Schlichtheit

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche, Monika Herz, Philosophie, Spiritualität

Was zählt noch, wenn es dem Ende entgegen geht? Wenn die Welt, die wir bewohnen, immer kleiner wird und wir uns nach und nach von allem verabschieden müssen, was unser Leben ausgemacht hat? Der Chansonier Jacques Brel sang in seinem Lied “Les vieux” (Die Alten): “Ihre Welt ist zu klein: vom Bett ans Fenster, dann vom Bett zum Sessel und schließlich vom Bett zum Bett.” Die Autorin erlebte das Sterben ihrer Mutter in einem Altenheim. Es ist eine traurige Geschichte, aber auch eine von Würde und überraschenden Lichtdurchbrüchen. Ungefähr zeitgleich besuchte sie ein “Märchen-Council”. Und zur Sprache kam: “Die Sterntaler” – auch eine Geschichte vom Loslassen alles Irdischen, auf dem ein Segen ruht. Was zählt letztlich? Wohl vor allem, ob noch jemand da ist, der bei dir ist, bis du hinabsinkst – oder aufsteigst… Monika Herz

 

Draußen wird es blau
Komm mit mir mein Himmelswolf
Die Sonne wartet

Ich möchte gesehen werden. So begann unser Märchen-Council gestern Abend per Zoom. Dieses Zoom, ich trau mich ja immer noch nicht, einzuladen. Aber passiv mitmachen, das klappt inzwischen ganz gut. Die ersten 10 Minuten vergingen, bis alle die Funktionen verstanden hatten. Geübte können es dann in immer kürzerer Zeit. So ist das immer und überall. Stimmt das, was ich hier behaupte? Dass Üben dazu führt, dass man dann etwas schneller und leichter kann? Was für eine Frage!

Marianne leitete unser Märchenstunde mit dem Wort „Schlichtheit“ ein. Bei unseren Märchen-Councils machen wir es immer so, dass eine von uns sechs Frauen die Gastgeberin ist, die Kerze anzündet, und ein Wort oder ein Thema „in den Hexenkessel“ wirft. Also in den Raum. Schlichtheit. Das Gefühl von Schlichtheit beim Anblick des Sarges meiner Mutter. Das war der Ausgangspunkt. Wie berührend diese Schlichtheit gewesen sei.

Gisela erzählte das Märchen von einer Quelle, die nur eine einzige kleine Blume speiste. Als die Blume herangewachsen war, fragte sie die Quelle, warum sie nicht ebenfalls angewachsen sei, ob sie denn die Verwüstung ringsum nicht sehe, die überall nach Wasser dürste. Die Quelle antwortete, aber ich weiß nicht mehr was.

Nur für dich leben….

Die Quelle hatte nur für diese eine Blume gelebt. Die Blume aber hat zunächst nur für sich selber gelebt. Sie hat niemanden gespeist. Bis sie herangewachsen war. Dann hat sie die Quelle erfreut.

Wo bin ich? Seitdem mir dieser junge braungelockte Mann am Guggenberg begegnet ist… Oh, draußen wird es rosa, Komm wir gehen, jetzt! Himmelswolf! Raus! Raus! Die erste Medizin lautet: Raus in die Natur! Jeden Tag! Natur heilt!

Meinem Arzt gegenüber spreche ich ja nicht von Himmelswölfen, sondern von einem vorgestellten Hund, mit dem ich jeden Tag raus geh. Und dass so ein imaginärer Hund ziemlich praktisch ist, braucht keinen Platz, kostet kein Geld. Und ist genauso treu. Man muss nur besser zuhören, damit man versteht, dass er jetzt wirklich unbedingt raus will. Dass er heute noch nicht draußen war.

Wo bin ich? Ach dieser junge Mann, dieser autistische Sonderling, mit dem ich mich so gut austauschen konnte… Also seither frage ich mich allen Ernstes, ob ich vielleicht nicht auch so eine bin. Eine Aspi. Das würde so manches erklären.

Zum Beispiel warum ich eine Scheu vor größeren Menschenmengen hab. Was ist „größer“? Mehr als Sechs. Wenn es lauter Vertraute sind, wie etwa die engste Verwandtschaft, dann geht auch 30 oder vielleicht 70. Oder 100. Also eine Hochzeit. Das geht. Da bin ich zwar furchtbar nervös. Aber weil ich die meisten Leute kenne, deswegen geht es.

Wo bin ich? Oder diese Orientierungslosigkeit. Die ist bei mir wie angeboren, ich kann mich in großen Städten eigentlich nur sehr eingeschränkt bewegen. Ich verliere sofort die Orientierung. Insofern bin ich froh, dass es jetzt Navis gibt. Aber wenn es sagt: Gehen Sie nach Westen, dann hilft es mir trotzdem erstmal nichts. Wo ist Westen mitten in Berlin?

Wo bin ich? Raum ist mir ein Rätsel. Was ist Raum? Mit der Zeit komm ich besser zurecht, als mit dem Raum. Ich befinde mich auf einer Zeitlinie. Hinter mir die Vergangenheit, sie war wie sie war. Gestern das Märchencouncil und noch weiter zurück: Als die Mutter noch lebte, die letzten Besuche oder kurz nach ihrem Tod, dieser gespenstische Faschingsumzug… vollkommen ohne Menschen. Nur wir zwei. Roland und ich. Unsere Vision von den Friedensreich-Siedlungen… Was geht nur in unseren Köpfen vor?

Wo will ich hin? Jetzt, wo die Mutter auch noch gestorben ist. Zuerst der Vater, vor 17 Jahren schon. Zum Glück geht es mir nicht wie dem Mädchen im Märchen: Und es hatte kein Kämmerlein, um darin zu wohnen, kein Bettchen, um darin zu schlafen und endlich nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stück Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte.

Obdachlos! Und jetzt kommt der Schlüsselsatz dieses extrem kurzen Märchens, das übrigens Jakob Grimm aufgeschrieben haben soll, während „Hans im Glück“ eher seinem Bruder Wilhelm Grimm zugeschrieben wird. „Hans im Glück“ und „Die Sterntaler“ haben eigentlich den gleichen Inhalt. Aber die Sterntaler ist berühmter geworden, glaub ich. Einmal erzählte ich das Märchen (in Englisch!) einem Indianer in Süddakota und er kannte es.

Der Schlüsselsatz: Es war aber gut und fromm. Was heißt das? Fromm? Was ist das? Hört sich furchtbar veraltet an. Die Mama, die Oma, die war fromm. Eine fromme Seele.

Wo will ich hin? Schlichtheit. Gestern unser Council. Was ein Council ist? Da sitzen ein paar Leute zusammen und reden, was gerade Sache ist. Aus dem Herzen heraus. Wie geht das? Wie spricht jemand aus dem Herzen heraus und wie merkt man, ob das wirklich aus dem Herzen kommt oder ob es eine vorgetäuschte Kopfgeburt ist? Gisela, unsere Märchenspezialistin, erhebt die Stimme: Wer von uns will denn wirklich schlicht leben? Wer will denn wirklich so leben? Wollen wir nicht lieber darüber sprechen, möglichst klug, versteht sich. Aber das auch tun? Schlicht leben? Wollen wir wirklich wie das Mädchen auch noch das letzte Hemd verschenken – oder wie der Hans im Glück uns ständig bescheißen lassen, immer wieder etwas Wertvolles gegen etwas weniger Wertvolles eintauschen?

Wir sind ratlos. Ich auch. Noch einmal komme ich auf das Sterben meiner Mutter zurück. Wie sie immer schwächer wurde. Wie sie gegen Ende ihrer Zeit sagte: Ich bin mit allem zufrieden. Oder: Ich rege mich über nichts mehr auf. Und: Auch über Geld reg ich mich nicht mehr auf. Ich hab einmal viel Geld gehabt und hab doch nichts damit anfangen können.

Wie sie am letzten Abend dann schließlich ihre Hand fallen ließ, als ich ihr sagte: Mama, du wirst das Gefühl haben, als würdest du fallen, aber du wirst aufsteigen. Du wirst hochgehoben werden, wie ein kleines Kind auf den Arm der Mutter. Und sie werden da sein, alle, und du wirst spüren, wie sie dich mögen und es wird schön sein. Und wie ich spürte, dass sie es verstand… Wir hatten gelegentlich darüber gesprochen, wie es wohl sein wird, zu sterben. Du wirst danach vielleicht zurückkommen in die Familie, sagte ich. Schau dir deine Enkelkinder an, du kannst zu jedem kommen und dort Wiedergeburt nehmen. Wir werden sehen…

Ich kann es auch nicht mit letzter Gewissheit wissen, was da sein wird. Das Ungewisse, sagte sie dann, das Ungewisse ist das, was Angst macht. Was gäbe es Ungewisseres als den Tod? Was kommt danach? Geht es weiter? Was bleibt? Ein schlichter Sarg. Ein Mandala. Ein Sterbebildchen. Ein Nachruf. Mama! Der Rosenkranz in den weißen Händen, den der Oli dir von Rom mitgebracht hat. Rom! Wo du nie warst! Du hast nie das Meer gesehen! Bist nie in einem Flugzeug gesessen… Das Sterbekreuz, das du damals bei der Hochzeit vom Pfarrer bekommen hast. Bis dass der Tod euch scheide. Dieses Sterbekreuz, das du über all die Zeiten hinübergerettet hast und das du fest in den Händen hieltest auf deiner letzten Reise in einem leblosen irdischen Körper im Sarg auf den „Heiligen Berg“ hinauf. Mit dem Segen des Papstes, den der Oli dir aus Rom mitgebracht hat, mit dem du jetzt in deinem Sarg liegst. Ach Mama…

Wo bin ich? Wie du sagtest: Jetzt kann ich gehen, ihr seid alt genug… und wie wir dann darüber lachen mussten.

Das Märchen-Council. Es klingt so banal. Aber das, was wirklich zählt, am Ende, sind das nicht doch unsere Beziehungen? Das hab ich gelernt von meiner Mama. Ob noch jemand kommt auf Besuch, wenn wir im Altenheim sind. Ob noch jemand da ist, wenn wir keinen Pfennig Geld mehr haben, wenn wir im Doppelzimmer untergebracht sind und wenn Streit um den Ablage-Platz auf dem Fensterbrett entflammen könnte, weil deine einzige Ablagefläche das Nachtkästchen mit den Maßen 35 x 50 cm ist. Ein Stuhl am Essplatz. Dazu noch ein Rollstuhl, zusammengeklappt zwischen Schrank und Bett. Das war’s. Kein Tisch. Ein Besucherstuhl für beide WG-Bewohner. Wenig Raum.

Was ist Raum? Wohnraum. Wieviel Quadratmeter braucht ein Mensch? Was sind das für Fragen? Wo bin ich? Was ist schlicht?

Meine Worte sind eine Interpretation dessen, was ich erlebt habe. Gisela hat vielleicht etwas ganz anderes gemeint, und ich habe gar nicht verstanden, was sie eigentlich sagen wollte, weil ihre Worte durch so einen Filter bei mir durchsickern, der jede Situation für mich passend zurechtzimmert. Sich Situationen zurechtzimmern. Ist das Raum?

 

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