Lieben heißt: alles lieben

 In FEATURED, Peter Fahr, Philosophie, Spiritualität

Die Existenz des Menschen ist ein Mysterium. Wir sind in die Zeit geworfen und sehnen uns nach Ewigkeit. Wir sind endlich und verwundbar, doch als Liebende fähig zum Glück. Die Liebe nährt und tilgt Schuld, sie ermöglicht Leben, denn dieses ist sowohl das Einzelne wie das Ganze: Leben ist alles.  Peter Fahr

Kinder begnügen sich mit der sinnlosen Existenz. Jugendliche glauben, jemand werden zu können. Erwachsene versuchen anzunehmen, was sie sind. Betagte erfahren die Vergänglichkeit allen Seins. Greise vertrauen dem Nichts.

Der Jugendliche solidarisiert sich im Konflikt mit der Erwachsenenwelt mit seines­gleichen. Das Mittelalter splittert sich auf in Individuen – der erwachsene Mensch distanziert sich vom Anderen. Die Alten sehen ein, wie nichtig jedes Kämpfen ist, verbrüdern sich mit Jugendlichen und Erwachsenen und sind gerade deshalb einsam.

Die Jungen sind durchdrungen von einer Sehnsucht, die heiter ist, da sie in die Zu-kunft weist und Erfüllung verspricht. Die Alten schauen zurück auf gelebtes und ungelebtes Leben, sie verzehren sich in einer melancholischen Sehnsucht, die verheißt, was sich nicht in Vergangenem erschöpfen kann: das Mysterium des Menschen.

Das Leben ist ein Karussell. Nur selten steht es still und dann auch nur deshalb, weil junge Menschen zu- und alte aussteigen. Diese Verschnaufpausen sind zugleich ersehnt und gefürchtet. Einerseits sehnen wir uns nach ihrer Ruhe und Melancholie, andrerseits fürchten wir ihre Leere und Ereignislosigkeit. Dennoch sind die Augenblicke, in denen das Karussell stillsteht, die intensivsten überhaupt – viel ergreifender, verwirrender, beglückender noch als die ungezählten der schnellen Fahrt. Sie machen die eigentliche Existenz aus und tragen die Ewigkeit in die Zeit.

Menschlichkeit

Leid und Schmerz führen aus der Gruppe in die Vereinzelung, aus der Funktion in die Irritation, aus der Beliebigkeit zum Wesentlichen, kurz: die bewusste Empfindung von Leid und Schmerz läutert das Ich. Diese reinigende Befreiung offenbart das Wunderbare. Indem du es wahrnimmst, erfährst du den Sinn des Lebens – die Überwindung des Einen und die Erfahrung des Ganzen, das heißt die Liebe.

Toleranz ist eine Form der Selbstachtung, sie erkennt und anerkennt das Ich im Du. Gegenseitige Toleranz öffnet die Schleusen von Mitgefühl und Liebe, sie vereint uns zum furchtlosen Wir.

Es ist unerheblich, ob wir zufrieden oder unzufrieden sind. Worauf es ankommt, ist die Intensität der wohlwollenden Gefühle, die wir für die Menschen und Tiere empfinden. Es geht um die Herzlichkeit, mit der wir ihnen begegnen, um das Verständnis, das wir für sie aufbringen, um den Respekt, den wir ihnen entgegenbringen. Was zählt, ist die Bewahrung der Menschlichkeit in einer oft unmenschlichen Welt, die dem Einzelnen meist versagt, was er so bitter nötig hätte: Aufmerksamkeit, Anteilnahme, Anerkennung. Das Kostbarste im Leben ist die Liebe, die wir empfinden und zum Geschenk machen. Diese verschenkte Liebe macht uns glücklich.

Als Folge der Erkenntnis von Ungerechtigkeiten, beim Anblick von ungerechten Handlungen und im eigenen Erleben von Unrecht empfindet der liebende Mensch Wut, die in positiven Gegen-Taten ihren gültigen Ausdruck findet. Wut als aufbau­endes Gefühl, das nicht mit Hass verwechselt werden darf. Wer liebt, kann nicht hassen.

Ein Vorwurf, auch der Selbstvorwurf, ist kein Zeichen von Stärke oder Schwäche, sondern offenbart einen Mangel an Liebesbereitschaft. In Vorwürfen verzehrt sich der Hassende. Wer liebt, schafft Entwürfe.

Zärtlichkeit

Die Gewissheit geliebt zu werden, macht weich wie ein tiefes Wasser und stark wie ein kräftiger Wind.

Ohne Liebe ist die Existenz kein Leben. Zur Liebe gehört Körpernähe, zur Liebe gehört Zärtlichkeit.

Zärtlichkeit ist ein Vielleicht, Leidenschaft ein Ja oder Nein. Zärtlichkeit ist ein Schenken, ein Verletzlichsein, ein Sichausliefern; Leidenschaft ist ein Fordern, ein Verletzen, ein Erobern. Zärtlichkeit ist Gegenwart, Leidenschaft will Künftiges. Zärtlichkeit ist Sein, Leidenschaft Schöpfung.

Die Suche nach Zärtlichkeit, Geborgenheit und Liebe ist verständlich, aber zum Scheitern verurteilt. Was zählt, ist unsere Liebesbereitschaft: sie befähigt, Anderen zu schenken, was uns selbst fehlt.

Erhaltenes Vertrauen macht stark. Es ist der Saft, der durch den Stamm in die Äste fließt und Früchte reifen lässt. Erhaltenes Vertrauen verleiht Tatkraft. Es ist der letzte Grund für jede Bewegung.

Geistige, seelische und körperliche Aufrichtigkeit ist schwer zu lebende Wirklichkeit, die den Willen und die Kraft zur Selbsterniedrigung, Großmut und die Fähigkeit zum Verzicht voraussetzt. Aufrichtigkeit ist Ausdruck von Liebe.

Zweifel

Liebende sind Autodidakten und Dilettanten.

Die Erstlingsliebe gleicht dem Ei mit seiner runden abgeschlossenen Form, sie ist Zitadelle und warme Höhle, in der es uns an nichts fehlt. Nahrung ist reichlich vorhanden und schwaches Licht dringt ins Innere. Doch eines Tages bricht die Schale, wir sind der Sicherheit entwachsen. Das Glück bricht, weil das Leben ausschlüpfen muss.

Lieben heißt: zweifeln, den festen Boden verlassen und mit beiden Beinen im bewegten Wasser stehen, heißt: wagen, sich wagen, sich ganz und gar geben, sich nehmen, heißt: leidenschaftlich werden und ängstlich, heißt: Mensch sein.

Verliebtsein gibt – Liebe gibt und fordert.

Die Liebe zu einem Menschen schützt nicht vor seiner Eigenart. Gerade jene, die wir am innigsten lieben, verletzen uns am stärksten. Das Leid, das die Geliebten den Liebenden zufügen, ist nicht selten der Beweis für den tiefen Sinn ihrer Beziehung. Im schmerzlichen Gefühl erkennen die Liebenden, dass es sich lohnt zu lieben.

Die Liebe wandelt sich ständig. Ihre Entwicklung birgt sämtliche Möglichkeiten in sich. Alle endlichen Geschichten machen ihr unendliches Wesen aus. Die Liebe hat keine Eile, sie rechnet nicht in Stunden, Minuten und Sekunden. Die Liebe begnügt sich mit der Ewigkeit.

Alles dreht sich um die Liebe und die Liebenden tanzen mit dem Tod. Denn nur er verleiht der Liebe das Gewicht, das sie haben muss, wenn sie aufrichtig ist.

Verwandlung

Daß zwischen den Menschen trennende Spiegel stehen, ist eine existentielle Gegebenheit. Die Reflexion der Spiegel und der Blick durch sie hindurch macht uns zu dem, was wir sind: Individuen. Wir sind einzigartig und darum einsam. Für diese Einsamkeit werden wir jedoch entschädigt, denn gerade die Einzigartigkeit des Einzelnen ermöglicht den Dialog von Mensch zu Mensch. Und der Dialog ermöglicht die Liebe. Wer aber den Spiegel durchschreitet, verliert seine Einzigartigkeit und damit die Möglichkeit zur Liebe.

Die Liebe gleicht dem Vogel, den du fütterst: willst du ihn fangen, entwischt er – lässt du ihn frei, kehrt er zurück.

Wer an das Märchen vom bewährten Gleichgewicht der Kräfte glaubt, ist selbst schuld. Zwei Ringe machen aus einer Liebesbeziehung nichts Statisches. Die Beziehung ist eine Arena, in der zwei Menschen das Abenteuer der Liebe bestehen. Die Kämpfe, die die Liebenden miteinander ausfechten, haben harmlose Namen wie Achtung, Dialog, Treue, Toleranz, Versöhnung, Freiheit und Verantwortung. Es geht nicht auf Leben und Tod und dennoch ums Ganze. Denn es geht in jedem Augenblick um die Würde und die Selbstwerdung beider Beteiligten.

Wer annimmt, Paare in langjährigen Beziehungen verfielen unweigerlich dem Trott, irrt gewaltig. Nur Paare, die offen für neue Entwicklungen sind; die über den eigenen Schatten springen und sich auf Kompromisse einlassen; die sich hinterfragen und bereit sind, Meinungen zu ändern; die auch mitfühlend und selbstlos sind – nur solchen Paaren gelingt es, lange und seelisch erfüllt zusammenzubleiben. Ohne den Mut zu Veränderung und Verwandlung gibt es keine wahre Treue, keine ausdauernde Liebe.

Sühne

Liebe ist nicht nur ein Gefühl, sie ist vor allem eine Geisteshaltung.

Liebe kann nicht Hilfe sein. Sie ist Beistand, Dasein, Annahme.

Mitleid tröstet, Liebe heilt.

Wo die Sprache scheitert, beginnt die Liebe. Liebe ist stumm und tätig.

Die Liebe ist das Tor zum Anderen in uns selbst.

Die Liebe fordert Teilnahme am Bestehenden, Hingabe ans Vergängliche und Ver-trauen ins Kommende.

Liebe als Sühne für eine Schuld ohne Ende. Und gleichzeitig macht jede Liebe sich schuldig am Ganzen, da sie sich an Einzelnes verschenkt. Die Trauer der Liebenden rührt daher, dass Liebe zum Ganzen unmöglich, weil religiös, ist. Da, wo sie trotzdem vorgibt, umfassend zu sein, wird sie zum Gebet. Aber Gebet ist nicht Leidenschaft. Und Liebe ohne Leidenschaft ist ein Vergehen.

Lieben heißt handeln. Doch jede Tat birgt den Keim der Schuld in sich, die da auf-schießen muss, wo wir menschlich werden. Liebe ist menschlich. Liebe nährt und tilgt Schuld, sie ermöglicht Leben, denn dieses ist sowohl das Einzelne wie das Ganze: Leben ist alles.

Lieben heißt: alles lieben.

 

Kommentare
  • Volker
    Antworten

    Es ist unerheblich, ob wir zufrieden oder unzufrieden sind.

    Völlig unerheblich, reine Zeit- und Kraftverschwendung, Pillepalle halt. Somit wäre es ebenso unerheblich, ob wir glücklich oder unglücklich sind, sollten uns wohl höhere Ziele stecken, uns nicht in menschlichem Pillepalle verlieren.

    Die Suche nach Zärtlichkeit, Geborgenheit und Liebe ist verständlich, aber zum Scheitern verurteilt. Was zählt, ist unsere Liebesbereitschaft: sie befähigt, Anderen zu schenken, was uns selbst fehlt.

    Voll krasse Aussage: Der Suchende nach Glück ist zum Scheitern verurteilt, was zählt, ist zu schenken, was wir selbst nicht empfinden. Ein Widerspruch in sich, aber naja …

    Geistige, seelische und körperliche Aufrichtigkeit ist schwer zu lebende Wirklichkeit, die den Willen und die Kraft zur Selbsterniedrigung, Großmut und die Fähigkeit zum Verzicht voraussetzt

    Selbsterniedrigung und Verzicht, gestärkt durch die Kraft des Willens in Demut – mir fehlt wohl die nötige Reife zur Reifeprüfung.

    Habe staunend zu Ende gelesen, verzichte auf weitere Kommentierungen, da haltlos überfordert im Nichtverstehen komplexer Mechanismen, die, ich wage anzumerken, der Autor selbst wohl nicht versteht.

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