Das Gewaltverbot

 In FEATURED, Friedenspolitik

Ein einziger Artikel des Völkerrechts könnte den Frieden bringen. Eines findet zu wenig Eingang in die aktuelle Debatte: Die UN-Charta verbietet nicht nur die Ausübung, sondern auch die Androhung von Gewalt. Beide Verhaltensweisen gehören zusammen und verfolgen ein und denselben Zweck: die Unterwerfung des Gegners. Gerade die Androhung wird jedoch oft in ihren Auswirkungen unterschätzt. Mitunter erzeugt sie erst die Probleme, die sie durch Abschreckung verhindern will. Und es ist beileibe nicht nur Russland, das gegen diese sinnvollen Richtlinien verstößt. Soll der Krieg möglichst rasch beendet werden, müssen sich alle Beteiligten auf Grundsätze besinnen, die es längst gibt, die jedoch fast routinemäßig verletzt werden. Christoph Pfluger

 

Das Gewaltverbot der UNO betrifft sowohl die Anwendung als auch die Androhung von Gewalt. Würde Artikel 2 der UNO-Charta respektiert, könnten Russland, die USA und ihre Vasallen den Konflikt in Verhandlungen beenden.

Schneller als bei irgendeiner Frage der letzten Jahrzehnte hat sich die ganze Welt am 31. März in zwei Lager gespalten. Sie wünschen sich gegenseitig die Niederlage und tun alles dafür, dass sie eintritt. Neutralität scheint unmöglich. Die Welt wird dadurch weder sicherer noch friedlicher. Wer immer gewinnt in dieser Auseinandersetzung: Ein Sieg wird eine Niederlage für alle.

Artikel 2, Abs. 4 der Charta der Vereinten Nationen bestimmt:

„Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.”

Wem andauernd Gewalt angedroht wird, wird früher oder später mit Gewalt antworten.

Verboten ist also nicht nur die Anwendung von Gewalt, wie sie Russland jetzt praktiziert, sondern auch die Androhung. Man kann die beiden Aspekte nicht trennen, nicht nur, weil sie in einem einzigen völkerrechtlichen Grundsatz formuliert werden, sondern weil sie in praktischer Verbindung miteinander stehen. Wem andauernd Gewalt angedroht wird, der wird früher oder später mit der Anwendung von Gewalt antworten.

Ein Rüpel, der seine Mitschüler auf dem Schulhof unter Androhung von Gewalt terrorisiert und sich damit Vorrechte sichert, wird früher oder später echte Gewalt ernten — nämlich dann, wenn die Schüler oder die Schulbehörden erkennen, dass Frieden erst einkehrt, wenn der Unterdrücker unmissverständlich in die Schranken beziehungsweise von der Schule gewiesen wird oder sonstwie eine Lektion in einer Sprache erfährt, die er versteht.

Androhung und Anwendung von Gewalt müssen auch deshalb als Einheit verstanden werden, weil sie dasselbe Ziel verfolgen: Die Unterwerfung des Gegners unter den eigenen Willen. Nicht umsonst sagte der berühmte Stratege Carl von Clausewitz, der Krieg sei bloß die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Es ist das wohl größte Defizit der internationalen politischen Kultur, dass die Androhung von Gewalt, obwohl verboten durch die Charta der Vereinten Nationen, zu einem derart alltäglichen geopolitischen Instrument geworden ist, dass wir ihre Illegitimität gar nicht mehr erkennen, geschweige denn ahnden. Der Schulhof der Menschheitsgemeinde wird von Rüpeln beherrscht, die ungehindert Baseball-Schläger und Schlagringe mit sich führen. Und alle finden das normal.

Die Androhung von Gewalt setzt eine unheilvolle Spirale in Gang

Die Gewöhnung an die Gewaltandrohung ist trügerisch: Wir denken, es würde bei der Drohung bleiben. Aber: Entweder wird die Drohung früher oder später wahr gemacht oder das bedrohte Land antwortet selbst mit Gewalt — wenn es seine völkerrechtlich garantierte Selbstbestimmung nicht aufgibt. Die Androhung setzt also eine unheilvolle Spirale in Gang, die zwingend das Überschreiten einer roten Linie zur Folge hat.

Diese Linie wurde nun im Ukraine-Konflikt in mehrfacher Hinsicht überschritten. Einerseits wird im Donbass seit acht Jahren ein Krieg geführt, der trotz der Waffenstillstandsverpflichtung aus dem Minsker Abkommen nach UNO-Angaben zu mehr als 13.000 Todesopfern geführt hat.

Andererseits ist Russland offenbar zur Erkenntnis gelangt, dass die Auseinandersetzung mit der Nato angesichts der Entwicklung in der Ukraine früher oder später zu größerer Gewaltanwendung führen wird. Es sieht seine Selbstbestimmung durch die wiederholten Wellen von Nato-Osterweiterungen und durch den Aufbau von gegen Russland gerichteten Raketenbasen in Polen und in Rumänien so bedroht, dass es glaubt, nur noch mit Gewalt reagieren zu können.

Aus dieser Gewaltspirale können wir uns nur befreien, wenn wir zu den Prinzipien des Völkerrechts zurückkehren und sowohl die Anwendung als auch die Androhung von Gewalt beenden.

Denn sie verfolgen beide dasselbe Ziel — die Unterwerfung des Gegners — und sie führen zwangsweise zu realer Gewalt.

Was ist denn die Geschichte des europäischen Schulhofs? Da treibt jahrzehntelang ein kolossaler Rüpel mit schwerer Jugend sein Unwesen — die Sowjetunion — und bricht 1991 unter dem Gewicht seiner Untaten zusammen. In der Ära des Trunkenboldes Boris Jelzin bemächtigen sich andere Schüler unter Mithilfe der USA und einiger Oligarchen seiner begehrten Ressourcen und nehmen in einer ersten Erweiterung Polen, Tschechien und Ungarn in ihr Militärbündnis auf.

Als Wladimir Putin 1999 Ministerpräsident und 2000 Präsident des ehemaligen Rüpel-Staates wird, sind die Früherziehung Russlands und seine geopolitische Positionierung  bereits gelaufen. Der republikanische Senator und Präsidentschaftskandidat John McCain wird die Haltung des Westens ein paar Jahre später auf den Punkt bringen: „Russland ist eine gigantische Tankstelle, die sich als echtes Land ausgibt.“

Damit sie dort gegen den Widerstand Russlands möglichst billig tanken können, haben die USA und mit ihr die Nato einiges unternommen: Sie erweiterten ihr Militärbündnis 2004, 2009, 2017 und 2020 in vier weiteren Wellen auf nunmehr 30 Mitglieder, die Russland zunehmend einkreisen. 2001 kündigte George W. Bush den ABM-Abrüstungsvertrag, Trump beerdigte 2019 die INF-Abrüstungsvereinbarung, beides unmissverständliche Signale, dass die Auseinandersetzung zwischen Russland und den USA aus Sicht der US-Regierung durchaus wieder militärische Dimensionen annehmen dürfte.

Gleichzeitig wurden Hunderte von regierungskritischen Organisationen in Russland und der Ukraine durch das „National Endowment für Democracy” (NED) finanziell unterstützt. Das NED ist eine private, aber mit Steuergeldern finanzierte US-Stiftung. Wer zurzeit auf ihrer Website ihre Zuwendungen abfragen will, wird mit der Meldung bedient, die Datenbank sei wegen „Unterhaltsarbeiten” außer Betrieb.

Die Suche nach „NED list of grants to Russia” ergibt mit der Suchmaschine „Startpage” eine vielversprechende Vorschau, die auf die Website des NED führt, aber wegen der dysfunktionalen Datenbank keinen zählbaren Ergebnisse liefert. Eine gute Übersicht liefert dagegen Swiss Policy Research. Es sind mindestens 73 prowestliche oder russlandfeindliche Organisationen in der Ukraine, die von den USA offiziell unterstützt werden.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die USA Russland in den letzten 20 Jahren nicht nur militärisch erheblich unter Druck gesetzt hat, sondern auch außenpolitisch — über die EU und ihren Zusammenarbeitsvertrag mit der Ukraine — und innenpolitisch durch die Finanzierung einer ganzen Reihe von regierungskritischen Gruppierungen.

Letzteres ist zwar nicht als Androhung von Gewalt verboten, aber als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zumindest hochproblematisch. Kein Staat liebt es, wenn seine inneren Gegner von außen finanziert werden.

Der Widerstand Russlands gegen diese Entwicklung auf diplomatischem Parkett war weitgehend wirkungslos. 2007 machte Wladimir Putin während der Münchner Sicherheitskonferenz klar, dass die Nato-Osterweiterungen das Sicherheitsbedürfnis Russlands direkt tangierten und inakzeptabel seien. Gewissermaßen als Antwort begrüßte die Nato auf ihrem Gipfel 2008 in Bukarest die Beitrittsbestrebungen der Ukraine, mit der bereits 1997 eine militärische Partnerschaft vereinbart wurde.

Als letzte diplomatische Maßnahme präsentierte Wladimir Putin den USA und der Nato im Dezember 2021 eine Reihe von Forderungen — unter anderem den Rückzug der Nato auf die Positionen von 1997 und die Deinstallation offensiver Waffensysteme in Grenznähe. Würden diese Forderungen nicht erfüllt, wären „technisch-militärische” Konsequenzen unvermeidlich. Die Beobachter rätselten, ob dies nun ein Ultimatum sei oder einfach eine weitere dringende Aufforderung, die russischen Sicherheitsbedürfnisse zu verhandeln.

Eine letzte Gelegenheit verpassten die beiden Supermächte bei einem Videogespräch Mitte Februar 2022. Nach Angaben des Kremls sagte Putin zu Biden, Washington habe es versäumt, die wichtigsten Bedenken Russlands zu berücksichtigen, und er habe keine „substanzielle Antwort” auf kritische Fragen erhalten, darunter die Nato-Erweiterung und die Stationierung von Offensivkräften in der Ukraine.

Wie kommen wir nun aus der Gewaltspirale?

Die Sanktionen — wirtschaftliche Gewalt — scheinen dazu wenig geeignet. Es ist anzunehmen, dass sich dessen auch die westlichen Führer bewusst sind, die sie anordnen. Warum sie es trotzdem tun, wissen wir nicht. Dazu müssten wir ihre längerfristigen strategischen Ziele kennen, zu denen es allerdings wenig gesichertes Wissen gibt.

Sicher ist, dass die Sanktionen auch Europa hart treffen werden, während die USA nicht nur ihr teures Schiefergas nach Europa liefern können, sondern russisches Erdöl auch nicht boykottieren werden.

An einem Pressebriefing im Weißen Haus vom 24. Februar bestätigte der stellvertretende nationale Sicherheitsberater für internationale Wirtschaft der US-Regierung, Daleep Singh, die Abhängigkeit von russischem Erdöl und sagte einen Atemzug später: „Wir werden nichts tun, was zu einer unbeabsichtigten Unterbrechung des Energieflusses führt, da der weltweite Wirtschaftsaufschwung noch im Gang ist.”

Das heißt nichts anderes, als dass die USA weiterhin russisches Erdöl beziehen und bestimmt auch dafür bezahlen werden. Immerhin ist Russland nach Kanada der größte Erdöllieferant der USA. Wie viele Kriege, wird wohl auch die „Operation” in der Ukraine einen lachenden Dritten haben.

Vermutlich wird es dem Westen jetzt darum gehen, einen schnellen Erfolg der russischen Truppen zu verhindern und angesichts der Schwäche der ukrainischen Armee den Krieg ins Volk zu tragen. Anders sind die Stationierung schwerer Geschütze in Wohnsiedlungen und die wahllose Verteilung von Kleinfeuerwaffen an die Bevölkerung nicht zu erklären. Geradezu verzweifelt wirkt die Unterstützung des britischen Premiers Boris Johnson von Freiwilligen, die in die Ukraine reisen und in den Krieg eingreifen sollen.

Natürlich wird dieser kurze Text und meine kleine Stimme den Krieg in der Ukraine nicht beenden können. Aber es scheint mir wichtig, dass sich die Menschengemeinschaft bewusst ist, dass Regeln bestehen, den Konflikt zu beenden. Sie müssen nur angewendet werden.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Ukraine: Ein einziger Artikel des Völkerrechts könnte Frieden bringen.“ in der April Ausgabe von Ze!tpunkt.

Anzeigen von 2 Kommentaren
  • Love is the answer
    Antworten
    Donovan hat es ja  in es seinem  Lied “Universal Soldier” auf den Punkt gebracht,, 1965, mir erscheint es zeitlos, das Lied, leider hat es nix genutzt, die Menschen sind leider zu blöd, und lassen sich immer wieder aufs Neue manipulieren und gegeneinander aufhetzen. Gute Nacht und viel Glück.Und wer noch hören kann, wer  noch ein Herz hat: bleibt standhaft, widersetzt Euch dem Hass und der Gewalt. Danke und liebe Grüße  https://www.youtube.com/watch?v=A50lVLtSQik
  • minimax
    Antworten
    Es wäre natürlich schön wenn sich die Staaten zueinander nett verhalten würden aber in der imperialistischen Staatenkonkurrenz gibt es keine Moral und warum sollten sich Staaten an ein übergeordnetes Gesetz halten wenn es keine übergeordnete Polizei und Justiz gibt.

    Wenn Staaten gewaltsam aufeinander losgehen, dann hilft nur noch die Verweigerung der Bevölkerung sich hinter die Interessen ihrer Staaten zu stellen. In Deutschland geschieht leider das genaue Gegenteil, das Volk war seit 1939 nicht mehr so Kriegs begeistert wie heute. Es gibt keine Massenproteste gegen die Aufrüstungspolitik und es gibt keine Streiks gegen die Waffenlieferungen.  Staat und Kapital bilden eine Einheit im Kampf gegen den Feind und die Regierung beschwört die Einheit von Volk und Staat im nationalen “Wir”. Mussolini nannte diesen Zustand Faschismus.

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