Fakt und Fiktion
Was wir Menschen über die Welt zu wissen glauben, teilt sich in Fakten und Fiktionen auf. Im Privaten ebenso wie im Politischen ist es unerlässlich, das eine vom anderen unterscheiden zu können. Die heutige Wissenschaft und die uns dominierenden Medien sind besessen von dem Glauben, Faktenchecks würden genügen, um uns von den schlimmsten Irrtümern zu befreien. Was für ein Irrtum! Um Schlimmes zu verhindern müssen Medien wie Wissenschaft ebenso sehr erstens auch die Relevanz und Reichweite der vorherrschenden Fiktionen untersuchen. Zweitens muss beim Faktencheck der Unterschied zwischen Lügen und Irrtümern deutlich gemacht werden, weil dieser die Intention derer betrifft, die sie verbreiten. Wolf Schneider, connection
Lügen, Irrtümer und kollektive Fiktionen
Ein Blick zurück in die Steinzeit hilft uns zu verstehen, wie die heutigen Probleme der Weltgesellschaft entstanden sind. Wie sehr Fiktionen uns beeinflussen, beschreibt u.a. Yuval Harari in »Eine kurze Geschichte der Menschheit«. Es gibt drei Arten von Fiktionen: 1. Lügen, das sind unwahre Aussagen, die jemand macht, der die Fakten kennt. 2. Irrtümer sind Unwahrheiten, an die jemand glaubt, weil er die Fakten nicht kennt. Verschwörungsfans verwechseln oft Lügen und Irrtümer und unterstellen den Schöpfern dominanter Irrtümer böse Absichten. 3. gibt es kollektiv geglaubte Fiktionen, wie etwa der Glaube der Christen und Moslem an das Jüngste Gericht oder der traditionellen Inder an Karma.
Auch unser aller Glaube an den Wert von Geld ist der Glaube an eine Fiktion. Weil dieser Glaube fast überall auf der Welt so viele Devotees (gläubige Anhänger) hat, können wir uns für Geld tatsächlich etwas kaufen. Der Glaube an den Wert von Geld ist also ein Fiktion mit großer faktischer Macht.
Postfaktisches Zeitalter?
Als kurz nach dem Amtsantritt von Trump Pressleute ihn auf eine krasse Lüge hinwiesen, also auf eine faktische Unwahrheit, die er gesagt hatte, obwohl er die Wahrheit wusste, erklärte die ihm loyale Regierungssprecherin dem verduzten Publikum, es handle sich dabei um eine »alternative Realität«. Von Beobachtern des Trends zur Verkündung solcher alternativer Realitäten (v.a. unter Populisten grassiert das), wurde daraufhin das »postfaktische Zeitalter« verkündet. Das mit einem übertriebenen factchecking zu beantworten greift aber viel zu kurz, denn selbst mit einer geeigneten Auswahl belegbar wahrer Fakten lässt sich noch immer eine breite Palette von politischem Wahnsinn gut begründen.
Mächtig Fakten schaffende Fiktionen
Ich halte die Verwischung von Fakt und Fiktion für eine der größten Geißeln der Menschheit, doch – haha – auch hier finde ich etwas Gutes am Schlechten: Dieser aktuell sich gerade so zuspitzende Trend kann unsere Sinne schärfen für solche Verwischungen. Was die Erkenntnis erleichtern würde, wie mächtig Fakten schaffend kollektive Fiktionen sind, darunter etwa der Glaube an einen Erlöser, an einen guten Krieg oder an Geld. Prinzipiell können wir Teilnehmer an der Weltzivilisation nicht nur schlechten, sondern auch guten Fiktionen Reichweite verschaffen, etwa den Menschenrechten oder dem Glauben, dass eine Welt ohne Krieg und Hunger möglich ist. Der Glaube, dass die Welt von Psychopathen und böswilligen Verschwörern regiert wird, ist zwar nur ein Glaube, aber wenn er viele Devotees hat, wirkt er im Faktischen massenhaft unheilvoll.
Umweltzerstörung als Folge des »War on drugs«
Der Journalist Bram beschreibt im Interview mit spektrum.de wie Drogenkartelle das Amazonasgebiet übernehmen, eine weitere Folge des vor gut 50 Jahren ausgerufenen »War on Drugs«. Dieser unheilvolle Krieg greift nun auf das riesige Amazonasgebiet zu, die Lunge der Erde, und hat sie schon weitgehend erfasst. Bram empfiehlt daraufhin mehr internationale Zusammenarbeit. Das ist gut gemeint, wird aber kaum funktionieren, selbst wenn die dortigen Staaten sich einigen würden. Denn die Drogenkartelle haben durch den Handel mit Kokain und den illegalen Abbau von Gold mehr Geld zur Verfügung als die Budgets all der Länder der Region zusammen genommen, mit denen diese ihre Richter und Polizisten bezahlen. Hier regiert das Geld und nicht das Gesetz.
Eine Legalisierung der Drogen könnte dem abhelfen. Das hieße, den Drogenhandel generell in staatliche Hände zu geben, weg vom Schwarzmarkt. Der von Nixon 1972 ausgerufene »war on drugs« ist insgesamt ein Fiasko, mit noch viel weitreichenderen Folgen, als es die Prohibition von Alkohol in den USA von 1920 bis 1933 war, die den Alkoholhandel illegalen Banden übergab und den Konsum insgesamt kaum verminderte.
Herkunft und Ethik der Taliban
Wenig bekannt ist auch, dass Afghanistan erst durch die Unterstützung der USA zum Drogenland wurde. Von 1980 bis 1988 baute der CIA im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion mit Waffen, Geld, Transportmitteln und sogar mit Lehrbüchern, die den Dschihad unterstützten, in Afghanistan und Pakistan tätige Guerillakämpfer aus, die Mujahedin. Als die Sowjetunion 1989 durch Gorbatschow der NATO den Frieden anbot, blieben die daraus entstandenen Kämpfer im Land. Sie hatten nun durch den Drogenhandel genug Geld und durch die USA auch Waffen erhalten und militärisches Training, das verschaffte ihnen Unabhängigkeit. Aus diesen Kämpfern entwickelten sich die Taliban und die Warlords der folgenden Bürgerkriege. Die Taliban hatten allerdings seit je mehr ethische Probleme mit dem Anbau und Handel von Opium als der CIA sie in den Jahren vor 1989 hatte – immerhin ist im Islam ja der Konsum der Droge Alkohol verpönt. 2022 verbotenen die Taliban in dem seit 2021 von ihnen beherrschen Afghanistan schließlich den Anbau von Opium, dem Ausgangsstoff von Heroin und anderen Opiate und sind anscheinend weitgehend imstande, das Verbot umzusetzen.
Sind wir Menschen lernfähig?
Ich zweifle daran. Erst verhieß der Übergang zur Landwirtschaft vor ca. 10.000 Jahren der Menschheit viel Gutes. Er führte aber zu mehr Arbeit, Krankheiten, Kriegen und Streit um Besitz. Als mehr als 90 % der Weltbevölkerung sich auf Ernährung auf Landwirtschaft umgestellt hatten, folgte ab vor 500 Jahren das Zeitalter der Wissenschaft. Das verhieß uns Aufklärung, brachte aber erstmal einen verschärften Kolonialismus und Sklavenhandel und dann im Zuge der Industrialisierung die Proletarisierung der Mehrheit. Uns lockte der unaufhaltsame Fortschritt der Technik, die Zunahme materieller Güter und die Verheißung eines Siegs über die Natur. Die Folge ist jedoch, dass wir bis heute an Fließbändern und in Hamsterrädern gefangen gehalten sowie in Formen der geistigen, emotionalen und sogar materiellen Artmut, mit denen keiner unserer prähistorischen Vorfahren tauschen würde. Und nun lockt die Digitalisierung uns noch prekärere Anthropozän.
Diese Wandlungen gelten als zivilisatorische Fortschritte, sie machen uns jedoch nicht glücklicher. Wir haben zwar immer mehr, aber die meisten dieser Dinge und Verpflichtungen belasten uns. Wer kann schon mitten im Rausch des Konsumismus verzichten? Also kämpfen wir weiter – individuell, national und zivilisatorisch, »wir« gegen »die anderen«. Nicht einmal die beiden Weltkriege haben dazu geführt, dass Krieg heute verpönt ist, nicht einmal in Deutschland ist Pazifismus mehrheitsfähig. Sogar bei Angriffskriegen wie der Besetzung von Afghanistan hat Deutschland wieder mitgemacht und unterstützt heute Israel bei der Vernichtung des Gazastreifens – die Drahtzieher der Hamas konnten von dort fliehen, die Zivilisten nicht.
Wird das Gute siegen?
Nach all den schrecklichen Nachrichten über Kriege und Umweltzerstörung, die medial auf uns einströmen, möchte ich ein paar Lichtblicke setzen. Bonhoeffer hat seinen Glauben an das Gute im Menschen und die Realisierbarkeit der Ethik der Bergpredigt auch durch seine Erfahrung mit den Nazis nicht verloren. Auch der Dalai Lama nicht, trotz seiner Erfahrungen mit dem von China in den 50er und 60er Jahren brutal eroberten Tibet, in dem die Tibeter bis heute als unaufgeklärte, rückständige Menschen gelten. Gorbatschow hat den Kalten Krieg beendet, dann aber zu naiv dem Goodwill des Westens vertraut, wofür er heute in Russland verachtet wird. Gutherzigkeit allein genügt eben nicht, zumal in den politischen Arenen. Auch das Ziel eines weltweiten Abrüstung, für das ich in meinen Schriften immer wieder werbe, darf nicht naiv angegangen werden, sollte aber ein weithin verkündetes Ziel sein. Deutschlands »Kriegstüchtigkeit« ängstigt unsere Nachbarn, die dann ebenfalls aufrüsten werden. Ein pazifistisches Deutschland könnte die Vorhut einer weltweiten Abrüstung sein.