Birgit Vanderbeke: Ich bin von Kopf bis Fuß
Die Romanautorin Birgit Vanderbeke ist eine Meisterin des sprechenden Details. Und sie kann Geschichten erzählen, die über den Einzelfall hinaus auf größere Zusammenhänge verweisen, auf Krankheitssymptome einer Gesellschaft und die Möglichkeit ihrer Heilung. Hier beschreibt sie u.a., wie mächtige Firmen die Schäden, die sie an Körper, Seele und Ökosystem anrichten, mittels Gehirnwäsche verschleiern. Sie beklagt das herrschende Natur-Defizit-Syndrom, den Verlust eines echten, unvirtuellen Lebens zum Anfassen. Mit André Gorz regt sie an, „dass man besser freiwillig mit einer sterbenden Gesellschaft brechen sollte, die nicht wiedergeboren würde, als bis zuletzt mitzuspielen“. Birgit Vanderbekes Beitrag zum Jahreskongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie 2018 – „Die Paralyse der Kritik: Eine Gesellschaft ohne Opposition (Herbert Marcuse)“
Vor dreißig Jahren sagte Margaret Thatcher einen Satz, der damals gewaltig unterschätzt wurde: There is no such thing as society.
Damals gab es noch so was wie Gesellschaft.
Damals gab’s sogar noch jede Menge Alternativen, obwohl Margaret Thatcher auch das bestritt.
Jede Menge Alternativen gibt’s heute nicht mehr. Es gibt noch welche – Menschen sind schließlich keine biologischen Maschinen, auch wenn die Hirnforscher das immer wieder behaupten, aber es wird immer schwerer, Alternativen zu finden und zu praktizieren, denn inzwischen ist eingetreten, was damals allseits unterschätzt wurde: There ist no such thing as society.
Gesellschaftskritik, meine Damen und Herren, wird natürlich nicht gerade durch den Umstand erleichtert, dass ihr Gegenstand schlechterdings nicht oder nicht mehr existiert.
Was Margaret Thatcher meinte, war das Absurdeste, was man sich denken kann. Es geht ungefähr so: Der oberste Informationsprozessor der Welt ist der Markt. Den kennt keiner, aber seine Weisheit ist grenzenlos, seine Gesetze sind ewig und unwandelbar. Natur und Gesellschaft dagegen sind unbeständige Kategorien, sozusagen die Wackelkandidaten im Lauf der Welt, die – sofern es sie überhaupt geben kann – dem allmächtigen Markt untergeordnet sind und sich nach ihm zu richten und gefälligst warenförmig zu benehmen haben, und was nicht passt, wird passend gemacht oder gestrichen.
Mont Pélérin, Friedrich August Hayek und all die anderen, Neoliberalismus, wie wir ihn inzwischen aus dem FF kennen, das ganze Panoptikum der privaten Geldvermehrungsapparatur auf Kosten lebendiger Wesen und Strukturen. Eine globale Realität.
Nur was das ist, Realität, ist selbst für Profis inzwischen nicht mehr so leicht herauszufinden.
Nicht mehr in der Gesellschaft, unter Menschen, haben sich die Menschen zu bewähren, sondern auf dem geheimnisvollen Markt agieren die Helden.
Dort finden die echten Abenteuer statt, die heute spannend und lesenswert sind.
Moderne Märchen von freien Unternehmern.
Und seit jeher handeln viele Märchen von klugen Bauern oder Bauerstöchtern.
Zum Beispiel die Geschichte von Neal Carter und dem „nicht-braun-werdenden Apfel“. Ich liebe diese Geschichte: Neal Carter ist ein amerikanischer Apfelzüchter. Etwa zu der Zeit, als Margaret Thatcher erklärte, dass es so etwas wie Gesellschaft nicht gäbe, kam er darauf, dass Äpfel einen Haken haben, der ihrer Vermarktung im Wege steht: Man muss reinbeißen. Sie passen nicht mit einem Happen in den menschlichen Mund. Das ist unpraktisch.
Der Markt möchte, dass die Dinge praktisch sind. Convenient.
Der Markt hatte Neal Carter dazu auserwählt, den von Natur aus unpraktischen Apfel in ein konsumentenfreundliches Produkt umzugestalten. Neal Carter begriff, dass dies eine große Aufgabe war. Heute sagt man Herausforderung. Challenge. Carter nahm die Challenge an. Es wurde eine Lebensaufgabe, die ihm alles abverlangte.
Der amerikanische Konsument möchte seinen Apfel scheibchenweise verzehren.
Neal Carter hat in jungen Jahren die Welt bereist und festgestellt, dass es eine ganze Menge Menschen gibt, die alle ernährt werden wollen; demnächst sollen es neun Milliarden sein. Des weiteren weiß er, dass Nahrung und Wasser auf der Erde nicht gerecht verteilt sind und dass es eine Krise mit den landwirtschaftlich zu bewirtschaftenden Flächen gibt: Erosionen, tauende Gletscher, steigende Meeresspiegel, Stürme, Hitze, Dürre und so weiter. Zur Ernährung der Weltbevölkerung wird jeder einzelne Apfel gebraucht.
Das beschäftigte Neal Carter ebenso wie der Umstand, dass das weiße Fleisch der Äpfel, wenn man sie für den amerikanischen Verzehr in Scheibchen schneidet, braun wird.
Wenn die Apfelschnitze braun werden, werden sie vom Konsumenten weggeworfen.
Seit den achtziger Jahren gehen die Apfelgeschäfte zurück. Die Verluste liegen im Milliardenbereich.
Das hat Neal Carter Sorgen gemacht.
Außerdem hat ihn bedrückt, dass der amerikanische Konsument moralisch keine besonders gute Figur macht: In den USA werden jährlich 3,7 Milliarden Äpfel weggeschmissen (http://www.fao.org/save-food/resources/keyfindings/infographics/fruit/en/), während anderswo Menschen im Minutentakt verhungern. Das wirft kein gutes Licht auf die Bewohner der Vereinigten Staaten, die der Welt unbedingt gern in gutem Licht erscheinen wollen. Vielleicht nicht gleich neun Milliarden Menschen, aber bestimmt halb Afrika könnte mit den Äpfeln ernährt werden, die die Amis auf den Müll tun, bloß weil sie zu faul sind, sie aufzuschneiden und zu essen.
Das Braunwerden aufgeschnittener Äpfel lässt sich bekanntlich auf chemischem Weg verhindern, indem man die Früchte mit Vitamin C und Kalzium einpudert. Die marktführende Apfelfirma Crunch Pak tut das und noch sehr viel mehr, um die Attraktivität des Apfels für den amerikanischen Konsumenten zu erhalten. Das Verfahren ist technologisch extrem aufwendig und teuer, und durch die chemische Behandlung scheint der Geschmack zu leiden.
Neal Carter schwebte schon vor Jahrzehnten etwas anderes vor: ein Apfel, den man unbesorgt aufgeschnitten stundenlang auf dem Teller liegen lassen könnte, ohne dass er zu oxidieren begänne. Ein Apfel mit so anhaltend und dauerhaft weißem, unschuldigem Fruchtfleisch, dass niemand auf den Gedanken käme, es wie Dreck zu behandeln und in den Müll zu schmeißen. Weiß wie Schnee. Arktisch weiß.
Neal Carter träumte von Äpfeln, die er auf diese Weise in Tüten abfüllen und verkaufen könnte, makellosen Äpfeln, die tatsächlich massenhaft gekauft und gegessen und dazu beitragen würden, den eklatanten Vitaminmangel des durchschnittlichen amerikanischen Konsumenten und seines Nachwuchses zu vermindern und die Einnahmeverluste in der Apfelbranche auch.
Durch einen Zufall fand Neil Carter heraus, dass das Enzym Polyphenoloxidase (kurz: PPO) der Übeltäter war, der zur Verbraunung des Apfelfleischs und damit zum Nichtkonsum und der massenhaften Vermüllung des Apfels führte.
Zusammen mit seiner Frau, die während all der schweren Jahre treu zu ihrem Mann hielt und ihren Glauben an ihn und den weißen Apfel nicht aufgab, gründete Carter die Firma Okanagan Specialty Fruits, und mit sieben Mitarbeitern sowie der im biotechnologischen Bereich geradezu märchenhaft bescheidenen Summe von fünf Millionen Dollar wurden im Lande Washington die Apfelsorten Arctic Golden, Arctic Granny und Arctic Fuji entwickelt, denen auf gentechnologischem Weg das PPO-Enzym abgewöhnt worden ist und die nach jahrelangem Ringen, erheblichen Entbehrungen und epischen Kämpfen der Helden gegen Angriffe aus dem feindlichen Lager der Genfood-Gegner genau jetzt auf den Markt gekommen sind. So weiß wie Schnee. In Tüten aus umweltfreundlichem Plastik.
Die Experten sind sich einig: sollten Neal Carters arktische Apfelschnitze vom amerikanischen Verbraucher angenommen werden, ist der Startschuss für eine Menge biotechnologische Agrarprodukte gefallen, die schon fix und fertig in den Schubladen liegen und nur darauf warten, dass ein Bauer aus Washington mutig daher kommen und ihnen mit einem ganz besonderen Coup den Weg frei machen wird.
Sehr ähnlich geht diese Geschichte auch mit einem transgenen, PPO-amputierten schneeweißen Champignon und etwa dreißig weiteren Mutanten, deren Erfinder sonderbarerweise allesamt die dringende Notwendigkeit erwähnen, demnächst neun Milliarden Menschen auf unserem Planeten ernähren zu müssen.
Einen Zusammenhang zwischen der Welternährungsproblematik und der Erschaffung nicht-braun-werdender Äpfel bzw. Pilze gibt es allerdings nicht.
Irgendwo am Rande dieses Märchens wird gelegentlich und fast unbemerkt ein ganz kleiner und unattraktiver Gedanke formuliert, den ich nur nebenbei erwähne, weil angesichts der Großartigkeit des Arctic-Apple-Projekts ein paar Nörgler gewagt haben zu fragen, ob man wirklich jede Menge Energie, Dollar und Lebenszeit daran geben sollte, Äpfel den Konsumgewohnheiten der Amerikaner anzupassen, anstatt umgekehrt die Konsumgewohnheiten der Amerikaner mit dem Umstand vertraut zu machen, dass Äpfel seit Adam und Eva ganz ohne Plastiktüten an Bäumen wachsen. Verzehrfähig. Wenngleich leider nicht praktisch in Scheiben geschnitten, dafür aber jedes Jahr. Kontinuierlich.
Eine Überlegung wäre, ob die Bequemlichkeit der Kontinuität wirklich vorzuziehen ist. Immer? Und warum?
Natürlich ist dieser Gedanke ketzerisch, weil es einen Eingriff in die Freiheit des Konsumenten bedeuten würde, seine Konsumgewohnheiten beeinflussen und manipulieren zu wollen, und derlei Eingriffe stehen im Verdacht, sozialistisches oder kommunistisches Machwerk zu sein. Vor allem sind sie Freiheitsberaubung. Totalitär. Der Markt sagt, wo’s lang geht, nicht die Natur.
Schließlich ist der Witz an dieser wunderbaren Geschichte, dass es der heilige Markt selbst war, der in seiner allwissenden Perfektion und Vollkommenheit den einfachen Farmer Neal Carter dazu ausgewählt hat, dem gelobten Land und seinen Apfelessern die mythische Frucht in ihrer angemessenen Weißheit zu präsentieren, und der Markt allein weiß, wie schwer es Neal Carter und seinen getreuen Mitkämpfern für die arktische Frucht gewesen sein mag, dieser Aufgabe nachzukommen und sie zu erfüllen.
Die Geschichte von Neal Carter ist nicht schlecht gemacht.
Ich wüsste gern, wer sie sich ausgedacht hat. Von vielen Geschichten wüsste ich inzwischen gern, wer sie sich ausgedacht hat.
Mein augenblickliches Lieblingsmärchen kommt aus Südafrika.
Dazu muss ich vorausschicken, dass ich den globalen Markt rund ums Kochen einigermaßen beobachte, d.h. ich lese internationale Food-Blogs, und mir ist aufgefallen, dass seit geraumer Zeit – ausgehend wohl von Indien, dann übergesprungen auf andere asiatische Schwellenländer und vor allem jetzt auch auf den Westen – Slow-Cooker boomen. Slow-Cooker sind minimalistische Kochgeräte, die im Niedrigtemperaturbereich Lebensmittel langsam garen. Preiswert in der Anschaffung, energie-, zeit- und platzsparend und äußerst schlicht in der Bedienung.
Seit kurzem taucht in internationalen Slow-Cooker-Rankings immer wieder ein sehr originelles Produkt auf, das eine Außenseiterrolle spielt, weil es überhaupt keine Energie verbraucht und zudem Wasser spart.
Das Ding heißt Wonderbag. Sieht aus wie ein kürbisförmiges Kissen.
Es funktioniert nach einer alten Methode, die meine Großmutter und meine Schwiegermutter zum Kartoffelkochen benutzt haben: die Kartoffeln wurden auf dem Herd zum Kochen gebracht, danach wurde der Topf in Zeitungspapier gewickelt, ins Bett gestellt, gut zugedeckt, und dort hat sich der Inhalt von selber fertig gegart. Das Verfahren ist weltweit unter verschiedenen Namen seit Ewigkeiten (Kontinuität) bekannt und in den vergangenen Jahrzehnten, den Zeiten verfügbarer und preisgünstiger Energie (Bequemlichkeit), allseits in Vergessenheit geraten.
Jetzt kommt die Geschichte: Der Wonderbag wurde im Jahr 2008, also im Jahr der Wirtschaftskrise, von der klugen Bauerstochter Sarah Collins auf den Markt gebracht. Sarah Collins ist in den siebziger Jahren in einer ländlichen Apartheid-Gegend in Südafrika aufgewachsen, wo Nahrung und Wasser ungleich und nicht sehr gerecht verteilt sind. Die Ungerechtigkeit und Armut, die sie mit ansehen musste, haben sie traumatisiert, sagt sie, und so war es ihr schon von früh an ein Anliegen, den bitterarmen Frauen, die in Südafrika und anderswo auf der Welt unter der Armutsgrenze leben, durch soziale und politische Anstrengungen per Graswurzel-Bewegungen zu mehr Wohlstand sowie Zeit für sich selbst zu verhelfen.
In Südafrika muss ein armer Haushalt bis zu einem Viertel seines Einkommens für die Energie bezahlen, mit der das Essen gekocht wird: die Quellen sind Holz, Mist, Petroleum, Strom, aber auch Plastikabfälle. Frauen verbringen viel Zeit mit dem Sammeln von Holz und Reisig und sonstigem brennbaren Stoff. Überall auf der Welt verbringen arme Frauen viel Zeit damit und mit dem anschließenden Kochen, während die Wälder in rasender Geschwindigkeit abgeholzt und vernichtet werden, und die Energiearmut schreitet fort.
In Südafrika, so erzählt Sarah Collins, werden übrigens 68 % aller Vergewaltigungen an Frauen begangen, die im Wald Holz sammeln.
Wir kennen diese Problematik seit dem Mittelalter oder noch länger, besonders eindringlich erscheint sie in den Märchen der Brüder Grimm, während die Opfer der sexuellen Übergriffe in den westlichen Küchenliedern des vergangenen Jahrhunderts verhöhnt und verspottet wurden: „Lenchen ging im Wald spazieren. Und sie war allein. Doch da stellt sich zum Verführen gleich ein Jüngling ein.“
Die Volks-Variante dieses Motivs, gewissermaßen ihre Hartz-IV-Fassung, mag ich auch: „Lieschen ging in’n Wald und sammelt Pilze. Jetzt stilltse. Scheiß-Pilze.“
Das war im vorindustriellen Deutschland, vor der Me-Too-Ära, nicht anders als heute noch in Südafrika, Kenia oder Uganda, Frauenschändung scheint also eine der eher unangenehmen kulturellen Kontinuitäten in den männerdominierten Gesellschaften zu sein, aber immerhin: der Wonderbag verhindert bzw. vermindert die im Wald vorgenommenen Vergewaltigungen, weil Frauen nicht mehr so oft Holz sammeln müssen.
In den modernen westlichen Ländern ist die Energiefrage bekanntlich etwas anders gelöst, weil der Strom aus der Steckdose kommt, aber auch dort gibt es Bedarf für den Wonderbag: Die europäischen und amerikanischen Mittelschichten sind ökologisch sensibilisiert und vertraut mit dem Umstand, dass die Güter auf der Welt ungleich verteilt sind und es die westlichen Länder besser getroffen haben als die anderen, das schlechte Gewissen über den dort gepflegten aufwändigen Lebensstil, den gigantischen biosphärischen Fußabdruck und die weggeschmissenen Milliarden Äpfel usw. sitzt allen im Nacken, Energiesparen, überhaupt Sparen, ist ein notwendiger Impetus für SUV-Fahrer und Ferntouristen, und schließlich gibt es zusätzlich noch einen unschätzbaren Vorteil des Wonderbags: man kann auch dann sehr viel Zeit damit sparen, wenn man nicht wie Rotkäppchen in den dunklen Wald zum Holzsammeln muss – alles, was ich für meine Nudelsoße brauche, wird in einen Topf gegeben, auf dem Herd zum Kochen gebracht und nach einigen Minuten in den Wonderbag eingepackt, wo ich es für Stunden vergessen kann. Ich gehe meinen urbanen Tätigkeiten nach, zur Arbeit, zum Shoppen, zum Sport, und wenn ich abends zurückkomme, muss ich nichts mehr kochen. Die Heinzelmännchen. Wie praktisch.
Sarah Collins gab der guten alten Kochbox ein hübsches neues Design, gründete eine Stiftung, die „Natural Balance Global“, und vertrieb den Wonderbag in den westlichen Ländern als „Buy and Give“-Produkt: mit dem Kauf eines Kissens wird ein zweites an eine bedürftige Familie in Südafrika gespendet, die sich das mit ihrem Einkommen unter einem Dollar pro Tag niemals leisten könnte.
Als ich den Wonderbag im Netz entdeckt habe, war ich sehr in Versuchung, für 69 Euro eine gute Tat zu vollbringen. Es ist natürlich ein ziemlich happiger Preis für ein bisschen Stoff, der mit recycelten Polystyren-Kügelchen gefüllt ist, aber immerhin wird durch die eine Hälfte einer Frau ein Afrika ein Kochkissen spendiert, durch das sie womöglich einer sexuellen Straftat entgeht und ganz sicher den giftigen Dämpfen, die sie immer einatmet, wenn sie in ihrer Kochhütte ein Feuer anmacht: Indoor-Air-Pollution sagt die Weltgesundheitsbehörde dazu. Da sterben 1,6 Millionen Menschen jährlich dran, überwiegend natürlich Frauen, selbst wenn sie keine Plastikflaschen verbrennen, sondern ganz normales Holz aus einem der noch nicht abgeholzten Forste, in denen irgendwelche Vergewaltiger herumlungern und nur drauf warten, dass die Frauen Reisig sammeln, und schon ist das Verbrechen perfekt, und dazu kommt dann noch die Indoor-Air-Pollution beim Kochen. Sehr oft fackeln die Hütten, ganze Dörfer sogar, wegen der offenen Indoor-Feuer auch mal ab.
Bis hierhin war die Geschichte vom Wonderbag ganz nett, aber etwas hat mich in letzter Minute davon abgehalten, auf den Paypal-Knopf zu drücken und den Charity-Wonderbag zu kaufen.
Man kann ihn sich im übrigen sehr leicht selber machen. Dann kostet er so gut wie nichts.
Etwas Stoff, ein alter Vorhang vielleicht, eine ausgediente Tischdecke, oder was man so herumliegen hat, ein paar Stunden Nähen, eine Kordel, ein paar Liter Isoliermaterial, Polystyren, Blähton oder geschredderte Weinkorken, und man hat einen 1-A-Wonderbag und kann feststellen, dass er phantastisch funktioniert.
Sarah Collins hat inzwischen ziemlich viele davon verkauft. Sooo viele allerdings auch wieder nicht, etwa um eine Millionen. Sie verweist darauf, dass sie damit Arbeitsplätze für die Frauen geschaffen hat, die diese Kissen in Südafrika nähen. Es gibt You-Tube-Filme mit strahlenden Näherinnen, die alle aussehen, als würde ihre Arbeit bezahlt, vielleicht bekommen sie sogar einen Mindestlohn, was immer das in ihren Townships da unten sein mag, sonst würden sie ja nicht so strahlen.
Gute Sache. Win-win.
Eine findige Unternehmerin, ein gelungenes Start-up mit humanitärem Touch, ein vorbildliches Öko-Produkt, all das passt ins 21. Jahrhundert, antwortet engagiert auf die globalen Krisen, das Klima, die Energieknappheit in den schwierigen Teilen der Welt, die benachteiligte Lage der Frauen, alle freuen sich, das schlechte Gewissen der grünen Kundin ist beschwichtigt, aber irgendwas sagte mir, dass ich noch einmal genauer hinsehen sollte.
Schließlich ist es Sarah Collins selber, die den Hinweis darauf gibt, dass dies noch nicht die ganze Geschichte war. Mit einem starken Satz beschreibt sie in einem Interview ihr Unternehmertum, und in ihrer Beschreibung kommt ein kleines Wort vor, über das ich gestutzt habe.
„… if you have a passion for what you do & the determination to succeed then you can take on anything & conquer the world.“ http://www.lionessesofafrica.com/blog/2015/12/8/the-startup-story-of-sarah-collins
To conquer the world. Wie kommt dieser aggressive, kriegerisch maskuline Ton plötzlich in die friedliche Frauen- und Küchengeschichte?
„Wenn du eine Leidenschaft für das hast, was du tust, und die Entschlossenheit zum Erfolg, dann kannst du es mit allem aufnehmen und die Welt erobern, besiegen, einnehmen, bezwingen, besetzen, unterwerfen.“
Nach einer viertelstündigen Internet-Recherche stößt man auf ein bekanntes Logo und findet sodann rasch heraus, dass die Firma Knorr ein Kochbuch für den Wonderbag herausgegeben hat.
Der Lebensmittelhersteller Knorr aus Heilbronn gehört dem Verbrauchsgütergiganten Unilever. Unilever liegt auf Platz sieben der weltgrößten Lebensmittelkonzerne. Beim Tee ist er mit 80 % des Weltumsatzes an der Spitze.
Was hat Unilever mit dem Wonderbag zu tun?
Und dann das: Was hat das Pharmaunternehmen Pfizer mit dem Wonderbag zu tun? Pfizer ist – by the way – der größte Pharma-Konzern der Welt.
Und zuletzt noch das: Was hat der Internet-Gigant Microsoft mit dem Wonderbag zu tun? Das hat er nämlich.
Fangen wir bei Unilever an: Der Konzern arbeitet seit 2009 mit einem smarten Konzept, das den etwas lahmen Namen „Capitalism 2000“ hat, aber so kurz nach der Wirtschaftskrise fiel manchem Konzern gerade nichts Peppiges ein, jedenfalls: möchte Unilever seine Geschäftsbereiche vergrößern und Jobs und Möglichkeiten für Leute schaffen, die nicht dieselben Chancen hatten wie du und ich, weil Wasser und Nahrung nun einmal ungleich und nicht gerecht verteilt sind auf der Welt; und zwar möchte der Konzern das nachhaltig tun. Jeder möchte seit Jahren alles Mögliche nachhaltig tun. Sustainable, sozial, menschlich und mit jungen Unternehmern und kreativen Projekten. (https://www.forbes.com/sites/brucerogers/2014/03/03/farm-girl-from-south-africa-and-unilevers-ceo-conspire-to-change-the-world/#7555d8122c8e)
Im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit Sarah Collins hat Unilever eine sehr große Menge Wonderbags gekauft. Er will in Südafrika sein Gewürzpulver der Marke Rajah verbreiten. Rajah ist sozusagen das südafrikanische und asiatische Knorr: Chicken Seasoning, Ginger, Chilli, Madras-Curry. Und dazu hat er sich ein tolles Murketing-Prinzip ausgedacht: Wer 200 g Rajah-Pulver kauft, kriegt einen Wonderbag umsonst.
So geht er, der freie Markt. Unilever zur Freude, und die kleinen Leute, die früher in Südafrika mal Gewürze verkauft haben, sind weg vom Fenster. Wobei die da unten ja gar keine Fenster in ihren Hütten haben.
Die südafrikanischen Frauen, die einen der Wonderbags bekommen, sind natürlich überglücklich und dankbar. Sie geben gern ihre Handynummer weiter, sie füllen gern einen Fragebogen mit 100 Fragen aus. Da steht alles über ihre Ernährung drin, den Gesundheitszustand ihrer Familien, ihre Lebens-, Liebes- und Einkaufsgewohnheiten, denn auch mit einem Dollar pro Tag wird eingekauft. In Afrika leben zweieinhalb Milliarden Menschen, die weniger als einen Dollar pro Tag haben. Kleinvieh macht auch Mist. Die praktischen Ready-to-Drink-Tees der Unilever-Tochter Lipton wollen bis zur letzten Meile noch in die ärmste Hütte geliefert werden.
Tee, Babynahrung, Medizin, Impfstoffe wollen dahin. Bis in den allerletzten Winkel der Welt.
Wenn ein Produkt nichts kostet, ist der Empfänger die Ware, dieser kapitalistische Grundsatz gilt auch beim Wonderbag. Es geht um die Frauen in Afrika. Um die richtig armen. Um sehr sehr viele davon.
Pfizer braucht große Datenmengen für große Impfstudien und –projekte; Sarah Collins hat eine Millionen Datensätze im Angebot, davon etliche in Echtzeit.
Und zuletzt noch dies: Sarah Collins’ Kochkissen sparen CO2.
Treibhausgase werden international als Carbon-Credits gehandelt..
Die Climate Neutral Group zum Beispiel gehört zum führenden Karbonmanagement und ist ein bedeutender Offset-Anbieter. Sie arbeitet mit Firmen wie Natural Balance zusammen und mit Firmen aus den Industrieländern, die ihre Emissions-Bilanzen sozial verantwortlicher gestalten wollen. Und steuergünstiger natürlich auch.
Der Wonderbag hat das CNG-Zertifikat.
Sarah Collins ist 2013 zum Weltwirtschaftsforum nach Davos eingeladen worden und hat eine Menge Leute kennengelernt.
Microsoft ist auf sie aufmerksam geworden und hat für etliche tausend eingesparte Tonnen Kohlendioxid den Ablass bezahlt. Inzwischen scheint das nicht mehr so gut zu laufen, aber inzwischen hat Sarah Collins den Fuß in Big Data. Im richtig großen Geschäft.
Und ich hätte beinah 69 Euro berappt, weil von den Deals mit Microsoft und Pfizer und Unilever natürlich nichts auf der Webseite steht.
Damit wäre Sarah Collins dem allseitigen ökonomischen Idealfall des Neoliberalismus noch einmal etwas näher gekommen, als sie ohnedies schon ist. Get something for nothing.
Es gibt übrigens auch einen Film auf Youtube, in dem Syrerinnen die Vorzüge des Wonderbags entdeckt haben und schildern.
Und es liegt auf der Hand: das Ding ist wie gemacht für prekäre Lagen, für Lebensgefahr, für zerschossene Häuser und Heimatstädte, für die Flucht vor Bomben und Drohnen, man kann es dekorativ auf dem Kopf durch die zerstörte Gegend balancieren bis an die Grenzen, bis ans Meer, bis nach Libyen ins Flüchtlingslager, man kann es überall gebrauchen, wo die Energie knapp ist und künftig noch knapper wird, auch in München oder Berlin, wenn einen dort als alleinerziehende Mutter die Altersarmut erwischt hat und man die Wohnung nicht mehr heizen kann, weil Arbeit nicht mehr bezahlt wird. Get more for less. Get something for nothing.
Anderthalb Liter Wasser. Drei Tassen Bohnen. Hühnerbrühwürfel. Chicken flavoring.
In München von Knorr, in Aleppo von Rajah.
Eine dritte Geschichte möchte ich jetzt auch noch erzählen. Sie ist nicht so prachtvoll wie die beiden ersten, eher hässlich, dafür ganz kurz.
Manchmal verkaufen Firmen Dinge, die nicht so ganz gesund sind.
Sobald die Öffentlichkeit anfängt, sich darüber Sorgen zu machen, dass ein Produkt etwa Schaden anrichten könnte, gründen die Firmen, die das Produkt verkaufen, gern Thinktanks, deren Aufgabe es ist, die Verbraucher davon zu überzeugen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, weil a) das Produkt keinesfalls ungesund ist und b) andere Produkte ebenfalls ungesund sind und c) das alles von Experten kontrovers beurteilt wird, man es also so oder auch andersherum oder einstweilen erst einmal gar nicht einschätzen kann, weshalb weitere Studien in dieser Sache erforderlich sind, bevor abschließend darüber entschieden werden kann, ob beispielsweise die Verwendung von Insektiziden dazu führen könnte, dass Insekten sterben, oder eher nicht.
Als in den Vereinigten Staaten im Jahr 1953 ein paar Zeitungsartikel die damals schon längst bekannte Gesundheitsproblematik des Zigarettenrauchens flächendeckend publik machten, gründete die Tabakindustrie flugs ein Forschungskomitee (das Tobacco Industry Research Comittee, abgekürzt TIRC), das die Aufgabe hatte, mittels getürkter wissenschaftlicher Junk-Studien die Öffentlichkeit zu verwirren und über die Gesundheitsbeeinträchtigungen in die Irre zu führen. Dabei waren ihr die PR-Firma Hill und Knowlton sowie ein paar notorisch käufliche fachfremde „Experten“ mit zweifelhaften wissenschaftlichen Qualifikationen behilflich.
Versehentlich wurde Jahrzehnte später ein internes Memo des Tabak-Konzerns Brown & Williamson aus dem Jahr 1969 publik, in dem folgende Formulierung auftauchte, die seitdem berühmt ist, wenn es um die gezielte Verwirrung, Fehlinformation sowie die Verbreitung von Ignoranz in der Öffentlichkeit geht (ich lese Ihnen die deutsche Übersetzung vor, die meine Freundin Ebba Drolshagen mir freundlicherweise gemacht hat):
„Unser Produkt ist der Zweifel, denn das ist die beste Strategie, jenen ‚Fakten’ entgegenzutreten, die die breite Öffentlichkeit für wahr hält.“
“Doubt is our product since it is the best means of competing with the ‘body of fact’ that exists in the mind of the general public.”
In den neunziger Jahren stolperte der amerikanische Wissenschaftshistoriker Robert Proctor über diese Formulierung. Er untersuchte, wie die Tabakindustrie vorgegangen ist und seitdem viele andere Lobby-Einrichtungen vorgehen, und kam zu dem Schluß, dass die Industrie auf vielfältige Weise und mit großen Erfolgen vorsätzlich an der kulturellen Verbreitung von Unwissen in der Bevölkerung arbeitet. Diese gezielte Verbreitung von Unwissen nennt Proctor „Agnotologie“. Sie ist inzwischen längst als ein ziemlich raffiniertes und perfides Merkmal neoliberaler Herrschaftstheorie und –praxis erkannt und analysiert worden.
Auf Proctors Arbeit aufbauend, publizierten vor wenigen Jahren Naomi Oreskes und Erik Conway – beide ebenfalls Wissenschaftshistoriker – ein Buch mit dem Titel „Merchants of Doubt“, also „Händler des Zweifels“, in dem sie unter anderem detailliert schildern, wie mittels diverser Verblödungskampagnen die alarmierenden Ergebnisse sehr vieler wissenschaftlicher Arbeiten zum Klimawandel in Zweifel gezogen, die Reputation der Forscher und Autoren angegriffen, teils schwer beschädigt oder zerstört sowie in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt wurde, die Sache selbst sei nichts als ein Hirngespinst irgendwelcher Kommunisten, die sich das ausgedacht hätten, um den freien Markt an seiner Entfaltung zu hindern, was das schlimmste aller Vergehen ist, gegen das die wirklich großen Geschütze aufgefahren werden müssen. Diese großen Geschütze sind dazu da, das Verhältnis der Menschen zur Wirklichkeit zu zerstören und Realitätsdefizite herzustellen, in die dann die jeweiligen Industrieprodukte geschüttet werden können, bevor sie weggeschmissen werden wie braun gewordene Äpfel.
Jetzt habe ich doch so weit ausgeholt, um Ihnen anzudeuten, in welchem großen Zusammenhang die kleine hässliche Geschichte steht, die nun kommt:
Nach dem inzwischen nun wohlbekannten, ausgiebig analysierten und immer wieder gern kopierten Beispiel der Tabakindustrie gründeten einige Automobilkonzerne vor etwa zehn Jahren die EUGT, die „Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit im Transportsektor“, der die respekteinflößende Aufgabe übertragen wurde, „Aus- und Wechselwirkungen zwischen Emissionen, Immissionen und Gesundheit intensiver zu untersuchen“.
Im Klartext heißt das für jeden, der sich mit agnotologischen Verfahren auch nur zehn Minuten lang beschäftigt hat: die EUGT sollte Zweifel unter die Leute bringen und der wissenschaftlich hinlänglich erforschten und gesicherten Tatsache entgegentreten, dass Stickstoffdioxide, also Dieselabgase, giftig sind.
Der Chef der EUGT, Ulrich Eichhorn, der heute Entwicklungschef bei VW ist, ließ in einem Newsletter im Jahr 2013 mal folgenden surrealen Knüller raus:
„Man könnte fast sagen, dass ein moderner Diesel in vielen Situationen sozusagen die Luft reinigt.“
Um diesen Schwachsinn wirksam in die Köpfe der potentiellen SUV-Kundschaft zu schleusen, beauftragte die EUGT für etwa 650.000 Dollar das Lovelace-Labor in Albuquerque mit Tierversuchen und die Uni-Klinik Aachen mit einer Studie an Menschen, und dabei ging zweierlei schief: erstens waren die Forscher in Albuquerque offenbar ziemliche Amateure beim Versuchsaufbau, jedenfalls kriegten sie mit ihren Affen nicht die Ergebnisse hin, die hätten rauskommen sollen, sondern die Bedieselung war doch so schädlich für die Tiere, wie man vorher schon gewusst hatte; die 650.000 Dollar waren also in den Teich gesetzt, und zweitens bekam die Öffentlichkeit Wind von der Sache mit den Affen in Albuquerque und den 25 Versuchsmenschen in Aachen, und die Öffentlichkeit mag aus irgend einem Grund keine Tierversuche.
Da sind sie eigen, die Konsumenten, nicht nur in Amerika, wo sie zwar praktische weiße Apfelscheiben aus Tüten essen, aber vorsichtshalber hat Neal Carter doch dafür gesorgt, dass auf den Tüten nichts von der Enzymamputation draufsteht. Das sind so Reizwörter beim Verbraucher: Genmanipulation. Tierversuch. Glyphosat. Chlorhuhn. Da sollte man als verantwortungsbewusstes Unternehmen Rücksicht drauf nehmen.
Die kleine Diesel-Anekdote ist deshalb so hässlich, weil sie beleuchtet, welche Rolle die Medien – neben der Wissenschaft natürlich – im agnotologischen Alltag spielen und wes Lied sie singen: Denn anstatt abzuwinken und darauf hinzuweisen, dass hier eine der sehr banalen und außerordentlich unoriginellen Copy-and-paste-Varianten der guten alten Tabakindustrie-Kampagne vorliegt, wie sie täglich praktiziert werden, um Käufer übers Ohr zu hauen, haben die Zeitungen und Sender der Republik allüberall hysterische Aufregung produziert, als sei gekaufte Wissenschaft mit oder ohne Affen einmalig, skandalös und ein nie dagewesener Verstoß gegen etwaige ethischen Prinzipien, von denen ich befürchte, dass sie irgendwie mit Tierliebe und deren Verletzung zusammenhängen könnten.
Die Ethik-Kommission der Universität Aachen, die über die Zulassung des Versuchs mit menschlichen Probanden vorab zu entscheiden hatte, war jedenfalls nicht alarmiert gewesen (wieso auch, so geht Forschung seit jeher), allerdings fand sie auch nichts dabei, von der Industrie angeheuert zu werden, weil die Unabhängigkeit der Wissenschaft inzwischen offenbar keinesfalls mehr dadurch beeinträchtigt scheint, dass staatliche Forschung von privaten Firmen gesponsert wird. Lidl spendiert der TU München zwanzig Professuren.
Der Umstand, dass es so etwas wie Gesellschaften nicht mehr gibt, hat tiefgehende Auswirkungen auf die Geschichten, die über die Welt erzählt werden und mit deren Hilfe das kollektive Gedächtnis sowie kulturelle Kontinuitäten, Gewissheiten und Übereinkünfte nicht mehr erhalten und weitergegeben, sondern seit Jahrzehnten konsequent, absichtsvoll und hoch effizient vernichtet werden.
Das seit einigen Jahren sogenannte „Narrativ“ entsteht nämlich nicht einmal mehr zu kleinen Teilen in den Bevölkerungen, bei den darin lebenden Menschen, denen etwas begegnet, zustößt, die etwas herausfinden, entwickeln, weitergeben, verändern, erzählen, sondern im 21. Jahrhundert werden Geschichten allesamt von oben, von den Institutionen, Universitäten, Denkfabriken, Thinktanks, Agenturen, Zeitungen und Verlagen hergestellt und diffundiert, die im Auftrag der Mächtigen für die Marktförmigkeit der Wirklichkeit sorgen und diesem Auftrag gerecht werden, indem sie auf allen Kanälen und in allen Netzwerken mit erheblicher Penetranz außerordentlich krudes Zeug von unterirdischer Qualität verbreiten, das wesentlich die Funktion hat, die Empfänger der irren Botschaften im Zustand fortgesetzter Gedanken- und Bewusstlosigkeit darüber zu halten, dass es die Welt, die ihnen suggeriert wird, nicht gibt.
Dennoch sind die Geschichten, selbst wenn es nur mehr verstümmelte Schwundstufen von Erzählungen sind, noch immer mit Spuren der Wirklichkeit kontaminiert, von der sie ablenken sollen, damit noch ein paar Milliarden Daten gesammelt und ein paar Geschäfte gemacht werden können, bevor uns der ganze Laden um die Ohren fliegt.
Allmählich wird die Zeit knapp, die Geschichten werden dünner, die Aktivitäten hektisch, im Wettlauf mit dem Klimawandel werden noch letzte Geschäfte in der letzten Hütte gemacht, bevor Kapstadt ab Mai kein Wasser mehr hat, der „day zero“ droht nicht nur Südafrika, und jeder Mensch auf dieser Welt weiß, dass das Zeitalter billiger fossiler Energien vorbei ist.
Ich werde heute Abend nicht ausführlich erläutern, warum das so sicher ist wie das Amen in der Kirche, weil ich denke, dass jeder, der des Lesens noch mächtig ist, sich inzwischen darüber informiert haben oder das bei Gelegenheit nachholen kann.
In der Sache beschränke ich mich auf ein paar wenige Grundbemerkungen.
Dass uns der Laden um die Ohren fliegen wird, hat mit dem Umstand zu tun, dass wir in einem komplexen System leben, das – wie jedes komplexe System – von Energie betrieben wird und somit den physikalischen Gesetzen der Thermodynamik unterliegt. Wer etwas darüber lernen möchte, warum komplexe Systeme kollabieren und was das damit zu tun hat, dass sie mit Energie betrieben werden, sollte unbedingt das grundlegende und wunderbare Buch lesen, das der Historiker und Anthropologe Joseph Tainter im Jahr 1989 darüber geschrieben und kürzlich als Gratis-PDF ins Internet gesetzt hat: The Collapse of Complex Societies (http://wtf.tw/ref/tainter.pdf). Spannend zu lesen ist es auch, und viele kluge Systemtheoretiker heute nehmen Tainter zum Ausgang für ihre Arbeiten.
Im Unterschied zu früheren Systemen, wie Joseph Tainter sie untersucht hat, ist unser globales System allerdings ein Sonderfall. Das liegt daran, dass es seinem Wesen nach als kapitalistisches Wirtschaftssystem auf dem Gedanken des Wachstums ohne Ende beruht. Die Akkumulationspolitik, verbunden mit der Idee des Fortschritts, hat eine Zeitlang zu einer gewaltigen Veränderung der menschlichen Lebensbedingungen geführt, nämlich genau so lange, wie das System durch die Nutzung enormer Mengen nicht erneuerbarer fossiler Energien am Laufen gehalten werden konnte.
Die Nutzung fossiler Energien, dies nur zur Erinnerung, war möglich, nachdem die Menschen vor ein paar hundert Jahren entdeckt hatten, dass unter der Erdoberfläche etwas liegt, was die Sonne dort innerhalb einer halben Milliarde Jahre ihrer Arbeit auf unserem Planeten als energetische Reserve deponiert hatte. Eine Rechnung für ihre Arbeit lag nicht bei, also betrachtete die Menschheit das Zeug als geschenkt und bediente sich ein paar Jahrhunderte lang ausgiebig, phantasierte etwas von ewigem Fortschritt, entwickelte energieabhängige Technologien und Lebensweisen, hielt sich – jedenfalls der davon profitierende männliche Teil der Menschheit – für den Master of the Universe, kümmerte sich nicht um die Nebenwirkungen und Spätfolgen, und demnächst gehen die fossilen Energien zur Neige, aber schon jetzt hat ihre Nutzung angefangen, sehr unökonomisch zu werden, indem nämlich seitens der Industrienationen sehr viel Energie aufgewendet werden muss, um die noch verbliebenen, nicht mehr so zugänglichen und nicht mehr so hochwertigen restlichen Ressourcen überhaupt – auf friedlichem oder kriegerischem Wege – aus der jeweiligen Erde rauszubekommen, in der sie lagern, sodann zu bearbeiten, zu transportieren und an die Nutzer zu bringen sowie sich mit den gigantischen Umweltschäden herumzuschlagen, die von energiebetriebener industrieller Produktion und Lebensweise verursacht werden und richtig was kosten, was möglichst diejenigen Leute in den Industrienationen, die dafür aufkommen müssen, lieber nicht erfahren sollen, wofür der ganze aufwändige agnotologisches Medien- und Wissenschafts-Zirkus notwendig geworden ist, der gewaltige globale Budenzauber.
Im Jahr 2008 wurden auf der Erde täglich folgende Mengen nicht erneuerbarer Energien verbraucht: 84 Millionen Barrel Öl, 12,5 Millionen amerikanische Tonnen Kohle sowie 8 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Von dieser energetischen Überfülle profitierten wesentlich die obersten Schichten der Bewohner in ein paar reichen Industriestaaten, der überwiegende Rest der Welt ging so gut wie leer aus, wenn er die westliche Prasserei überlebt hat. Übrigens hatten auch ungezählte Tierarten, die ehemals mit den Menschen gemeinsam die Erde bewohnt haben, keine Chance. Die sind unwiederbringlich hin. Anthropogene Defaunierung sagen Wissenschaftler dazu und streiten sich nach bester agnotologischer Manier über die genauen Gründe und Einzelheiten des Massen-Aussterbens, weil es kaum zu glauben sein kann, dass Tierarten – ebenso wie Pflanzen – einfach weg sind, wenn man sie ausgerottet hat, weil man die Natur auf jede mögliche Art und Weise in die Knie zwingen will.
Kein Geheimnis wiederum ist es, dass die Ressourcen-Deponien, die unsere liebe Sonne uns unter die Erde gelegt hat, nicht im Abonnement erfolgen, sondern auch da gilt: Was weg ist, ist weg. Genauer gesagt: ein Teil ist weg, ein Teil ist als Dreck in die Luft gejagt, und einer türmt sich als mehr oder weniger giftiger Müll am Wegesrand der Menschheit in den Himmel. Dennoch denken unbegreiflich viele Bewohner der sogenannt aufgeklärten Industrienationen, a) dass sie ihren energieabhängigen Lebensstil ewig beibehalten können und b) dass irgendwann die Bewohner der restlichen Erdteile auch zu Wohlstand und Reichtum gelangen können und werden, wenn sie sich nur anständig dafür verschulden.
Jedes Kind sieht, dass das absolut bescheuert ist.
In den 70er Jahren hat der Systemökologe Charles Hall den Begriff „Energy Return on Energy Investment“ (EROI) geprägt, der bedauerlicherweise die Öffentlichkeit nicht erreicht hat, sonst wäre sie nämlich im Bild über den Umstand, dass wir jetzt tatsächlich am Ende des fossilen Zeitalters angelangt sind, weil der besagte EROI für Erdöl in den meisten Teilen der Welt schon seit längerer Zeit sinkt, alle anderen Energieformen sind entschieden noch teurer, unwirtschaftlicher und können sich wie überhaupt der gesamte göttliche Weltmarkt nur durch Subventionen und eine halluzinatorisch irre XXL-Schuldenwirtschaft halten; die Finanzkrise des Jahres 2008 ist vermutlich der letzte Warnschuss gewesen, was nichts anderes heißt, als dass das Wirtschaftswachstum unseres westlichen Industriesystems unwiderruflich vorbei ist., wobei es keine Rolle spielt, ob das in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren der Fall ist, begonnen hat es bereits.
Als ich die Nachricht zum ersten Mal gehört und verstanden habe, war ich 16 oder 17 Jahre alt. Die Prognose war damals: pi mal Daumen in vierzig Jahren wird es eng.
1973 erschien das Buch „Grenzen des Wachstums“. Es führte aus, dass diese Grenzen im Ökosystem der Erde Anfang des 21. Jahrhunderts erreicht bzw. überschritten würden. Viele Millionen Menschen lasen das, und wer es gelesen hatte, wusste, worum es ging und vor allem, was jetzt in den Industriestaaten zu tun wäre: Energieverbrauch runter, und zwar sofort. „Sofort“ hieß, wenn wir es von heute aus sehen: vor etwa 45 Jahren.
Wer auf einem finiten Planeten lebt, kann nicht mehr verbrauchen, als der Planet hergibt.
Das gilt für jeden einzelnen Menschen. Für jeden. Für mich selbstverständlich auch, ebenso für Sie.
Das gälte für jeden einzelnen Menschen, wenn es noch Gesellschaften gäbe, aber die sind längst abgeschafft, und seitdem ist der Energieverbrauch zur Freude der Konzerne nicht gesenkt, sondern drastisch gesteigert worden mit den Folgen, die jeder Bewohner der Erde mehr oder weniger genau kennt, auch wenn die Agnotologie dafür sorgt, dass die Temperatur- oder Meeresspiegelanstiege für die nächsten Jahrzehnte „umstritten“ sind und so ein Temperaturanstieg im übrigen möglicherweise eine feine Sache für die Menschheit sein könnte, welche delirante Aussage kürzlich Scott Pruitt, Chef der amerikanischen Umweltbehörde, zum besten gegeben hat (https://www.theguardian.com/environment/2018/feb/07/epa-head-scott-pruitt-says-global-warming-may-help-humans-flourish).
Was genau seit den siebziger Jahren mit den Köpfen der Leute passiert ist, weiß ich nicht, aber eines ist sicher: Die vielen Millionen Leute, die damals ernsthaft über die Grenzen des Wachstum nachgedacht und gesprochen haben, müssen dem allgemeinen flächendeckenden Artensterben oder einer nie dagewesenen Gehirnwäsche zum Opfer gefallen sein, möglicherweise sind sie, wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan, an Alzheimer erkrankt: Bis auf sehr sehr vereinzelte Exemplare sind sie jedenfalls alle weg und verschwunden, und fast alle von denen, die noch am Leben sind, erinnern sich an nichts; bekanntlich ist der Fortschritt ungebremst weitergegangen, ein Fortschritt, von dem längst jeder weiß, dass er nichts anderes ist als der Abgesang auf eine reichlich abgefuckte bulimische Völlerei für die paar Reichen und Schönen auf dem Oberdeck der Erde, ein Fest der Dummheit, Arroganz und Gier, für das die anderen, Menschen, Tiere, alles was lebt, bezahlt haben und bis zur letzten Meile weiter bezahlen werden.
Das vierzigjährige große Vergessen einiger nicht ganz unwichtiger Tatsachen ist deshalb sehr schlimm, weil es in den siebziger Jahren streckenweise wirklich großartige Ideen gab und man damit hätte anfangen können, den maschinen-technologie-elektronisch-digitalen Macho-Irrweg so allmählich aufzugeben und sich weniger metastasierenden, solidarischeren und freundlicheren Lebensweisen zuzuwenden. Stattdessen kam Margaret Thatcher damit an, dass es so was wie Gesellschaft nicht gäbe, und je länger ich darüber nachdenke, umso logischer scheint mir der Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Alzheimer, jedenfalls:
Die Mauer fiel, der Westen hatte gesiegt (to conquer) und zelebriert seitdem ausgiebig seinen Triumph, und dadurch sind in den vergangenen vierzig Jahren ein paar Türen zugefallen, durch die man noch halbwegs passabel und human in die Zukunft hätte schlüpfen können. Diese Zukunft wird natürlich nicht leichter anzugehen sein, je später man mit dem Transit dahin anfängt, weil man lieber noch weiter und weiter bis zum Tag Zero an der Leugnung der Lage festhält, am Kampf jeder gegen jeden, am Coffee to Go in der linken und dem Smartphone in der rechten Hand auf dem Weg vom teuren Wohnkäfig zum wackeligen Arbeitsplatz, der morgen aufgelöst sein kann, wegdigitalisiert, wenn ich nicht in meine Effizienz investiere und dem Kollegen den Ellenbogen in den Bauch ramme. Dann übrigens auch.
All dies ist auch deshalb schlimm, weil junge Menschen, die nach 1989 in den Industrienationen geboren wurden, kaum mehr eine Chance hatten, den Fatalitäten zu entrinnen, die es bedeutet, eine virtuelle Kindheit zu haben.
Nicht dass wir uns falsch verstehen: eine virtuelle Kindheit in Berlin ist nicht so tragisch wie eine physische in Südafrika, Bangladesch oder im Jemen, beispielsweise.
Tragisch ist sie allerdings auch. Schon deshalb, weil die virtuelle Kindheit in Berlin mit der sehr physischen Kindheit anderswo direkt verbunden ist, aber vor allem deshalb, weil junge Menschen, die in den achtziger oder neunziger Jahren oder noch später in industriellen Ländern geboren sind, tatsächlich einfach keine Gesellschaft mehr kannten und keine Alternative hatten. Ihre Kindheit fand zu fast 100 % in künstlicher Beleuchtung statt und war durch und durch medial strukturiert, die Kleinen hingen an Bildschirmen, Strippen und Knöpfen, ihre Wirklichkeit enthielt von morgens bis abends genau den Stoff, der der Welt jetzt ausgehen wird, ihr Fläschchenbrei, ihre Wegwerf-Windeln, ihr Schoko-Riegel waren mit Erdöl gemacht und in Erdöl verpackt, genau wie das Babyphone, mit dem ihre Eltern auf sie aufpassen konnten, ohne an ihrem Bettchen sitzen zu müssen, das Wiegenlied aus dem wirelesse-baby-monitor, ihre Kleidung, ihre Schuhe, ihr Spielzeug, und bevor sie zur Schule gingen, kannten die bessergestellten das ganze synthetische Agentur-Vokabular. „Schadstoffarm“, „zusatzfrei“, „allergen“, und sie plapperten etwas von „nachhaltig“, ohne die geringste Vorstellung davon zu haben, dass ein Leben ohne fossile Ressourcen der Normalfall in der Geschichte der Menschheit war und demnächst wieder sein wird. Bequem ist er nicht, aber möglich ist er allemal, und schön und aufregend und voller Zauber kann er sein, während das gesamte unaufhörlich wechselnde praktische Inventar ihres beschützten Kinderlebens aus massengefertigten Gegenständen bestand, deren Produktion mit Diebstahl, Krieg, Mord und Sklaverei einhergegangen ist und den Planeten in einen Zustand versetzt haben, der später einmal -, viel viel später unsere Nachfahren noch sehr beschäftigen wird. Unsere Nachfahren nämlich werden mit dem teuflischen Erbe leben müssen, das wir ihnen vermacht haben werden, dem Krebs, dem Gift zu Wasser und Luft und der verwüsteten und geschändeten Erde.
Das Gegenteil von „virtuell“ ist bekanntlich physisch.
In seinem Buch „Last Child in the Wood“ spricht der amerikanische Autor David Louv im Jahr 2005 vom Zustand einer „nature-deficite-disorder“ bei Kindern in den sogenannten zivilisierten Gesellschaften. Das sind die mit den „westlichen Werten“. Man kann es Natur-Defizit-Syndrom nennen, eine Unterabteilung des Wirklichkeits-Defizit-Syndroms. Da kriegen die Kinder – und nicht nur die – einen Hau weg, weil sie denken, die Welt sei von Menschen geschaffen.
Und nachdem David Louv im Jahr 2005 darauf gekommen ist, dass man davon bekloppt wird, wenn man denkt, Äpfel wachsen als weiße Scheiben in umweltfreundlichen Tüten, hat jemand ein wunderbares neues pädagogisches Produkt entwickelt, und seitdem gibt es Barfußparks. Die sind nicht so teuer wie die Wonderbags, die meisten haben allerdings saftige Eintrittspreise, die das Barfußlaufen zur gehobenen Mittelschichtsbeschäftigung machen dürften, denn schließlich muss so ein Natur-Parcours für die kleinen Barfüßchen in Schuss gehalten werden, versichert wahrscheinlich auch.
Get something for nothing.
So. Ich glaube, es ist klar geworden, dass ich auch in privaten oder öffentlichen Barfuss-Parks ein gewisses Defizit entdecke und die Sache radikaler angehen möchte.
Das geht heute Abend ganz schnell, weil es unglaublich einfach zu formulieren ist: Energieverbrauch runter, und zwar sofort. Bevor uns der Laden um die Ohren fliegt. Diese einfache Einsicht wurde seit den siebziger Jahren sehr häufig und auch später noch immer mal wieder irgendwo formuliert, zum Beispiel im Hirsch-Report (https://www.netl.doe.gov/publications/others/pdf/Oil_Peaking_NETL.fpd) , den das amerikanische Umweltdepartment in Auftrag gegeben hatte und der 2005 publiziert und kurz darauf ins Netz gestellt wurde. Das Ergebnis gefiel den Behörden nicht. Sie nahmen ihn zügig aus dem Netz wieder raus. Alle Beteiligten wurden dazu verdonnert, möglichst nicht darüber zu reden. Schließlich ist er kommentarlos wieder ins Netz gestellt worden und wird seither ignoriert und totgeschwiegen.
Ich zitiere daraus:
„Man muss wirklich sofort mit durchgreifendem Handeln beginnen, weil uns die Zeit davonläuft … Wenn es uns trifft, wird die Tragweite so extrem sein, dass die Menschen zusammenarbeiten und Dinge tun … müssen, die weit über das hinausgehen, an was die meisten von uns im Ernst gedacht haben.“
Wahnsinnige Dinge sind das: zu Fuß gehen, mit Schuhen oder ohne, jeden Tag eigenhändig Essen kochen, backen, Nudeln und Zwiebelkuchen machen, Apfelmus, ein Dach decken, Fenster dichten, Strümpfe stricken und flicken, Wäsche waschen, Stühle reparieren, den Kindern Geschichten erzählen, Märchen vorlesen, sie im Arm halten, mit ihnen in die Pilze gehen, Tomaten und Erbsen ziehen, für sich und seine Leute sorgen, Holunder, Lindenblüten, Kamille, wenn sie krank sind, und noch vieles mehr; abends mit den Hühnern ins Bett, Wärmflaschen an die Füße, Menschen haben das getan, bevor sie angefangen haben, alles zu delegieren und die Gesellschaften abgeschafft waren und niemand es mehr gelernt hat, weil in unserer Welt binnen einiger weniger Generationen das Wissen der Menschheit aus Jahrhunderten, eher Jahrtausenden und noch längerer Zeit fast unwiederbringlich veruntreut worden ist, verwahrlost, verloren gegangen. Bis auf die letzte Hebamme ausgerottet. Weg.
Die letzten Reste davon könnten mit etwas Glück und großer Kraft gerade knapp noch aus der Vergessenheit gezogen werden, die Menschheit wird demnächst nur dann überleben können, wenn ihr wieder einfällt, was das Leben war und wie es ging.
Vieles davon war früher in Frauenhand, bis es anmaßend und stümperhaft umgemurkst und inzwischen beinah total aus der Poesie und Wildheit der Fläche hinaus in die Vertikale des technokratisch-hierarchischen Denken gezwungen wurde.
Vieles stürzt den Anfänger, der sein Leben in die eigene Hand nehmen und vom Kopf auf die Füße stellen möchte, ins Chaos, weil man es nicht einfach so kann, wenn man es nicht gelernt hat und womöglich mit einem Urlaub auf dem Campingplatz verwechselt, irgendwo im Natur-Idyll.
Die Natur ist kein Idyll, keine lila Kuh und kein Osterhäschen.
Sie ist die einzige Wirklichkeit, die wir haben.
Man sollte sie kennenlernen, nicht erobern, besiegen, einnehmen, bezwingen, besetzen, unterwerfen.
Es herrschen Gesetze dort, denen wir unterworfen sind.
Diese Gesetze kann man lernen. Auf 1001 Art und Weise. Es gibt Gemeinschaftsgärten, da kann man damit anfangen, da wird kompostiert und Brennnesseljauche gebraut, Ackerschachtelhalmtee gekocht; da kann man Regenwürmer züchten; anderswo kann man Schafe scheren, Ziegen melken, weben, nähen, tischlern lernen, man kann lernen, Obst und Gemüse einzuwecken, Speck zu räuchern, und es dann tun. Gewohnheitsmäßig. Kontinuierlich. Mit Werkzeug. Mit den Händen. Mit Mathematik, mit Physik. Mit den Ressourcen, die es immer schon gab. Keine Sklaven für sich arbeiten lassen, weder die 40 Millionen lebendigen vom „global slavery index 2017“, deren Blut an fast jedem westlichen T-Shirt und Kinderspielzeug klebt; noch die Dutzende von Energiesklaven, die im Durchschnitt jeder in diesem Land Tag und Nacht für sich arbeiten lässt, weil der Strom aus der Steckdose kommt und die Heizung und der Sprit und Facebook, Youtube, der Coffee to Go, die BitCoins und die Festbeleuchtung.
Als ich vor etwa vierzig Jahren mit dieser Art zu leben anfing, gab es mehrere Bezeichnungen dafür: Herbert Marcuse hatte es schon Jahre zuvor „die große Verweigerung“, genannt, sein Freund André Gorz hatte davon gesprochen, dass man besser freiwillig mit einer sterbenden Gesellschaft brechen sollte, die nicht wiedergeboren würde, als bis zuletzt mitzuspielen. Mein Mann und ich sagten einfach „low-tech“; im offiziellen „Narrativ“, von dem wir wissen, wer das Monopol darauf hat, ist der banalisierende Ausdruck „Aussteiger“ überliefert worden, den die Medien für bzw. gegen Leute verwenden, die sich zu einem freundlich kooperativen, moderaten Lebensstil jenseits dessen entschlossen haben, was damals Konsumterror hieß und es heute noch ist, auch wenn keiner mehr davon spricht.
Wir hatten keine Lust dazu. Wir hatten viel zu viel Freude an unserem eigenen selbst ausgedachten und selbst gemachten Leben, und wir hätten mit dieser Lebensfreude und unserer handfesten Erfahrung gern zum Einstieg in ein ziviles System beigetragen.
Allerdings haben die Bewohner der westlichen Welt mit überwältigender Mehrheit um die Zeit herum den anderen Weg gewählt, von dem unter anderem die Autoren der Kritischen Theorie und André Gorz und noch etliche andere schon vorher gesehen haben, dass es der Weg in die Barbarei sein würde.
Dabei ist eine „simplicité volontaire“ eigentlich gar nichts Spektakuläres, weder romantisch noch besonders bemerkenswert, sondern in etwa das, was meine Großmütter gemacht haben, und zwar Indoor und Outdoor mit Kopf und Herz und Hand und Fuß.
Die Entscheidung für eine moderate Lebensweise hat mich im übrigen nicht daran gehindert, mich mit Literatur, Philosophie, Politik, Kochkunst, Ökonomie, Anthropologie, Geschichte, Psychoanalyse, Religion und noch vielen anderen Dingen zu beschäftigen, zwei, drei Bücher zu lesen und ein paar Texte zu schreiben, die sich – wie sehr viele Texte des vergangenen Jahrhunderts – mit der Welt und der Gesellschaft beschäftigen, in der wir alle gut leben könnten, wenn es sie denn gäbe, aber wir sind nicht mehr im vergangenen Jahrhundert.
„Der alte Süden ist untergegangen“, sagt Clark Gable in „Vom Winde verweht“, als Atlanta brennt.
Es gibt Wichtigeres, als darüber zu jammern, und es gibt Wichtigeres, als etwas zu kritisieren, das es inzwischen gar nicht mehr gibt.
Mir scheint es einleuchtender, möglichst vieles von dem, was ich von meinen Großmüttern gelernt habe und schon immer gut brauchen konnte, auch weiter am Leben zu halten. Es geht um Essen, Kleidung, ein Dach überm Kopf. Und um Gedächtnis, Ökologie, Poesie.
Könnte sein, dass mein Enkel damit was anfangen kann.
Mit dem Menschenwissen aus tausenden Jahren.
Das kann doch nicht so einfach verschwunden sein?
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