mit hoher Geschwindigkeit in immer engeren Kreisen, wobei diese so heftig zu schaukeln beginnen, dass sie jeden Augenblick kentern können; sie schlagen mit langen Eisenstangen auf Männer, Frauen und Kinder ein und zwingen sie schließlich, umzukehren. Das, was die Bürokraten in Brüssel „Border security“ („Grenzsicherung“) nennen, verspricht den Rüstungsindustriellen und Waffenhändlern märchenhafte Profite, denn der Kampf gegen Flüchtlinge und Migranten ist viel profitabler als die Kriege in Syrien, Darfur oder im Jemen. Die EU plant eine Erhöhung der Finanzmittel für Grenzsicherung und Migration für 2020 auf bis zu 34,9 Milliarden Euro, das Dreifache der Summe von 2019. Das Budget von FRONTEX wird in den kommenden sieben Jahren um 12 Milliarden Euro angehoben werden. Die Flucht in die Barbarei ist lukrativ.

Jene Verzweifelten, die es bis auf europäischen Boden schaffen, landen durchnässt, hungernd, verängstigt und mittellos in Erstaufnahme- und Registrierungszentren, so genannten Hotspots. Es sind Lager wie jenes von Moira bei Myrtilini auf Lesbos, das durch einen Brand zerstört und an anderer Stelle wieder aufgebaut wurde, um die Bewohner nicht in Europa aufnehmen zu müssen. Moira gibt es seit sieben Jahren, es wurde für 3000 Personen geschaffen und beherbergt 12 700. Die Zustände im Lager sind katastrophal: Zu wenig fließendes Wasser; stundenlanges Anstehen, um sich zu waschen oder Essen zu erhalten; Frauen und Mädchen, die auf dem Weg zur Toilette vergewaltigt werden; zwischen den Zelten Abfallberge, die Schlangen anlocken; Babys, die nachts von Ratten gebissen werden. Die Menschen warten oft monate- oder jahrelang auf die Verhöre durch die Polizisten von EUROPOL und European Asylum Support Office (EASO).

Die Behandlung von Flüchtlingen in Moira und anderen Hotspots verstößt gegen die EU-Grundrechtscharta, die Genfer Flüchtlingskonventionen, die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Kinderrechtskonvention. Kürzlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Zustände als unhaltbar eingestuft. Die Hotspots sind „die Schande Europas“ (Jean Ziegler), sie begünstigen die Dominanz des Bösen.

Mut zur Demut

Die Philosophin Hannah Arendt befasste sich eingehend mit dem Holocaust und seinen Organisatoren. Bei ihr hebt sich die irrationale, monströse Natur der Verbrechen ab von der Durchschnittlichkeit der Verbrecher. Die Henker des Holocaust waren keine Dämonen, sondern ganz „normale“ Mitbürger. Dieses Phänomen fasste sie während des Prozesses gegen den SS-Mann Adolf Eichmann in Jerusalem in der berühmten Formel von der „Banalität des Bösen“ zusammen. Heute gibt es keinen Holocaust, doch es gibt Totalitarismus und Krieg, Imperialismus und Globalisierung, Unterdrückung und Ausbeutung, Fremdenhass und Rassismus, Überwachung und Indoktrination, Umweltzerstörung und Selbstzerstörung. Europa ist auf Abwege geraten und riskiert dabei eine Errungenschaft, die unter allen Umständen bewahrt werden sollte – die Demokratie. Was sie ausmacht, muss uns erhalten bleiben, wollen wir die gegenwärtige Krise meistern: Freie und gleiche Wahlen, Gewaltenteilung, Verfassungsmäßigkeit, Meinungs- und Pressefreiheit, Minderheitenschutz, Schutz der Grund-, Bürger- und Menschenrechte. Nur demokratisch werden wir die anstehenden Probleme lösen können.

Es ist wie bei der Corona-Pandemie. Angst und Isolation führen uns hin zur eigenen Schwäche, zu Demut und Selbstbeschränkung. Wir stehen neben uns und müssen uns betrachten und neu verwirklichen, um der Fremdheit einer unbehaglichen Aussenwelt mit erfüllter Innenwelt begegnen zu können. Was nun ansteht, ist die Individuation, die Selbstwerdung, die Menschwerdung in einer völlig technisierten, digitalisierten und globalisierten Welt: Aufteilung statt Besitz, Vertrauen statt Angst, Achtsamkeit statt Zeitvertreib, Offenheit statt Abschottung. Das Virus ist ein durchlässiger Spiegel, es fordert neben dem Körper auch unsere Seele heraus. Seelenlos ist die Krise nicht zu bewältigen. Lassen wir das Virus ein in unser Gemüt und verwandeln wir es da in Selbsterkenntnis und Selbstbehauptung. Das Virus ist kein Feind, es provoziert unsere seelischen Immunkräfte, es macht uns stärker.

Europa steht an einem Scheidepunkt seiner Geschichte. Nur die Bewahrung humanistischer Werte wird unsere demokratischen Kräfte stärken. Beginnen wir mit dem größten Experiment der Menschheitsgeschichte – der gelebten globalen Solidarität. Lasst uns trotz Social Distancing menschlich zusammenrücken. Wir sind eine Menschheit und haben nur eine gemeinsame Zukunft. Auf dem Spiel steht nicht nur unsere politische, sondern auch unsere humanitäre Glaubwürdigkeit.

Kommentare
  • Supercollider
    Antworten
    Diese Art von “Demokratie” die sie retten wollen hat uns erst in diese beklagenswerten Zustände geführt, die Sie oben beschreiben.
    Ich wüsste nicht wie selbige uns jetzt noch helfen sollte….
    Dieses ach so aufgeklärte, demokratische EUropa westlicher Werte hat es Jahrzehnte lang geduldet, ignoriert und sogar auch noch propagiert, dass sich aufgrund eines globalen, unnatürlichen und  mafiösen Geldsystems und durch die implizite perverse Fehlallokationenerst erst solche Missstände bilden konnten.
    Das Kind ist am 11. September 2001 in den Brunnen gefallen und wir haben es ertrinken lassen.

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