«Athen ist bereits tot»

 In Politik (Ausland)
Straßenzug in Athen

Straßenzug in Athen

Wie ist es, als Besucherin heutzutage durch Athen zu laufen? Wie hat sich die Stadt verändert, seit die Krise unzähligen Menschen ihre Lebensgrundlage und ihren Stolz geraubt hat? Evelin Chatzatoglou war dort und schrieb für ihre deutschen Mitstreiter einen Bericht, der ungeheuer beeindruckt und traurig macht. Sie zeichnet das Bild einer Stadt, die geradezu gespenstisch wirkt, wie mit einem Grauschleier aus Not und der Hoffnungslosigkeit überzogen. Die Armut zeigt sich an allen Ecken und Enden in Form scheinbar unbedeutender Details. Dieser Bericht macht wütend – vor allem auf die menschenverachtende Politik der EU-Staaten. Nebenbei zeugt sie natürlich von der Notwendigkeit unserer Griechenland-Hilfsaktion.

Liebe Spenderinnen und Spender, liebe Griechenlandfreunde und -freundinnen,

im 22. Februar flog ich nach Athen, um Tassos in unserer gemeinsamen „Mission“, den Bedürftigen in Griechenland zu helfen, beizustehen. In der Maschine der Aegean Airlines war die Welt anscheinend noch in Ordnung. Viele der griechischen Passagiere dürften dauerhaft im Ausland leben, und die Stimmung war großteils ausgelassen.

Dies sollte sich jedoch schon bald nach der Landung in Athen ändern, nach ein paar Stationen in der Metro, als immer mehr Griechinnen und Griechen zustiegen und die vom Flughafen kommenden Menschen zur Minderheit wurden.

Ich realisierte es anfangs nicht wirklich, aber die Gesichter der Leute, die zustiegen, waren großteils sehr ernst, wirkten oft traurig und wie versteinert. Erst als ein Grieche zustieg, der seine Armut, auch wenn er zwecks Bettlerei nur verkleidet gewesen wäre, nicht hätte verbergen können, drang diese Stimmung so richtig in mein Bewusstsein ein. Der Mann begann zu sprechen: „Kalispera – einen schönen guten Nachmittag. Ich bin seit drei Jahren arbeitslos. Sie haben mich auf die Straße gesetzt. Ich habe drei Kinder…“. Er erzählt seine Geschichte, laut, unmissverständlich, und versuchte dabei, die mitgebrachten Taschentücher zu verkaufen, er bettelte nicht. Mir schossen Tassos Worte in seinem ersten Bericht aus dem Jahr 2015 in den Kopf: die Griechen sind ein sehr stolzes Volk, Griechen outen sich nicht, man sieht ihnen ihre Armut nicht an! Ich denke mir, wie verzweifelt dieser Mann sein muss, um seine Geschichte immer und immer wieder wildfremden Menschen zu erzählen.

Die Stimme kommt näher, und plötzlich steht er vor mir. Ich mustere ihn von oben bis unten, schaue ihm in die Augen. Er wäre ein Fall für uns. Gleichzeitig realisiere ich die Menschen um mich. Mir gegenüber sitzt ein Japaner mit seinem Koffer, er begleitet mich seit dem Flughafen und begreift nicht, was da gerade um ihn herum geschieht. Die anderen sind Griechinnen und Griechen, vielleicht auch in Griechenland lebende Albaner. Niemand reagiert. Die bereits versteinerten Gesichter versteinern noch mehr. Ich spüre die Situation, erschrecke, es drückt mir die Tränen in die Augen. Ich stecke dem Mann 5 Euro zu. Er will mir Taschentücher in die Hand drücken. Ich lehne ab mit den Worten „vielen Dank, ich brauche sie nicht“, und gleichzeitig schießt mir wieder Tassos Satz in den Kopf: die Griechen sind ein stolzes Volk! Ich bereue, dass ich nicht wenigstens eine Packung der Taschentücher entgegen genommen habe. Habe ich ihn jetzt beleidigt? Aber der Mann bedankt sich überschwänglich, geht weiter.

Ich schließe meine Augen, um die Tränen zu unterdrücken. Als ich sie wieder öffne, sehen die Menschen um mich herum immer noch wie Statuen aus. Jetzt erst betrachte ich sie mir näher. Wo sind die gut gekleideten, lachenden und lautstark diskutierenden Griechinnen und Griechen, wie ich sie vor Beginn der Krise kannte? Nichts von dem ist geblieben. Nur ein paar Schülerinnen und Schüler lachen, der Rest schweigt, starrt vor sich hin. An der Kleidung erkennt man die Armut! Die Einkaufstüten, die einige von ihnen in den Händen halten, sind nicht neu und stammen mit Garantie nicht von einem kurz zuvor getätigten Einkauf.

Mich packt die Wut und ich denke mir, man sollte Frau Merkel, Herrn Schäuble und alle anderen für diese Krise Verantwortlichen gewaltsam aus ihren auf Hochglanz gebrachten Limousinen zerren und sie zwischen diese Menschen in die Metro setzen, sie in öffentliche Krankenhäuser und soziale Einrichtungen bringen, um Ihnen das Verbrechen, das an diesem Volk durch die Sparmaßnahmen seit fünf Jahren begangen wurde und immer noch tagtäglich begangen wird, vor Augen zu führen. Meine Wut wird noch größer.

Zwei Zigeuner, ein Mann und ein Kind, steigen zu. Der Mann spielt Akkordeon, das Kind hält einen Kaffeebecher aus Pappe in der Hand und versucht, Geld einzusammeln. Ich schließe wieder die Augen und konzentriere mich nur noch auf die Stimme aus dem Lautsprecher, die die einzelnen Haltestellen aufruft. „Evangelismos“!

Ich steige aus und quäle mich mit meinem kleinen Handgepäckskoffer in Richtung nach Hause. Athen ist nichts für Menschen mit Koffer. Löcher in den Straßen und Gehsteigen, zugeparkte Gehwege, Autos, teilweise dauerhaft auf Gehsteigen abgestellt und verstaubt. Mein Koffer kippt (wieder) in ein Loch. Ich stehe vor dem Hotel „Divani Caravell“ und beschließe, die Hotelzufahrt für meinen Fussweg zu benutzen. 100 Meter bestens asphaltierte Straße, eine andere Welt. Danach kippt mein Koffer ins nächste Loch. Zu viele Löcher hat diese Stadt. Ich bin zu Hause angelangt.

Während meines gesamten Aufenthaltes werde ich nun laufend mit der Armut in Athen konfrontiert. Mal ist es ein „Bleistiftverkäufer“ in der Metro, mal eine „Taschentuchverkäuferin“, mal ist es ein Mann, der sein Gesicht verbergend in der Panepistimíou-Straße nahe dem Síntagma-Platz auf einer Palette „wohnt“, Menschen, die auf Parkbänken leben. Viele wollen nicht mal Geld, sie bitten nur um Lebensmittel für ihre Familie, ihre Kinder, für sich. Die Armut ist in Athen überall präsent, wahrscheinlich mehr als sonstwo in Griechenland.

Ich lasse einiges an Geld in den Papp- oder Plastikbechern der Ärmsten, denen alles genommen wurde: der Job, die Pension, die Krankenversicherung, das Dach über dem Kopf, ihr Stolz! Sie haben alles verloren, haben somit auch nichts mehr zu verlieren.

An einem Tag wurden in Monastiraki, einem Stadtviertel im Zentrum von Athen, 50 Tonnen Obst und Gemüse an Arbeitslose, Obdachlose und Flüchtlinge verteilt: in 20 Minuten war alles weg. Diese Aktion wurde ein paar Tage später in Thessaloniki mit einem ähnlichen Ergebnis wiederholt.

Es gibt aber noch das Athen der Reichen. Uhren- und Schmuck werden überall zum Verkauf angeboten, ebenso wie sündteure Markenprodukte. Allerdings betreten nur noch sehr, sehr wenige Menschen diese Geschäfte. Die Masse hat anscheinend andere Sorgen.

Auffallend sind auch die Preise in nahezu allen Geschäften. Auslagen mit Aufschriften wie „ΟΛΑ 5€“ – alles 5 Euro – stechen ins Auge. Wer billig einkaufen möchte, sollte es jetzt tun – in Griechenland. Ausverkauf in der gesamten Stadt, für viele Geschäfte ist es der letzte.

Die Stadt stirbt – viele Geschäfte haben bereits geschlossen. Die runtergelassenen Rollläden „verzieren“ Graffitis. Ganze Häuser stehen leer, werden zum Kauf oder zur Miete angeboten.

Die Stadt ist bereits tot – sie weiß es nur noch nicht. Die Menschen „sterben“ mit ihr.

Herzliche Grüße aus Athen, Eure Evi

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