Kontext ist alles
Zwei Wandlungen haben das vergangene halbe Jahrhundert gekennzeichnet: die Entwicklung der Biologie zur Ökologie und die Entwicklung der Psychologie zum Systemischen. In beiden Fällen geht es darum, dass sich ein Einzelwesen nur in seinem Kontext voll verstehen lässt; im ersten Fall das materielle Einzelwesen, im zweiten das psychische. Alles Einzelne ist in einer Umgebung eingebettet und darin verbunden; es wird aus dem umgebenden Ganzen quasi erst rausgeschnitten und dann als Partikel gezeigt. Wolf Schneider, www.connection.de
Dasselbe gilt auch für Info-Partikel, Nachrichten, Meme. Ein solches Partikel nur als Einzelnes zu betrachten, führt zu leicht in die Irre, wie der obige Cartoon zeigt. Im kleinen Ausschnitt des TV-Bildschirms ist rechts der Täter zu sehen, links das Opfer. Im größeren Bild ist es umgekehrt, die berühmte Täter/Opfer-Umkehr. Und es kann noch weitere, größere Kontexte geben, in denen dann doch wieder links der Täter ist, der hier vielleicht als vor seiner Strafe fliehend gezeigt wird. Die Holon-Theorien von Arthur Koestler und Ken Wilber zeigen eine Hierarchie von immer größeren Ganzheiten, Holons genannt. Die alles umfassende Ganzheit wäre dann die der mystischen Wahrnehmung, in der es kein gut oder schlecht mehr gibt. Davor aber gibt es sehr wohl Ebenen, in denen Täter und Opfer, gut und schlecht eine Rolle spielen und legitime, wertende Zuweisungen sind.
Dem nur gegen »die Medien« gerichteten Vorwurf im obigen Bild stimme ich so nicht zu. Unsere Wahrnehmung ist es, die uns durch verkleinerte Ausschnitte irren lässt, das machen nicht erst die Medien mit uns. Dass Medien durch bewusst oder unbewusste gewählte Ausschnitte Interpretationen suggerieren können, sollte uns nicht dazu verleiten, sie in Bausch und Boden zu verurteilen. Ein solches Urteil manipuliert ja auf der derselben Ebene wie die damit angeklagten Medien, es hat also mindestens einen Splitter im eigenen Auge, manchmal einen ganzen Balken.
Ich meine, dass eine Holon-Theorie der Kontexteinbettung von Nachrichten für unsere Mediennutzung und -produktion dringend notwendig ist und einen ebenso großen Fortschritt brächte, wie die Ökologie es für die prä-ökologische Biologie war.
Safety Third, Lebendigkeit First
Allmählich beschäftigen sich auch unsere großen Medien mit den Schäden der Corona-Zeit. Dazu lässt sich viel sagen, auch hier im Blog habe ich das gelegentlich getan. Hierzu jetzt nur einen Link zu Charles Eisensteins Rückblick auf die Corona-Jahre, in dem er auf das menschliche Sicherheitsbedürfnis fokussiert. Safety first, das wird meist so unreflektiert einfach hingeworfen, als sei es eine unumstößliche ethische Maxime. Mit seinem Essay »Safety Third« (hier auf deutsch) hält Eisenstein dagegen und behauptet: »Wir leben in einer Kultur, die paradoxerweise den Tod gleichzeitig leugnet und zum Gegenstand des äußersten Grauens macht. Wir leugnen ihn, indem wir ihn hinter Euphemismen verstecken, indem wir ihn vor dem öffentlichen und privaten Auge verstecken, indem wir in sinnlosen Heldentaten das Leben Sterbender um wenige qualvolle Wochen oder Tage verlängern, wie um etwas Vermeidbares abzuwenden.«
Und er geht unserer Angst auf den Grund: »Das getrennte Individuum der modernen Selbstwahrnehmung erlischt mit dem Sterben. Das beziehungsorientierte, interdimensionale Selbst indigener Weltanschauungen ist dagegen nicht auszulöschen, da nur ein kleiner Teil des wahren Selbst stirbt. Für den modernen Geist, für das getrennte Selbst, ist der Tod eine endgültige und unaussprechliche Katastrophe, zu schrecklich, um ihm ins Gesicht zu sehen. Natürlich werden wir da besessen von Sicherheit, als könne sie uns Mut machen, dass mit der richtigen Vorsorge die ultimative Tragödie niemals einzutreffen braucht.«