Fakt und Fiktion

 In FEATURED, Philosophie, Spiritualität, Wolf Schneider

Was ist wesentlich? Worauf kommt es wirklich an? Das frage ich mich, seit ich denken kann, heute umso mehr in diesen wilden Zeiten der Corona-Krise. Meine aktuelle Antwort darauf ist: Wir müssen Fakt und Fiktion unterscheiden lernen, und dabei meine ich nicht eine Imitation der Faktenchecker, die überall hervorsprießen, so löblich ihre Arbeit auch ist. Und auch nicht die Klamotte »Alles ist Illusion« – für Spiris: »Ist doch alles Maya« – hilft mir dabei nicht. Die ist nur ein billiges Passepartout, das kein einziges ethisches oder politisches Problem löst. Wolf Schneider

Fiktiv sind nicht nur alle Gestalten unserer Literaturen und Künste, Mythen und Fantasien, sondern auch unsere sozialen Ich- und Wir-Identitäten. Faktisch wahr ist, dass sich das Kontinuum dessen, was tatsächlich der Fall ist, durch Sprache kaum wiedergeben lässt. Wir teilen das Kontinuum unserer Erfahrung in Stücke und bekleben diese Stücke mit sprachlichen Etiketten – »dies ist ein Baum« und »hier bin ich« – die wir dann narrativ miteinander verknüpfen. Diese Narrative sind die Basis aller unserer sozialen Einheiten, all der Ichs, Wirs, Institutionen und Kulturen. Sie sind so fiktiv wie die bunt gefärbten Länder auf einer Weltkarte – Deutschland ist in Wirklichkeit ja nicht blau oder grün – aber faktisch höchst wirksam. Wir wissen um die Freiheit sie gestalten zu können jedoch erst, wenn wir ihre Fiktivität erkannt haben, und erst dann verteidigen wir nicht mehr Fiktionen mit Argumenten, die nur für Faktenchecks geeignet sind.

Je nachdem, was für Statistiken auch aufgrund valider Fakten jemand aus dieser schier endlosen Basis heraus auswählt und dann in Bezug zu anderen Daten setzt, entsteht ein uns ‚bezaubernder‘, uns überzeugender Narrativ, und dieser Narrativ ist, was uns bewegt und handeln lässt. Nicht Fakten bewegen und motivieren uns, sondern die daraus Kraft unserer kreativen Phantasie gezauberten Narrative, welche die Fakten zu erklären beanspruchen. Was uns ticken lässt, sind Fiktionen.

Buddha verständlich machen

Das ist mir zu schwierig, werden nun vielleicht einige sagen, oder, das musst du genauer erklären. Mag sein. Es ist aber jedem Meditierer klar, dass das, was sich sagen lässt, nicht das ist, was der Fall ist. Außerdem bin ich überzeugt, dass die Fähigkeit zum Ausstieg aus der personalen Identität und dem Einstieg in den Raum der grenzenlosen Empathie die Lösung ist für das Beenden des Leidens, was ja schon der Anspruch von Buddhas Lehre war. Seine Lehre muss aber für unsere Zeit adaptiert und verständlich gemacht werden. Einer, der das gut kann, ist der systemische Psychologe Siegfried Essen. Aber auch Charles Eisenstein und Yuval Harari sind in der Hinsicht lesenswert.

Auch Eckhart Tolle würde ich gerne empfehlen, aber er verwendet den Begriff des Egos so, als sei das ein zu überwindender Gegner. Dadurch haftet er sich an etwas, das als Ganzes gar nicht überwunden werden sollte und auch kaum überwunden werden kann – wer es dennoch versucht, landet in der Heuchelei oder Psychiatrie. Wenn wir das Ich hingegen als Fiktion erkennen, die zudem von so vielem abhängt – sie ist eingebunden, connected – können wir es in dem, was es ist und kann, gut behandeln, liebevoll pflegen und das Licht des grenzenlosen Ganzen hindurch scheinen lassen, ohne uns vor der Unendlichkeit zu ängstigen. Dann (und vielleicht erst dann) wird es keine Kriege mehr geben, und die persönlichen Konflikte, die wir im Nahbereich haben, erscheinen uns nur noch als Theater.

Wettrüsten

A propos Kriege – an diesem Punkt bin ich in meiner politischen Haltung unflexibel und sage seit je: Die Kriege müssen aufhören! Alle. Das Militär muss abgeschafft werden, weltweit. Der Handel mit Waffen gehört verboten. Das Stockholmer Friedensforschungsinstut macht in der Hinsicht seit 1966 gute Arbeit und veröffentlicht jedes Jahr u.a. die Zahlen über die Militärausgaben in der Welt. Sie sind von 2018 zu 2019 um 3,6% angestiegen auf 1.917 Milliarden. Das ist der größte Anstieg in einem Jahrzehnt. Haben wir denn sonst keine Probleme als die Nationen gegeneinander aufzurüsten? Während Corona gezeigt hat, dass die Gesundheitssysteme kaputtgespart wurden und weltweit noch immer jeder neunte Mensch hungert.

Kommentare
  • heike
    Antworten
    Spiritualität ist etwas sehr Persönliches und damit auch individuell. Da jeder Mensch anders ist und andere Erfahrungen gemacht hat, kann man Spiritualität nicht normieren. Im Grunde schafft sich jeder mit Hilfe anderer seine Spiritualität selbst.

    Was mit der Bekämpfung des Egos gemeint ist, ist nicht die Abschaffung der Individualität, sondern, im Gegenteil, die Freilegung derselben.

    Was mit Bekämpfung/Abschaffung des Egos nicht gemeint ist, ist die Abschaffung von notwendigen Schutzzonen für die eigene Seele. Solange man diese noch besitzt, sollte man sie sich bewahren.

    Religionen und Glaubensgemeinschaften bieten Rahmenbedingungen an, in denen sich Spiritualität in einem liebevollen Kontext (zum Wohle aller) entwickeln kann.

     

     

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