Uwe und die junge Frau Maria 3/3

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

Uwe ist ein geistig behinderter junger Mann, ausgestattet mit einer wuchtigen Statur und einem sanften Gemüt. Der Erzähler dieser Geschichten-Reihe nahm ihn bei sich auf, nachdem die Städtische Behinderten-Einrichtung aus Kostengründen geschlossen worden war. Uwe betrachtet die Veränderungen, die sich seit einigen Jahren in unserem Lebensumfeld vollziehen, mit einem ganz eigenen, unverstellten Blick und reagiert gesünder auf sie als so mancher „Normale“. In dieser Geschichte lernen wir Uwes religiöse Neigung kennen – und erfahren, wie sich auch Religion den Effizienz-Erfordernissen einer globalisierten Welt anzupassen hat. Erster Teil der Geschichte hier und hier. Roland Rottenfußer

Uwes massiger Leib hatte Schwierigkeiten, sich nicht an den Kanten der über unseren Köpfen wie unter den Füßen spiralförmig hinablaufenden Stufen zu stoßen. Schließlich aber waren wir da: ein schmaler, schlauchförmiger, jedoch weit in die Tiefe führender Raum, der nur von einer Funzel im hinteren Bereich beleuchtet war – einem gelegentlich flackernden Kunstlicht. In einem solchen Ambiente war ich froh, dass ich mich nicht mitten in einem Horrorfilm, sondern in einer Realität befand, in der sich der Schrecken nur wohl dosiert und einigermaßen berechenbar offenbarte. Ein muffiger Geruch schien den gewölbten Wänden zu entströmen, und ich musste mehrmals heftig husten, wohl weil hier unten seit Menschengedenken niemand mehr Staub gewischt hatte.

Uwe folgte uns nur sichtlich ungern, denn er mochte dunkle Höhlen und jede Form von Enge gar nicht. Sie machten ihm Angst. Mein Freund war für sein seelisches Wohlergehen noch stärker als ich auf Licht und Weite angewiesen. „Blöde Rüpta!“ raunzte er. Und wieder: „Junge Frau Maria!“. Ich bugsierte ihn zügig an den Grabtafeln verstorbener Kardinäle und den edelsteingeschmückten, in Glassärgen modernden Skeletten vorbei, die wegen der spärlichen Beleuchtung hier zum Glück nur schwer zu erkennen waren. Ein einziges der Juwelen an den mit Goldfäden durchwirkten Brokat-Kleidern dieser Leichen hätte genügt, um Uwe und mich für Monate zu ernähren.

Und da saß sie, in einer kleinen Nische, die man von der Treppe aus noch nicht hatte sehen können. Nur von einer schummrigen Elektrokerze illuminiert und doch schön wie ein weißer Nachtschmetterling in einem schattigen Garten, der zufällig von Schein einer Straßenlaterne getroffen wird und kurz in einem verzauberten Licht aufleuchtet. Maria verströmte einen tröstlichen Segen, der sich Uwe und mir sofort mitteilte. Während ihr linker Arm das Jesuskind aufrecht hielt, senkte sich die rechte in einer Gebärde vollendeter Entspannung zu den Ankömmlingen herab. Ihr Blick war liebevoll auf das wissende Kind gerichtet. Und doch war er auch ganz nach innen gewendet, wo hinter den Augen der Jungfrau die Vorahnung von etwas unfassbar Traurigem vorüberzuziehen schien. Zugleich war da Einverständnis, wehrlose Hingabe an was auch immer kommen mochte.

Marias Knie waren etwas auseinandergefallen, so dass ihr kunstvoll gearbeiteter Faltenrock dazwischen eine Mulde bildet. Und schon war Uwe bei ihr und hatte seinen schweren Kopf in vollkommenem Vertrauen in den Schoß der Mutter gelegt, eines ihrer Beine Schutz suchend umschlingend. „Liebe junge Frau Maria!“, stieß er hervor und auf seinem Gesicht lag ein seliges Lächeln. So musste er schon als Kind den Kopf in den Schoß seiner Großmutter Martha gelegt haben. Die innige Gelöstheit dieser Szene übertrug sich unwillkürlich auf mich. Ich fühlte sogar körperlich eine Entspannung, die in sanften Wellen durch mich lief. Und meine Hand löste sich, wie sich auch meine Gesichtszüge lösten und weiteten im Nachlassen all der gedankengetriebenen Verkrampfung, die mich so lange gefangen gehalten hatte. Ich tauchte ein in ein verdichtetes Fluidum aus Segen und traurigem Glück. Für einen Moment war da nichts mehr, was ich hätte tun, leisten oder befürchten müssen. Maria war es, die ohne unser Zutun zu wirken und zu heilen schien.

Ich vergaß sogar, dass ich Agnostiker war. Denn ein Agnostiker weiß, dass er nichts weiß – ich wusste in diesem Augenblick nicht einmal mehr das. Und auch als „Glauben“ würde ich es nicht bezeichnen, was ich innerhalb der Aura der gütigen Mutter empfand. Glaube hätte ja auch wieder bedeutet, diesen Nebel aus ahnungsvollem Behagen mit Wortnägeln fixieren zu wollen. Es ging vielleicht überhaupt nicht darum, etwas Bestimmtes zu tun oder zu glauben. Vielmehr einfach da zu sein inmitten des durchdringenden, atmosphärischen Trostes, für den unser Abendland die Chiffre Maria gefunden hatte.

Ja, auch Traurigkeit fühlte ich, denn was hatten sie mit dir gemacht, Maria, du einstige Himmelskönigin, verehrt und goldbekränzt, um die stets – dem sternenumstandenen Mond am Nachthimmel gleich – ein Meer von Lichtern gewesen war, entzündet aus Liebe und grenzenlosem Vertrauen? Wie konnten sie dich hierher verbannen in diese Rumpelkammer, in diese vernachlässigte, schändliche Höhle aus Staub und Moder? Ich spürte Wut in mir hochsteigen, obwohl ich eigentlich ja ein Ungläubiger war. Als hielten mich unsichtbare Kindheits-Bande an diesem Urbild fest, an das ich nicht glaubte und das ich doch einer mir selbst unbegreiflichen Anwandlung von Treue wegen nicht geschändet sehen wollte.

Nur noch ein halb heruntergebranntes Teelicht bot sich meinem suchenden Auge dar. Und ich fand auch ein altes Feuerzeug, dem ich mit einiger Mühe und nach mehreren Versuchen einen Funken entlocken konnte. „Schau Uwe, wir zünden bei der jungen Frau Maria eine Kerze an. Es gibt leider nur noch eine. Die zünden wir für die Oma Martha an, für die Mama und ein bisschen auch für mich – ist das o.k.?“ Uwe schaut nur kurz beglückt zu mir herüber, nickte und versank dann wieder im Schoss der geliebten Mutter. Es brannte jetzt nur noch das Teelicht, denn die Elektrokerze war mit einem letzten Aufzucken endgültig erloschen.

Ein quäkender Alarmton weckte uns aus der Versunkenheit auf, aufdringlich in Intervallen seine unbehagliche Botschaft verbreitend. Jetzt sprach der Mann, der uns hier hinabgeführt hatte – ich hatte seine Anwesenheit schon vergessen, so wenig hob er sich vor dem schwarzen Hintergrund dieses Kellerlochs ab. Tatsächlich schien die Gestalt unserer Zufallsbekanntschaft alles Licht zu verschlucken, selbst das wenige, das ihn für Augenblicke in die Sichtbarkeit hob. „Ihr Freund sollte die Statue jetzt loslassen. Die Ordner kommen gleich runter, und es ist verboten, Kunstgegenstände zu berühren“, ließ sich seine Stimme vernehmen.

Ich packte Uwe behutsam an der Schulter und zog ihn mit gutem Zureden von Maria weg. „Das ist hier verboten, Maria anzufassen, Uwe. Weil, wenn das jeder macht, dann reibt jeder ein Stück von ihr ab, sie wird immer kleiner, und in tausend Jahren ist dann nichts mehr von ihr übrig.“ Der Mann blinzelte mir in Anbetracht dieser etwas exzentrischen Erklärung zu. Er lächelte aber eher gezwungen mittels einer fast unmerklichen Verzerrung seines schmalen Mundes, wobei seine Augen ohne Glanz blieben.

Ein Ordner erschien am Treppenabsatz und leuchtete uns mit seiner Taschenlampe ins Gesicht: „Ist alles in Ordnung hier?“

„Alles o.k. Mein Freund ist behindert und hat aus Versehen die Statue berührt. Ich passe auf, dass das nicht wieder passiert.“

„Kunstgegenstände zu berühren, ist hier verboten, wenn das nochmal vorkommt…“

„Wird es nicht.“

Der Ordner verschwand. Ich schaute mich um und sah über dem Haupt der Jungfrau – dort wo auf alten Gemälden der Heiligenschein angebracht war – eine kleine, Überwachungskamera im Format eines Augapfels, die Uwes „Übergriff“ wohl gesehen haben musste. Seltsam, dass sie in jeder erdenklichen Weise an Maria gespart hatten, nur nicht an Überwachungstechnologie. Das allsehende Auge Gottes hätte nicht flächendeckender präsent sein können mit seiner Aufmerksamkeit. Ich musste wieder heftig husten, und ein Blick auf die im Licht unseres letzten Teelichts tanzenden Staubflocken genügte, um den Grund dafür zu wissen.

Nun fing unser Begleiter zu reden an, mit monotoner, durchdringender Stimme und so selbstverständlich als hätten wir zuvor schon ein langes Gespräch miteinander geführt. „Was Sie vorhin gesagt haben, dass Maria immer kleiner wird und in tausend Jahren verschwunden sein wird, das stimmt und ist vielleicht in einem tieferen Sinn wahr als Ihnen bewusst ist. Nur wird es keine tausend Jahre dauern. Sie schwindet schon und steht kurz vor ihrer Auslöschung. Ich spüre, dass es Sie kränkt, Maria so vernachlässigt zu sehen, verbannt in die Tiefe, wohin die meisten Kirchenbesucher ihren Fuß nicht mehr setzen. Und doch ist das der Lauf der Dinge. Menschen bündeln ihre Vorstellungen, ihre Ängste und Sehnsüchte in einem kollektiven Bild, einem Symbol. Sie beten, was aus ihnen heraus Gestalt angenommen hat, als etwas Äußeres an. Sie nähren sich von etwas, was in seiner Existenz doch eigentlich nur von ihnen seine Nahrung empfängt.

Aber die Symbole wechseln, die Bilder kommen und vergehen, wenn auch in manchen Fällen in sehr lange Zyklen. Maria, der man den absurden Namen ‚Mutter Gottes‘ gab, hatte ihre Zeit – mittlerweile mehr als 2000 Jahre lang. Das ist jetzt vorbei. Niemand interessiert sich mehr für sie und für das, wofür sie einmal als Symbolfigur gedient hat. Außer vielleicht dem Idioten…“

Dabei schaute er kurz zu Uwe herüber, der nicht verstanden hatte, dass er beschimpft worden war. Bevor ich etwas einwenden konnte, fuhr mein Gesprächspartner fort: „Denken Sie an die Venus, die symbolische Verkörperung der Liebe, der Schönheit, der erotischen Lust…“

Ich wunderte mich über die gewählte Ausdruckweise des Fremden, die eine suggestive, einlullende Wirkung auf mich ausübte. Irgendwie schlich sich bei mir jedoch auch Unbehagen ein, als ob mir der Fremde schöntönend etwas verkaufen wollte, was ich nicht haben wollte. „Die Venus kennt man immer noch. Fast jeder kennt ihren Namen und ihre Bedeutung, auch noch nach fünf oder sechs Jahrtausenden“, warf ich ein.

„Schon“, sagte der düstere Begleiter unbeirrt, „aber wer glaubt noch ernsthaft an sie, wer ruft sie an in der Dunkelheit der Seele und erwartet sich ernstlich Hilfe von ihr? Für welches moderne Bewusstsein ist diese hübsche Sagengestalt noch prägend? Man kennt sie, aber man belächelt sie wie einen fernen Aberglauben unserer Vorväter, die in einem archaischen Stadium der Bewusstseinsevolution feststeckten. Maria ist die nächste Venus. Man wird sie noch lange kennen, besonders als eine Figur der Kunst- und Religionsgeschichte – Raffael, Tizian, Franz Schubert –, aber nicht mehr als etwas, was von irgendeinem Belang wäre für die Gegenwart.“

Ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit an eine Erzählung von Eichendorff, die ich während meines Studiums gelesen hatte: „Das Marmorbild“. Darin wurden Venus und Maria als gegensätzliche Kräfte in Szene gesetzt, erstere aber eher als ein verblassendes Gespenst, das eine ältere, überwundene Überlieferungsschicht der Menschheit repräsentierte; letztere als eine gegenwärtige Kraft, auf die Menschen zustreben und an der ihre Seelen gesunden konnten. Es war die symbolisch verdichtete Geschichte eines Epochenwechsels, wie er sich vielleicht in den ersten christlichen Jahrhunderten vollzogen haben musste.

Ich teilte meinem Gesprächspartner meine Assoziation mit. Der nickte nur und fuhr fort: „Heute stehen wir wieder an einer solchen Epochenschwelle. Marias Ära geht in die von Adelgunde Struntz über, der aktivierenden Mutter der eigenverantwortlichen Selbstoptimierung. Lange haben Menschen davon geträumt, es könne sich in der Zukunft eine neue, ebenso bedeutende und weltverwandelnde Religion gründen, ja die Moderne müsse unweigerlich sogar einen neuen Messias hervorbringen. Man hat verschiedene Gestalten vorschnell dazu erklärt und nicht verstanden, dass man an der falschen Stelle suchte. Nennen wir es salopp „Das nächste große Ding in der Religionsgeschichte“: wer wird darüber entscheiden, wann und wie es sich manifestiert? Meine Antwort ist: dieselben Kräfte, die auch darüber entscheiden, was Sie essen, welche Kleidung Sie tragen, welche Musik Sie hören und welche Technologien Sie verwenden. Dieselben, die Ihre innere Bilderwelt schon heute unwiderruflich prägen mit ihren zeitgemäßen Ikonen und Werbe-Mantras: Markenfirmen.“

„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Frau Struntz einmal dieselbe geistesgeschichtliche Bedeutung haben wird wie Maria?“, erwiderte ich, nun etwas ärgerlich geworden.

„Nun, vielleicht noch nicht sofort und vielleicht nicht als ein solch globales Phänomen. Der Struntz-Konzern ist international noch nicht überall präsent. Man wird Adelgunde vielleicht nicht von Feuerland bis Sibirien verehren. Aber ihr Kult hat begonnen und breitet sich rasant aus. Die neue Bilderwelt als Spiegel des Kollektivbewusstseins unserer Epoche – sie wird zweifelsfrei eine privatisierte sein. Woran wir glauben, das werden die Vorstände und Marketingleiter von Konzernen bestimmen, nicht Pfaffen und wirrköpfige Propheten. Mit der Privatisierung der archetypischen Seelenbilder wird sich im zweiten Schritt etwas viel Umfassenderes vollziehen: die Privatisierung der menschlichen Seele.“

Ich musste eine Weile schweigen, um zu verarbeiten, was der dunkle Begleiter da vor mir ausbreitete. Ich blickte zu Maria herüber und konnte nicht umhin, ihre Aura wieder ein bisschen zu spüren – als etwas sehr Gegenwärtiges, wenn auch nur schwer mit Worten Sagbares, das alle Bedenken überstieg. Merkwürdig, dass gerade ich alte Heide auf meine alten Tage so an ihr hing, jetzt da sich ihre Zeit dem Ende zuneigte.

„Voll der Gnade“ schoss es mir plötzlich in den Kopf, und mir fiel ein, wie viel von dem, was uns ausmacht, was uns nährt und begeistert, wir anderen verdanken – als ein nicht erzwingbares, nicht wirklich verdientes Geschenk. Angefangen mit unserer bloßen Existenz, unserem Leben. Weiter auch der Nahrung und der Liebe, die unsere Eltern uns gegeben haben – wie unvollkommen auch immer.

„Die Gnade“, fragte ich scheu bei meinem Begleiter nach, „wird es sie dann auch nicht mehr geben“?

Ein überlegenes Lächeln spielte jetzt auf seinen Lippen. „Auf die Gefahr hin, Sie zu schockieren, mein Guter. Seien wir doch ehrlich, das mit der Gnade war schon immer eine Scheiß-Idee. Jemandem alles verzeihen, ihn aus der Verantwortung für seine Taten zu entlassen, der Versuchung der Macht entsagen, seine Feinde lieben, seine Peiniger umarmen und für seine Mörder beten… es hat etwas Verlockendes, zugegeben, wie ein Ruf aus einer fernen, leuchtenden Welt. Gnade, das ist wie Science fiction. Man delektiert sich an den skurrilen Ideen der Autoren und verliert sich eine Weile in ihren ausufernden Träumen – und dann kehrt man gelassen in das weitaus nüchternere Hier und Jetzt zurück.

Sehen Sie, das Abendland, das sich lange christlich nannte und von dieser hohen Warte auch noch meinte, andere belehren zu können – es hat seine Antwort auf die wirren Ideen von Marias Sohn ja deutlich genug gegeben: indem es sie faktisch ignorierte. Nachdem sich viele eine Zeit lang an den Gestalten des sich selbst aufopfernden Nazareners und seiner anämischen Mutter besoffen haben, ging man zur Tagesordnung über. Man griff nach der Macht über Leib und Seele – die Kirche als erstes –, man schlachtete die wehrlose Kreatur, man bestrafte Verbrecher, führte Kriege und tötete Feinde. Im Namen der christlichen Religion oder auch ungeachtet ihrer. Wir kommen nicht umhin einzugestehen, dass Jesus und seine Mutter nie wirklich die prägenden Figuren des Abendlandes waren, sie waren Feigenblätter über der Blöße des westlichen Menschen. Das Neue an der heutigen Zeit ist nur, dass wir endlich den Mut haben, das zuzugeben und Maria zum Gerümpel in den Keller zu stellen.

Sehen Sie, die Gnade…“, fuhr er fort, nachdem ich auf seine brillante Rede keine adäquate Antwort gefunden hatte. „Wenn wir diesen Erdenweg als eine Art Schulungssystem begreifen, das dem Menschen zu Wachstum verhelfen soll, so gibt es eigentlich nichts ineffektiveres als Gnade. Sie wiegt uns in selbstzufriedener Weichlichkeit und ist eine Verlockung zu völliger Stagnation. Die Erzählung von einer großen mütterlichen Wesenheit, unendlich liebend und unendlich verzeihend, auch noch das schlimmste Versagen mit einem gütigen ‚Ich kann dich gut verstehen!‘ weglächelnd – das ist nicht nur peinlich, es ist geradezu wirtschaftsschädigend. Die Tätigkeit der Menschen könnte auf diese Weise allzu leicht erschlaffen. Er liebt dann nur noch die Ruhe, will nichts mehr werden, nichts mehr leisten. Weil er weiß, dass er niemals mehr sein wird als ein Kind der göttlichen Mutter, hört jeder Ehrgeiz auf; und weil er weiß, dass er niemals weniger sein wird als das, verschwindet jedes Minderwertigkeitsgefühl. Können Sie mir vielleicht erklären, wozu ein solcher Mensch noch zu gebrauchen ist? Der ist doch als Produktionsfaktor ein Totalausfall!“

Ich war durch die Ausführungen meines dunklen Begleiters nachdenklich geworden. Aus der betriebswirtschaftlichen Perspektive hatte er gewiss Recht. Aber wir befanden uns noch immer in einem christlichen Gotteshaus, müssten sich da nicht die Bewertungskriterien etwas verändern? Ich teilte ihm meine Bedenken mit.

„Was verstehen Sie denn unter Christentum, mein Lieber? Kann es sein, dass Sie da an überholten Klischees festhalten?“

„Denken Sie an das Gleichnis vom Verlorenen Sohn“, erwiderte ich und kam sogleich ins Stocken, als wäre mir etwas Obszönes herausgerutscht.

Der Mann richtete seinen konzentrierten, immer etwas spöttischen Blick fragend auf mich. „Reden Sie weiter! Was ist mit dem Verlorenen Sohn? Was glauben Sie an diesem Gleichnis verstanden zu haben?“

„Na, dass man zu einem gütigen Vater, egal was man getan hat, egal welche Irrwege man gegangen ist, immer zurückkehren kann. Er verurteilt dich nicht, er bereitet dir sogar ein Wiedersehensfest. Er hat im Grunde nie etwas anderes getan als auf dich zu warten…“

Mein Begleiter schüttelte langsam den Kopf und hob seine Augenbrauen etwas, so dass die weite Stirn, die sein Gesicht dominierte, in zahlreiche bogenförmige Falten gelegt wurde. „Sie müssen da was missverstanden haben.“

„Missverstanden?“

„Die Geschichte vom Verlorenen Sohn – das, was Sie da ausgeführt haben, ist keinesfalls ihre Bedeutung. Wir erzählen das in Kirchen, die zum Struntz-Konzern gehören, ganz anders.

„Wie, anders? Wie verstehen Sie denn das Gleichnis?“

„Den gütigen Vater in der Geschichte, so befürchte ich, den gibt es überhaupt nicht. Und wenn es ihn gibt, reagiert er heute sicher nicht mehr so, wie es sich Nächstenliebe-Nostalgiker vorstellen. Gehen wir noch mal zurück zu dem Punkt, an dem der Verlorene Sohn heimkehrt und an die Pforte das Vaters klopft. Der Vater macht auf, der Sohn wirft sich auf die Knie, jammert, bettelt, breitete allerlei Entschuldigungen für sein Verhalten vor ihm aus. Der Vater schaut eine Weile auf ihn herab, ernst und gleichmütig.

Dann spricht er: ‚Meinst du nicht, mein Lieber, dass du es dir da etwas zu leicht machst? Du verschwindest einfach mit Deinem Erbe und lässt Jahre lang nichts mehr von dir hören. Dann klopfst du auf einmal an meine Tür und erwartest Ergriffenheit, vielleicht noch Lob nach allem, was du uns angetan hast. Was glaubst du denn, was mich deine Kapriolen gekostet haben? Nicht nur dass mir dein Erbe als Investitionskapital gefehlt hat – um dich als Arbeitskraft zu ersetzen, musste ich auch noch zwei Knechte einstellen, die mir mit ihrer übertriebenen Anspruchshaltung die Haare vom Kopf gefressen haben. Wie stellst du dich zu dieser Schuld, sag? Bist du bereit, auch nur ein Mindestmaß an Verantwortung zu übernehmen? Ja, vielleicht werde ich dich eines Tages wieder zu Hause willkommen heißen, aber erst, wenn du deine Schulden bis auf den letzten Heller mit Zinsen abbezahlt hast.‘

Der Sohn wird dann ganz traurig und meint: ‚Gewiss, Vater, du hast recht mit dem, was du sagst. Dein Urteil ist in jeglicher Hinsicht gerecht; nur, ich habe irgendwie nicht so recht das Gefühl, nach Hause zu kommen. Ich hätte wohl ebenso gut weiterwandern können durch eine Welt, die für mich Fremde ist und mitleidloser Überlebenskampf.‘ Und weil der Sohn daran verzweifelt, eine solch große Schuld jemals abbezahlen zu können, zieht er – weil es jetzt auch schon egal ist und weil es eine Heimat für ihn sowieso nicht mehr gibt – wieder in die Fremde hinaus und verwickelt sich abermals in Schuld, in grausame Spiele des Verletzens und Verletztwerdens.

‚Ich habe es doch gewusst, dass der Junge nichts taugt‘, denkt der Vater bei sich, als ihm einige Monate später ein Reisender vom weiteren Schicksal seines Sohnes berichtet. ‚Na, bloß gut, dass ich ihn nicht so ohne weiteres wieder bei mir aufgenommen habe. Und eine solch unermessliche Schuld, wie er sie jetzt angehäuft hat – die wird er wohl nie mehr abbezahlen können. Aber mir kann es ja egal sein, es ist letzten Endes seine Sache. Am besten, ich vergesse ihn und überlasse ihm seinem Schicksal.‘“

Uwe, der wie immer nichts von solchen komplizierteren Dialogen verstand, war während der ganzen Rede noch immer wie versunken vor der Statue der Jungfrau Maria sitzen geblieben, die nur noch von einem langsam herunterbrennenden Teelicht illuminiert wurde. Es war, als ob ihn Maria in eine wohltuende Energieblase einhüllte und ihn so vor der bitteren, jedoch unausweichlichen Realität abschirmte, welche unser Unterweltsführer vor uns ausbreitete.

Wir mussten ans Gehen denken, bevor noch dieses letzte Licht in der Krypta erloschen sein würde. Ich sagte also zu unserem Begleiter, obwohl ich rhetorisch längst von ihm besiegt war und nur, um noch einmal etwas zu erwidertn, bevor ich endgültig aufgab: „Das klingt alles ganz einleuchtend, mein Herr, aber irgendwie hätte ich mir den lieben Gott anders vorgestellt.“

Der kleine Mann lächelte kalt und meinte: „Wer sagt denn, dass die Geschichte vom lieben Gott handelt?“

Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ uns allein in der leeren Krypta stehen. Die Finsternis verschluckte ihn, so dass seine Gestalt nicht mehr von ihr zu unterscheiden war.

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