Nichts vergeht – alles verändert sich
Den Skandal der eigenen Sterblichkeit empfinden wir gewöhnlich erst im Alter in seiner ganzen Tragweite. Wir begegnen dem Tod der Anderen und begreifen die Kürze unseres Lebens. Die Sinnfrage treibt uns um. Der Poet und Schriftsteller Peter Fahr ergründet die Geheimnisse von Altern und Sterben, Leben und Tod, sichtbarer und unsichtbarer Existenz. Peter Fahr
Mein Leben kommt mir oft vor wie eine mörderische Bahnfahrt. Ich sitze in einem Zug, der durch die Landschaft rast, schnell und immer schneller. Die Bahnhöfe flitzen an meinem Fenster vorbei, ohne dass ich die Namen der Ortschaften entziffern könnte. Die Tage fliegen dahin, die Wochen, die Monate, die Jahre – der Zug donnert über die vibrierenden Eisenstränge, schneller und immer schneller. Ich bin fiebrig und müde, die Augen brennen, ich habe Kopf-, Hals- und Gliederschmerzen, mein Atem geht stockend. Unruhig stehe ich am Fenster und versuche vorübersirrende Augenblicke festzuhalten. Vergeblich. So geht das eine Zeit, bis ich die Notbremse ziehe oder der Zug in einer Kurve aus den Schienen springt. Dann steht alles still. Ich entsteige dem höllischen Gefährt, sehe mich neugierig um. Ich genieße den Blick in die ruhende Landschaft und stelle fest, wo ich mich befinde. Doch schon sitze ich wieder im Zug, der durch die Landschaft rast, schnell und immer schneller …
Du bist jung, neugierig und zuversichtlich, du wagst das Leben und folgst deiner Bestimmung, du ergreifst einen Beruf, baust ein Haus, gründest eine Familie. Und plötzlich, wirklich plötzlich bist du fünfzig. Dein Haar ist ergraut, das Erträumte wurde kaum verwirklicht, das Ersehnte nicht erreicht. Du bist alt. Wehmütig schaust du auf die vergangenen Jahre zurück und erwartest ängstlich die kommenden. Die Zeit verrinnt, du kannst sie nicht fassen, alles vergeht und du begreifst, auch du wirst vergehen.
Jeder Tag verlängert und verkürzt zugleich dein Leben.
Altern: Die Körperkraft schwindet – die Geisteskraft bindet.
Zügellose Lust, mir gemäß zu altern.
Die Hingabe
Der langwierige Prozess des Alterns beginnt bei der Zeugung und reicht weit über das Sterben hinaus. Plakativ formuliert: das Kind und der Jugendliche nehmen diesen Prozess bei den Erwachsenen wahr, doch der Mensch um die Lebensmitte herum wird sich seiner auch intellektuell bewusst und bezieht ihn auf sich selbst. Trotzdem wird weiterhin von Wachstum und Reife gesprochen, statt vom Altern. Denn der Begriff des Alterns bezeichnet das, wovor wir uns fürchten – unser existentielles Ausgerichtetsein auf den Tod.
Wenn du älter wirst, verlierst du den Bonus der Jugend und den Kredit des mittleren Alters. Du wirst kritischer beurteilt, du hattest schließlich genügend Zeit, Erfahrungen zu sammeln und dich zu einem reifen Zeitgenossen zu entwickeln. Nun sollst du dich möglichst abgeklärt benehmen. Hast du die Fünfzig überschritten, kannst du kein Mitgefühl mehr erwarten, kein Mitleid und keine Gnade. Nun soll dein Gemüt ausgeglichen, dein Denken vernünftig und dein Handeln angemessen sein. Was dir mit zwanzig zugestanden wird, wird dir mit fünfzig vorgeworfen. Du bist dieselbe Person, doch du wirst anders wahrgenommen. In den Augen der Anderen hast du dich verwandelt. Deine einstigen Vorzüge und Qualitäten haben sich in ihr Gegenteil verkehrt, deine Eigenarten sind zu charakterlichen Mängeln geworden. Nun bist du plötzlich kein vielversprechendes Talent mehr, sondern ein Wochenenddichter; kein Liebhaber mehr, sondern ein Ehemann; kein Rebell mehr, sondern ein Spießer. Nun ist dein Leichtsinn von einst Überheblichkeit, deine Neugierde Indiskretion, deine Aufrichtigkeit Aufdringlichkeit, deine Großzügigkeit Verschwendungssucht, deine Beharrlichkeit Sturheit, deine Leidenschaft Lüsternheit, deine Zivilcourage Naivität, deine Toleranz Gleichgültigkeit. Und du musst damit klarkommen und dir deine Selbstachtung erhalten. Jetzt geht es darum, dich endlich und endgültig von den Urteilen der Anderen zu emanzipieren und die Aner-kennung, die Wertschätzung der eigenen Person in dir selbst zu finden.
Da ist einerseits das erschütternde Gefühl des Älterwerdens. Die Vergänglichkeit schlägt Wunden, die nicht ausheilen. Was vergeht, bleibt als Verletzung. Was stirbt, lebt als Erinnerung. Was mich in die Einsamkeit führt, vereint mich mit dem Schmerz. Altern heißt, sich seiner Unmöglichkeiten bewusstzuwerden. Und da ist anderseits das erhebende Gefühl des Älterwerdens. Die tröstliche Empfindung des Loslassens. Die Hingabe ans Unabänderliche. Das Verwehen der Zeit als Quelle der Zufriedenheit. Die befreiende Gewissheit: nichts vergeht, alles verändert sich.
Die Liebe
Der wahre Charakter eines Menschen offenbart sich in seiner Lebensmitte. Zwischen vierzig und sechzig wird einem nichts mehr geschenkt. Wir haben uns endlich als vollwertige Mitglieder in die Gemeinschaft eingefügt und werden vielleicht gerade deshalb zurückgeworfen auf uns selbst. In der Jugend und im Alter fällt verantwortliches Handeln vergleichsweise leicht, da wir in diesen Lebensabschnitten noch nicht oder nicht mehr in der gesellschaftlichen Pflicht stehen. In der Lebensmitte aber, in der wir unser Menschsein unter erschwerten Bedingungen zu bestehen haben, zeigt sich unsere wahre Verantwortlichkeit: Mitgefühl, Güte und Zivilcourage – oder ihr Gegenteil.
Je älter und hinfälliger ich werde, desto verdächtiger werden mir Stärke, Erfolg, Macht. Je näher ich dem Ende meines Lebens komme, desto wesentlicher werde ich – wahrhaftiger, selbstkritischer, demütiger. Stärke, Erfolg und Macht entblößen mein eigentliches Wesen, das schwach, erfolglos, ohnmächtig ist. Der nahende Tod verheißt meine Vergänglichkeit. Diese Verheißung entlarvt das lebenslange Streben nach Größe. Ich bin klein. Dies anzunehmen, gelingt immer besser.
Allmählich komme ich in das Alter, in dem man drei Generationen überblickt – jene der Eltern, die eigene und jene der Kinder. Da wird vieles relativ. Die Erfahrung macht menschlich. Man versteht und die Kraft zu lieben wird bestimmend. Das Urteil trifft nicht mehr die Anderen, sondern die eigene Person. Und dann ist man so weit, das Urteilen ganz zu lassen.
Das Zauberwort des Alters heißt Versöhnung.
Das Lachen der Alten vermindert die Falten.
Der Blick durch den Spiegel setzt den Blick in den Spiegel voraus, in dem eine Grunderfahrung der Mystik anklingt, die im Satz „tat tvam asi“ aus den Veden ausgedrückt ist: „Das bist du!“ Ohne Selbsterkenntnis keine Erkenntnis des Anderen – und umgekehrt. Der Blick durch den Spiegel entmachtet das Ego und öffnet das Ich für das Du, das heißt für die Liebe.
Der Wert
Jede Identität ist eine Gefangenschaft, sie trennt uns von den Anderen, von der Welt. Ohne Identität keine Biografie – das Leben macht uns zwangsläufig zu Gefangenen. Erst der Tod befreit uns von unserer Identität, entlässt uns aus der Gefangenschaft. Erst im Tod werden wir eins mit allem. Natürlich kenne ich die Sehnsucht nach diesem Aufgehen im Ganzen. Meine Todessehnsucht erwacht, wenn ich aufhöre, an die rettende Kraft des Lebens zu glauben. Wenn ich es aufgebe, an die Erneuerung zu glauben. Das Tote ist starr, nur was lebendig ist, verändert und entwickelt sich. Das Lebendige ist dem steten Wandel unterworfen. Wer sich nicht mehr bewegen lässt und selbst nicht mehr bewegt, hat ausgespielt.
Die bewusste Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit der Ereignisse – seien sie nun körperlicher, seelischer oder geistiger Natur – ist die Voraussetzung für das Einssein mit sich selbst, den anderen Menschen und der Welt der Phänomene. Dieses „All-Bewusstsein“ vereint Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, es überwindet das Zeitliche. Ich falle sozusagen aus der Zeit. Diesem Zustand des Aufgehobenseins in allem verdanke ich einen Blick ins Jenseits, in dem Zeit und Raum inexistent sind. Im Jenseits verflüchtigt sich das Ich. Und ich bin, ohne zu sein.
Der Mensch: ein Windstoß über weitem Land.
Es gibt nicht das Leben, es gibt nicht den Tod. Es gibt Milliarden Leben und Milliarden Tode. Der Mensch hat sein eigenes Leben, seinen eigenen Tod.
Der Tod ist würdevoll und still, auch wenn er lärmend einhergeht. Der Lärm verhallt, sobald seine Hand uns berührt. Sein Blick aus dunklen Augen ist ein schützender Mantel. Der Tod kommt als Freund, wir können ihm vertrauen.
Wie ein Kuss gestorben sein. Verloren wie der Wind, wie das Wort gesprochen sein. Und zu fühlen, groß ist der Tod.
Ich versuche, die immaterielle Existenz der Verstorbenen zu einem Teil meines geistigen Lebens zu machen. Wer die Toten verdrängt, verliert die Lebenden. Denn nur die Aussöhnung mit dem Tod ermöglicht die Liebe.
Der Tod, so sagt man, relativiere alles, er sei der große Zerstörer – er ersticke die Zuversicht, die Hoffnung, das Glück. Aber ist das wirklich der Fall? Verleiht der Tod dem Leben nicht seine Intensität, der Liebe nicht ihre Größe, der Freude nicht ihre Tiefe? Der Tod relativiert nichts, er gibt allem seinen Wert.
Der Sinn
Das Lebendige und das Tote. Der Gedanke, dass alles Natürliche und Kreatürliche vom Abgestorbenen lebt, hat etwas Tröstliches. Das Materielle nährt sich vom Toten. Der Mensch stirbt, wird in die Erde gelegt, zersetzt sich, vereinigt sich mit der Erde. Aus der Erde steigt Wasser auf, wird zur Wolke, aus der Wolke regnet es auf die Erde. Aus der bewässerten Erde sprießen Pflanzen und drängen zum Licht – Blumen, Büsche und Bäume, an denen Früchte heranreifen, die als Nahrung dienen. Ein ewiger Kreislauf von Leben und Tod.
Das Lebendige und das Tote sind eins: was lebt, wird sterben – was stirbt, wird leben. Der Mensch ist ein Teil des Ganzen und als solcher den Verwandlungen von Leben und Tod unterworfen. Im Natürlichen verwandelt sich das Tote, im Toten verwandelt sich das Natürliche. Dies ist der Kreis von Geburt und Tod.
Der fließende Augenblick ist das Leben, der stehende der Tod. Was sich verliert, ist das Leben, was sich findet, der Tod. Sterben ist das Leben, Gestorbensein der Tod. Oder bedeutet sterben geboren werden? Ist der Tod neues Leben? Dann wäre der Tod eine Illusion und das Leben alles und grundlos die Angst. Das wäre schön.
Es gibt eine sichtbare und eine unsichtbare Welt. Ist das Sterben der Übergang von der einen zur anderen? Ist das Leben die materielle Existenz und der Tod die geistige? Dann wäre das Leben lächerlich und der Tod erhaben und grundlos jede Angst. Das wäre schön.
Der Tod beschäftigt nur den Lebenden, das Ich. Sobald ich sterbe, ist es egal, ob ich lebendig oder tot bin. Der Tod ist eine andere Daseinsform meines Lebens – und umgekehrt. Leben und Tod relativieren einander. Das bedeutet, dass „Sein oder Nichtsein“ keine Kategorie der Angst sein kann.
Im Zentrum der Materie hockt der Geist. So ist die Wirklichkeit nichts als ein Polster. Was wirklich zählt, ist das Geistige. Alles, was lebt, ist geistig zentriert, das heißt immateriell. Auch der Tod gehorcht dem geistigen Impuls. Geburt, Leben, Sterben und Tod sind geistgesteuerte Verwandlung. Wir erleben diese Stadien des Wandels materiell, doch sie sind geistig eins. Vergangenheit, Gegenwart und Zu-kunft bilden die Ewigkeit und sind ebenfalls geistig eins. Alles ist eins, eins ist alles.
Wir sind nicht der Fluss, wir tragen das Meer in uns.
Der Tod ist nicht das Echo des Lebens, sondern seine Antwort. Erst der Tod gibt dem Leben die gültige Form.
Der Sinn des Lebens ist der Tod.