Himmelsrichtung des Grauens

 In FEATURED, Kultur, Philosophie, Politik, Roland Rottenfußer

Über „den Westen“ wird in bestimmten Kreisen nur noch verächtlich gesprochen. Statt andere Weltgegenden zu idealisieren, sollten wir unsere Werte wieder mit Leben erfüllen. „Abendland, Abendland, ich achte und verachte dich“, sang der österreichische Chansonnier André Heller mit der für ihn typischen brüchigen Stimme. Dabei ist er selbst ein Kind dieser Weltregion. Der Abendländer, das ist jemand geworden, der — wie Friedrich Nietzsche es treffend ausdrückte — „vor sich selbst mit zugehaltener Nase dasteht“. Geradezu mit Ekel im Tonfall wird in sehr vielen Diskursen kritischer Intellektueller „der Westen“ beschrieben. Gemeint sind meist die NATO-Länder und von ihnen beeinflusste Staaten. Aber auch ganz allgemein die Weltregion, in der nach außen hin Werte wie Pluralismus, Liberalismus und parlamentarische Demokratie vertreten werden. Unauflöslich verbunden mit der Vorstellung vom Westen scheinen Bezeichnungen wie „Heuchelei“ und „Überheblichkeit“ zu sein. Der Begriff „Wertewesten“ ist im Grunde zum Running Gag geworden. Diese harsche Selbstkritik hat Gründe: die Geschichte des europäischen Kolonialismus vor allem, mit den bis heute wirksamen Mechanismen struktureller Ausbeutung des globalen Südens. Und das kriegerische Dominanzgebaren der USA sowie ihrer europäischen Vasallenstaaten. Dies, verbunden mit einem missionarischen Anspruch — am westlichen Wesen solle die Welt genesen —, schürt Hass im Osten und Süden. Schwieriger als das Aufspüren von Fehlern der „eigenen“ Region ist es allerdings, wirklich überzeugende Beispiele aufrichtiger Werteorientierung im nicht westlichen Ausland zu finden. Die Idealisierung von Ländern wie Russland, China oder der muslimischen Welt führt in eine Sackgasse, da ihr die teilweise desolate Realität in diesen Weltregionen entgegensteht. Zweifellos wurden „westliche Werte“ von denen, die großsprecherisch mit ihnen hausieren gehen, verraten und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Erkenntnis dieses Verrats sollte aber nicht verbunden werden mit der Abwendung von dem, was verraten wurde. Roland Rottenfußer

 

„Und jetzt reden wir über LGBTQ“, sagt der weißgekleidete Mann, der die in arabischen Ländern gebräuchliche weiße Kopfbedeckung trägt. „Der Westen sagt, dass wir uns hier verändern müssten, dass wir als Kataris aufhören müssen, so zu sein, wie wir sind. Dass wir unseren Glauben, unsere Religion verändern müssen. (…) Uns wird gesagt, wir sollten diese ganze LGBTQ-Gemeinschaft einfach so akzeptieren. Aber wo ist dann Menschenrecht, auszusuchen, was ich für mein Land, für meine Religion, für meine Familie will?“

Katars Energieminister Saad Scharida al-Kaab traf im November 2022 auf den deutschen Journalisten Paul Ronzheimer, bekannt auch durch viele Reportagen aus der Ukraine. Angesprochen auf die im Westen so empfundene Diskriminierung „queerer“ Menschen, redete sich der Minister in Rage. „Ich habe nicht das Recht, Ihnen zu sagen, was Sie glauben sollen, und anders herum haben Sie es auch nicht. Der Westen kann uns das nicht diktieren. Und es ist eine große Doppelmoral am Werk, und das prangere ich mit großem Nachdruck an.“ Ronzheimer wandte ein: „Es geht nicht darum, den Westen zufriedenzustellen, es geht um Menschenrechte. Und die sind für alle gleich.“

Saad Scharida al-Kaab ließ sich davon aber nicht beeindrucken. „Ja, aber ich habe auch Menschenrechte. Und habe das Menschenrecht, auszusuchen, woran mein Land und ich glauben. (…) Sie können uns als Westen nicht diktieren, wie wir glauben sollen.“ Aber warum werden Homosexuelle in Katar überhaupt bestraft? „Das kann ich nicht sagen. Da geht es um das islamische Gesetz. Und das akzeptiert nun mal LGBTQ nicht. (…) Sie sollten sich um Deutschland kümmern, was Deutschland tut, was Deutschland hat.“

Die Unglaubwürdigkeit der Mahnenden

Dieses Interview erregte in Deutschland viel Aufsehen, zumal im Umfeld der Fußball-WM in Katar. Viele Aussagen des katarischen Ministers klingen auf den ersten Blick plausibel. Wer hätte schon etwas gegen das Recht jedes Volkes, selbst über seine Werte und Gesetze zu bestimmen? Sind Westler da nicht zu überheblich, zu übergriffig? Anders kann es sich anfühlen, wenn man selbst ein Homosexueller in Katar ist. Stellen Sie sich vor, auf irgendeinem seltsamen Weg hätten die Behörden Ihres Landes herausgefunden, dass Sie mit einer Person geschlafen haben, die Sie lieben. Sie werden daraufhin verhaftet, bloßgestellt und für Jahre in ein Gefängnis gesperrt, wo schlimme Haftbedingungen herrschen — faktisch weiße Folter. Sie verlassen den Ort Ihrer Pein nach Jahren, schwer traumatisiert, und treten wieder in eine Gemeinschaft ein, in der die meisten Menschen zu den Gefängniswärtern halten, nicht zu Ihnen.

Wäre es da nicht wohltuend zu wissen, dass irgendein „heuchelnder“ Westler, ein Paul Ronzheimer, irgendwo auf der Welt Ihre Partei ergreift, selbst wenn er nicht imstande ist, Sie zu „retten“? In Katar können Homosexuelle mit Gefängnis bis zu sieben Jahren bestraft werden, in selteneren Fällen sogar mit dem Tod durch Steinigung.

Amnesty International beansprucht, mit 35 Prozent ihrer Eilaktionen Erfolg zu haben, also Menschenleben gerettet, Freilassungen erwirkt oder Haftbedingungen verbessert zu haben. Mit einer Haltung nichteinmischenden „Respekts“ vor den Regeln in jedem der Täterländer wäre dies nicht gelungen.

Hierzu ist ein ethischer Kompass nötig, der über bloßen „Legalismus“ — also die Haltung, dass in jedem Land nun mal die Gesetze gelten, die gelten — hinausgeht. Die Überzeugung, dass es in jedem Fall falsch ist, Menschen ohne hinreichenden Grund oder unter schlimmen Haftbedingungen einzusperren, sie zu foltern und zu töten — egal, welche Auffassung die Verantwortlichen selbst in dieser Angelegenheit vertreten.

Dazu braucht es, wenn man so will, „Überheblichkeit“, die jedoch dem Mitgefühl mit den Opfern entspringt. Wirkliche Menschenrechtsaktivisten vergessen dabei nie, auch die Zustände im eigenen Land einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Ich übersehe nicht, dass auch der Westen schwere Gewalttaten auf dem Gewissen hat, vor allem die USA. Es ist dennoch kein Fehler, die Führer anderer Staaten zur Einhaltung der Menschenrechte zu mahnen. Nur hapert es sehr oft an der Glaubwürdigkeit der Mahnenden.

Verordnete Religion

Katars Energieminister zündet bei genauerer Analyse hier ein paar rhetorische Blendgranaten und entlarvt sich selbst. Er beansprucht, „auszusuchen, was ich für mein Land, für meine Religion, für meine Familie will“. Dies ist per se übergriffig gegenüber seinen Landsleuten, Glaubensgenossen und Familienmitgliedern, von denen einige für sich vielleicht eine andere Entscheidung treffen möchten, als sie der Minister vorgibt. Dabei stilisiert sich Saad Scharida al-Kaab sogar selbst zum Opfer einer Menschenrechtsverletzung — ihm werde das Recht abgesprochen, zu bestimmen, „woran mein Land und ich glauben“.

Legitim ist dies jedoch nur, was seinen eigenen Glauben betrifft. Selbst wenn die überwältigende Mehrheit in einem Land überzeugt muslimisch ist und auch klar heterosexuell, berechtigt das eine Führungsschicht nicht, dies für alle zur Norm zu machen — „cuius regio, eius religio“ hieß dieser Grundsatz im Dreißigjährigen Krieg. Wer die Region kontrolliert, kontrolliert auch die Religion. Der katarische Minister propagiert damit klar den Gewissenszwang. Zudem gibt er an, „das islamische Gesetz“ entbinde ihn von seiner Verantwortung als Entscheider. Saad Scharida al-Kaab ist ein Paradebeispiel für den autoritären Charakter. Ich gehorche gern, aber ich fordere auch Gehorsam von jedem, der in der Hierarchie unter mir steht.

Aus westlicher Sicht — und zugegebenermaßen bin ich natürlich von dieser Perspektive geprägt — ist so eine Ansicht eigentlich ein ideologischer Ladenhüter. Ich würde es begrüßen, wenn als Gegengewicht der vielleicht etwas angestaubten westlichen Werteorientierung etwas ganz Neues, Aufregendes auf der Bühne der Welt erschiene, das uns heuchelnde Europäer durch Brillanz und Humanität beschämte. Dies hier ist jedoch nur ein Rückfall in sattsam bekannte, zum Großteil auch außerhalb Europas überwundene Phasen der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit. Ich will damit nicht Werte wie Tradition, Familie und Religion geringschätzen. Diese sind auch mir wichtig. Nur sollte jeder selbst wählen dürfen, wie er es mit ihnen hält, und nicht unter Strafandrohung zur Unterwerfung unter sie verpflichtet werden.

Der despotische Charakter als „Kulturerbe“

Wenn sich östliche Machthaber westliche Einmischung und moralische Belehrungen verbitten, bedeutet das also nicht zwangsläufig, dass sie integre Kämpfer gegen die globale Dominanz der USA sind, die sich für die Bewahrung ortstypischer Sitten engagieren; vielleicht sind es auch einfach nur skrupellose Machtmenschen, die keine Lust haben, auf westlichen Zuruf liebgewordene Gewohnheiten wie Folter, Frauendiskriminierung und Meinungsterror zu unterlassen. Nicht wenige diese Potentaten arbeiten eben nicht so gern an der Verbesserung der Menschenrechtslage in ihren Ländern, sondern lieber an der Perfektionierung selbstbewusster Kommunikationstechniken, um Kritikern Paroli zu bieten. Nicht nur wollen sie mit ihrem Tun ungerührt fortfahren, sie reagieren auch gern eingeschnappt, wenn sie mit Kritik daran konfrontiert werden.

Übrigens ist das bei den USA nicht anders, die im Fall Julian Assange die Aufdeckung des Verbrechens sanktionierten, nicht das Verbrechen selbst.

Es ist beobachtbar, dass Ausübende staatlicher Gewalt den Konflikt, der eigentlich zwischen oben und unten herrscht (Mächtige gegen Machtlose, Täger gegen Opfer), nur allzu gern auf die horizontale Ebene umlenken (globaler Osten gegen globalen Westen). Ihr eigener schlechter Charakter erscheint so plötzlich als erhaltenswertes Kulturerbe.

Währenddessen müssen aufrechte, mutige Bewohner desselben Kulturkreises unter schlimmsten Bedingungen im Gefängnis einsitzen.

Der Internet-Aktivist Raif Badawi wurde in Saudi-Arabien 2014 wegen „Beleidigung des Islams“ zu 1.000 Peitschenhieben verurteilt. Erst 2022 wurde er entlassen, nachdem er zum Glück nur einen Teil der Hiebe erhalten hatte. Ein Ausreiseverbot aus seiner Heimat ist bis heute in Kraft. Ich halte es für richtig, sich nichtwestlichen Kulturen zu öffnen und die Mentalitätsunterschiede, die sich zeigen, möglichst vorurteilsfrei anzuschauen. Vielfach ist es möglich, trotz aller Verschiedenheit der Prägung, Sympathie, ja Freundschaft zueinander zu entdecken. Warum muss sich aber gerade um die Regierenden von Nicht-NATO-Ländern herum eine publizistische Verteidigungsmauer auch im Westen bilden? Man täte gut daran, sich seine Sympathieträger unter den Ausgepeitschten zu suchen, nicht unter den Auspeitschenden — unter denen, die um ihres Gewissens willen verfolgt werden, nicht unter den Verfolgern.

Gibt es „lupenreine Demokratien“?

Der „Propaganda des Westens“, wie die in Mainstream-Medien der NATO-Länder vorherrschenden politischen Narrative gern genannt werden, sollte man gewiss nicht blind folgen. Dies gilt aber ebenso für tendenziöse Informationen, die aus den jeweiligen Regierungsapparaten nichtwestlicher Länder stammen. Nehmen wir als Beispiel Russland. Der langjährige Moskau-Korrespondent des Focus, Boris Reitschuster, sieht im politischen Establishment Russlands einen „vorherrschenden Zynismus“ am Werk. Er hält die verbreiteten Vorwürfe, der Westen meine es mit seinen Werten nicht ernst und würde diese nur heucheln, für Projektion. So schreibt er es in seinem Buch „Putins Demokratur“:

„Manche russischen Politiker bekennen ganz offen, dass sie Werte und Moral im westlichen Sinne für Scharlatanerie halten, für ein aufgesetztes Schauspiel. So blauäugig wie überzeugt behaupten sie, alle anderen Menschen würden es schließlich genauso halten und sich nur verstellen, wenn sie von Werten wie Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit reden. So etwas gebe es nicht. Wer anderes behaupte, sei ein Heuchler.“

Diese Grundeinstellung, so Reitschuster, sei ein Erbe aus der Zeit des Kommunismus, entspringe insbesondere dem Weltbild des sowjetischen In- und Auslandsgeheimdienstes KGB, in dem das Narrativ vorherrschte, dass es im Westen gar keine Demokratie gebe; in Wahrheit regiere im Westen ein kleiner Machtzirkel aus Politik und Wirtschaft, der sich die Medien unterworfen habe. So gibt Reitschuster die KGB-Doktrin wieder.

Was gegen Reitschusters Projektionsthese spricht, ist wohl die Tatsache, dass die Ereignisse seit 2018 — dem Jahr, in dem sein Buch „Putins Demokratur“ herausgekommen war — die Thesen besagter russischer Politiker eher bestätigt haben. Wir haben es im Westen mit einer Fassadendemokratie mit in ihrer Substanz ausgehöhlten Restinstitutionen zu tun. Man könnte ebenso von Bidens oder Scholz‘ Demokratur sprechen. Wladimir Putin antwortete 2007 auf die Frage eines Journalisten, ob er ein „lupenreiner Demokrat“ sei, wie ihm Gerhard Schröder zugebilligt hatte: „Gibt es denn irgendwo eine lupenreine Demokratie, in Deutschland zum Beispiel?“ Darüber können wir heute, im Jahr 2023, schon nachdenken.

Moralischer Relativismus gegen Einmischung

Die Wahrheit liegt vielleicht zwischen den beiden Positionen: Der Westen hat sich als Moralhüter so unglaubwürdig gemacht, dass er dem Osten damit eine willkommene Vorlage gab, den Ball zurück ins gegnerische Feld zu spielen; andererseits nutzt der Osten westliche Verfehlungen gern, um seine eigenen kleinzureden und mit einem allgemeinen moralischen Relativismus zuzudecken: „Was regt ihr euch auf? Wir sind doch alle keine Engel!“ Anstatt sich um die Verbesserung der Menschenrechtslage im eigenen Land zu bemühen, herrscht in beiden Lagern eine gewisse Selbstzufriedenheit auf niedrigem Niveau und eine Mentalität der Schuldweitergabe.

Wer auch immer hier Recht hat — festzustellen ist eine gewisse Gereiztheit gegenüber westlicher Einmischung. Dies war beim katarischen Energieminister Saad Scharida al-Kaabi nicht anders, der den Vorwurf, Homosexuelle würden in seinem Land eingesperrt, nicht entkräften und ebenso wenig eine nachvollziehbare Begründung dafür angeben konnte. Gesagt wurde im Kern nur: „Ihr habt uns gar nichts zu sagen. Wir leben hier, wie es uns gefällt.“ Es stimmt natürlich, dass sich Länder wie Katar nicht so stark in innere Angelegenheiten der NATO-Länder einmischen, wie dies umgekehrt geschieht. Aber was geschähe denn, wenn ein solches Land militärisch überlegen wäre? Könnte es der Versuchung des Machtmissbrauchs und des gewalttätigen Exports seiner eigenen Werte widerstehen? Anders gefragt: Sind diese Länder wirklich tolerant — oder sind sie lediglich zu schwach, um ihre Intoleranz auftrumpfend zur Geltung zu bringen?

Schon jetzt missionieren Länder wie Saudi-Arabien und Katar indirekt massiv in Europa, indem sie islamistische Gruppen unterstützen. Etwa die Salafisten. Diese sind zwar nicht gewalttätig, aber sie gehen von einer klaren moralischen Überlegenheit ihres „Lagers“ gegenüber westlicher Dekadenz aus und treiben die Ausbreitung ihrer Weltanschauung voran. Es ist dieselbe missionarische Haltung, die dem Westen als Kulturimperialismus vorgehalten wird: der Versuch, Coca-Cola, Hollywood und Menschenrechte allen aufzudrängen.

Der Hass auf den Westen

„Der Hass auf den Westen“ war ein Buch von Jean Ziegler, dem ehemaligen Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen (UN) für das Recht auf Nahrung. Darin geißelte der Schweizer 2008 die Heuchelei des Westens, der Kriege für Öl und Absatzmärkte anzettele und Tausende von Zivilisten im Bombeninferno sterben lasse, dabei aber keine Gelegenheit auslasse, um sich als Sachwalter der Menschenrechte aufzuspielen. Die Wut darüber wachse in der „Dritten“ und der islamischen Welt. „Schon lange macht sich der Westen nicht mehr klar, wie viel Ablehnung er hervorruft“, schreibt Ziegler.

„Ob bei Abrüstung, Menschenrechten, Kontrolle von Atomwaffen, globaler sozialer Gerechtigkeit — der Westen spricht fortwährend mit gespaltener Zunge. Und der Süden reagiert mit abgrundtiefem Misstrauen. Er hält diesen Westen, der in seiner Praxis ständig die von ihm verkündeten Werte Lügen straft, für schizophren.“

Als ich den Titel des neuen Buches dieses damals schon von mir sehr geschätzten Autors las, war ich überrascht und zunächst etwas ratlos. Ich konnte mir nicht vorstellen, was an „uns“, also an den demokratischen Nationen des Westens, so schlimm sein konnte. Ich wusste zwar — unter anderem von Jean Ziegler —, dass es strukturelle Ausbeutung des globalen Südens gab, auch als Folge der Kolonialgeschichte. Ich wusste von ethisch fragwürdigen blutigen Kriegen der USA. Aber „Hass“ — das überraschte mich denn doch. Ziegler begründete seine These jedoch gut. Seitdem bin ich hellhöriger, was antiwestliche Ressentiments betrifft, die durchaus ihre guten Gründe haben können.

Gibt es gute und böse Himmelsrichtungen?

Heute, 25 Jahre später, stolpere ich auf Schritt und Tritt über „Hass auf den Westen“. Fast ist mir entfallen, dass es überhaupt jemals etwas Positives über diese Himmelsrichtung des Grauens zu berichten gab. Der Grund dafür liegt im allgemein Sprachduktus der „alternativen Medien“ bezüglich des Westens.

In dem Milieu, in dem ich mich überwiegend bewege, gilt der Westen als verbrannt. Schreibt dort jemand über „westliche Werte“, so kann man davon ausgehen, dass das hämisch gemeint ist. Werte tauchen eigentlich überhaupt nur unter dem Aspekt ihres Geheucheltwerdens auf.

Kaum mehr scheint vorstellbar, dass jemand ehrlich an bürgerlichen Freiheiten, sozialen Rechten, Meinungsvielfalt und Menschenrechten interessiert sein könnte.

Aber gibt es Himmelsrichtungen, die von Natur aus gut oder böse sind? Genauer gesagt: Gibt es moralisch überlegene oder unterlegene Weltregionen und Wertesysteme? Nach meiner Erfahrung ist das Publikum in jedem Land und auf jedem Kontinent ein sehr gemischtes. Die Mehrheit orientiert sich meist an ihrer Regierung — zum Schaden der eigenen Integrität und geistigen Eigenständigkeit. Eine Minderheit erarbeitet für sich selbstständig Konzepte und Werte, die mit denen des nationalen „Mainstreams“ überkreuz sind. In diesen Kreisen gedeihen Geist und persönliche Tapferkeit, die nicht selten auch Opfer kostet.

Aussagen über einen moralisch völlig unglaubwürdigen „Westen“ machen nur Sinn, wenn es einen besseren „Osten“ als Vergleichsgröße gibt. Anderenfalls könnte man ja gleich von der Heuchelei, der Machtgier oder der Grausamkeit des Menschen sprechen, nicht von der des Westens.

Gibt es diesen besseren Osten? Und von welchem Osten sprechen wir überhaupt? Russland und China werden gern als Gegenspieler des NATO-Blocks genannt, aber auch ein Gegensatz zwischen dem Westen und der eher südlich gelegenen arabischen Welt taucht auf. Sind nicht Australien, Neuseeland, Israel, sogar Japan westlich orientierte Länder? Und gehören nicht Chile und Bolivien ideell, obwohl im Südwesten gelegen, dem „Nichtwesten“ an? Und ist nicht speziell Russland aufgrund seiner Kultur und Religion sowie den vielfachen verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen den europäischen Adelshäusern bis 1917 ein überwiegend westlich geprägtes Land? Je genauer man hinsieht, desto weniger einfach stellen sich die Angelegenheiten dar.

BRICS-Staaten als moralische Alternative?

Mit der Gründung de BRICS-Staaten bürgerte sich die Unterscheidung zwischen dem Westen auf der einen und allen anderen Ländern auf der anderen Seite ein. Da sollte ein eher zusammengewürfelter Haufen von Nicht-NATO-Staaten, bestehend aus so unterschiedlichen Ländern wie Russland, China, Südafrika, Indien und Brasilien, dem ideologisch relativ einheitlich verfassten Westen Paroli bieten. Als Macht-Gegengewicht mögen die BRICS-Staaten auf Erfolgskurs sein. Als die „moralischere“ Alternative sind sie eigentlich schon gescheitert, ehe sie richtig begonnen haben. Länder wie Saudi-Arabien und Iran, in dem eine derzeit zunehmende Frauen-Unterdrückung herrscht, zeigen eine menschenrechtsblinde Wahllosigkeit der BRICS-Länder bei der Aufnahme neuer Mitglieder. Selbst wenn man die Entwicklung in Russland und China positiver einschätzt, als dies in den meisten Mainstreammedien geschieht, kann man nicht gerade davon sprechen, dass mit den BRICS-Staaten dem Globus ein neues Weltgewissen erwachsen wäre. Dem Westen nicht allein das Feld zu überlassen, ist der beinahe einzige Kitt der Staatengemeinschaft, die sich somit nur „ex negativo“ definiert — dadurch, was sie nicht sein will: westlich.

Vom Grundsatz her ist eine multipolare Welt sicher besser als eine unipolare, weil zu viel einseitig ausgeübte Macht ihren Besitzer korrumpiert und dafür sorgt, dass die schwächeren Länder und Kulturkreise unter die Räder kommen. Auf der anderen Seite erzeugen mehrere Pole auch enorme, gefährliche Spannungen, wie der Ost-West-Gegensatz im Kalten Krieg gezeigt hat.

Und hat sich jemand wirklich zutiefst nach der Entstehung eines neuen Machtblocks gesehnt? Ich jedenfalls nicht. Ich sehnte mich eher nach Frieden, Güte, Wohlstand, Freiheit. Ich sehnte mich nach der weitgehenden Abwesenheit von Macht, nach zwischenstaatlicher Demokratie und mehr Bürger-Selbstbestimmung. Nach Machtbegrenzung, um es mit einem Wort zu sagen.

Und dafür hatte der Westen zumindest Konzepte entwickelt, die das Leben in dieser Region lange Zeit erträglich machten. Leider erodiert das Erbe der Aufklärung und des Liberalismus auch hier, wie unter anderem die Coronajahre gezeigt haben. Und die „Systemkonkurrenz“ der BRICS-Staaten entwickelt eine Sogwirkung auf westliche Politiker, die den Flirt mit mehr Autoritarismus, Planwirtschaft und Social-Credit-Systemen nicht lassen können. In einer multipolaren Welt fließt viel Geld, Kraft und Kreativität in das „Gegeneinander“, die dann für die Bewältigung der wirklich konstruktiven Aufgaben fehlen.

Verbrannte Gebeine

Alle allgemeinen Prinzipien müssen sich an den konkreten Details bewähren. Auch Multipolarität. Marquis Posa, der liberale Held in Friedrich Schillers Drama „Don Carlos“, war sehr angetan von seinem Besuch in den scheinbar blühenden Provinzen Flanderns. Bis er eine grauenhafte Entdeckung machte: „Da stieß ich auf verbrannte menschliche Gebeine.“ Die Frage ist nie, ob die Narrative, die West, Ost, Nord oder Süd pflegen, gut klingen; die Frage ist immer: Wie werden Menschen dort konkret behandelt, speziell: Wie behandelt die Staatsmacht Schwächere? Meine Ausführungen in diesem Artikel sind nicht gegen bestimmte Kulturkreise gerichtet. Ich selbst bin ein Freund der Philosophie des Taoismus wie auch der Spiritualität der muslimischen Sufis. Ich schätze russische Literatur wie auch die indische Mythenwelt. Die schönen Aspekte in den verschiedenen Ländern unterscheiden sich oft sehr stark voneinander, sodass der Eindruck einer sehr bunten Welt entsteht. Nur das Hässliche ähnelt sich überall: verbrannte Gebeine.

Manchmal drängt sich mir der Eindruck auf, diese Welt sei doch im Grunde noch sehr unipolar, jedoch auf andere Weise, als dies üblicherweise gemeint ist. Im Westen blutige Gewalt, im Osten blutige Gewalt. Im Westen autoritäre Staatsanmaßung, im Osten autoritäre Staatsanmaßung. Im Westen Propaganda und Meinungsunterdrückung. Im Osten Propaganda und Meinungsunterdrückung. Wo in diesem Panorama finden wir gegenseitige Ergänzung und Bereicherung durch Verschiedenheit? Die BRICS-Staaten sind kein Reich des Lichts, das der Finsternis entgegenstünde. Eher ist es so, dass neben der alten Geisterbahn — der NATO — nun noch eine zweite gebaut wurde. Man möchte ja gern glauben, dass dieses Neue auch gut ist — die Bausteine, aus denen es sich zusammensetzt, sind es aber leider nicht. Zumindest gilt das für die Regierungen, die ja den Ton angeben; freundliche, wertvolle Menschen gibt es in jedem Land.

Menschenrechtsverletzungen als liebenswerte Folklore

Der Diskurs über „westliche Heuchelei“ besagt, dass im Westen Ideale verraten wurden, die sich der Osten gar nicht erst zu eigen gemacht hatte, die er sich jedoch hätte zu eigen machen müssen, wäre ihm an Menschlichkeit und Freiheit gelegen gewesen. Es ist nicht schön, sich als „die Guten“ zu inszenieren, diesem Anspruch aber dann nicht gerecht zu werden, wie es bei westlichen Ländern leider oft genug der Fall war. Aber es hilft den Opfern staatlicher Gewalt auch nichts, zu wissen, dass ihre Peiniger keine Heuchler sind, sondern Menschen, die sich offen zu ihrem Despotismus bekennen.

Wenn ich jetzt noch einmal auf die Mentalität des katarischen Energieministers Saad Scharida al-Kaab zurückkomme, dann finde ich:

Niemand beleidigt ein Volk mehr als der, der Menschenrechtsverletzungen zu einem unverzichtbaren Teil ihrer Identität erklärt — als handele es sich um liebenswerte Folklore.

Als sei es nur eine Marotte des überheblichen Westens, zu fordern, dass mehr als eine Meinung im öffentlichen Raum legitim sein müsse und dass Menschen geschützt sein müssten vor Verschleppung in Gefängnisse und der Zufügung körperlicher Qualen, einzig aufgrund ihrer von den Ansichten der Führungselite abweichenden Weltanschauung oder vielleicht ihrer sexuellen Orientierung.

Reflexartig sich entzündender Spott

Dem Wunsch nach Selbstkritik und Aufarbeitung entspringend, entstand eine Kultur des Himmelsrichtungs-Bashings, in der der Begriff „Westen“ nicht mehr anders als im Tonfall der Verhöhnung und des Abscheus ausgesprochen wird. Ja, der Hass auf den Westen mag aus der Perspektive vieler durch Kolonialherrschaft und modernes „Global Leadership“ unterdrückter Völker verständlich sein. Aber westlicher Selbsthass? Ist es nicht eigentlich ungewöhnlich, zum „Eigenen“ so wenig Zugehörigkeit zu spüren, es geradezu mit Eifer bei jeder Gelegenheit abzuwerten? Woher kommt uns das bekannt vor? Richtig: Es ist ein Charaktermerkmal der Deutschen der Nachkriegszeit, die ihren Hang zur Selbstbeschimpfung nun übertragen haben auf die größere Völkerarena.

Es macht keinen Sinn, „westliche Werte“ mit einem reflexartig sich entzündenden Spott zu überziehen, ohne sagen zu können, um welche Werte es geht und was genau an diesen angeblich schlecht ist. Wer über die Kriege der NATO gut informiert ist, jedoch nie in begeistertem Staunen vor italienischen Kunstwerken der Renaissance stand, vor deutscher romantischer Musik, vor altgriechischer Philosophie, dem wissenschaftlichen Mut eines Kopernikus oder vor den ersten Gehversuchen der demokratischen Kontrolle von Macht in England und Frankreich, der verfällt vielleicht in eine Art westlichen Selbsthass. Wer — wie ich — beides zu sehen versucht, fühlt sich mitunter innerlich zerrissen und ahnt das Dilemma des Fortschrittsglaubens, des Entdeckerdrangs und der Idee des Individuums, das so typisch „westlich“ ist.

Westliche Werte sind nicht „alternativlos“, aber sie besitzen eine eigene Schönheit und Würde, wenn sie von den Verzerrungen befreit werden, die sie durch imperialistische Interessengruppen erlitten haben. Statt zynische Selbstaufgabe zu zelebrieren, bestünde der Ausweg für den westlichen Menschen darin, endlich im guten Sinn wirklich westlich zu werden.

Anzeigen von 2 Kommentaren
  • Katja K.
    Antworten
    Sehr guter Beitrag. Der Westen muss sich neu erfinden und aufstellen, soviel steht fest. Uns fehlt ein Libero wie Beckenbauer.

    https://nitter.net/search?q=%23Trapattoni

  • Astro-Narrative 2.0
    Antworten
    Ich bin immer wieder erstaunt zu sehen, mit welcher Selbstverständlichkeit Himmelrichtungen als gesetzt angesehen werden. Insbesondere vor dem Hintergrund der  kosmologischen Erkenntnisse eines Kopernikus, Einstein  oder Harald Lesch.

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