Die Konformistenschmiede

 In FEATURED, Politik

Eine Studie des Bundesbildungsministeriums empfiehlt für Universitäten ein Sozialkreditsystem wie in China — selbstständiges Denken dürfte dann der Vergangenheit angehören. Bildung und Forschung sind die Grundlagen, auf denen wir in einer Welt des Wandels unsere Zukunft aufbauen. So steht es auch auf der Webseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Abschnitt „Über uns“. Im Schatten der Coronakrise hat das BMBF eine Studie veröffentlicht, in der ebendiese Zukunft näher beschrieben wird. Ein Sozialkreditsystem wie in China wird demnach zur zentralen konstitutiven Größe eines völlig neuen Bildungssystems. Der öffentliche Diskurs dazu ist bisher weitestgehend ausgeblieben und überfällig. Die Studie des Ministeriums bietet eine gute Grundlage hierfür. Mindestens ist sie eine Gelegenheit, Betroffene zu Beteiligten zu machen und umgekehrt. Sie mag vielleicht sogar Anlass dazu geben, eine eigene Stellung zum Thema Bildung zu beziehen. Dieser Artikel wurde aus der Perspektive eines Hochschullehrers verfasst, der besagter Studie als direkt Betroffener kritisch gegenüber steht. Maximilian Ruppert

 

Die Studie zur „Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) trägt die Überschrift „Deutschland in den 2030er-Jahren“ (1). Sie stammt vom August 2020, mit unveränderter Aktualisierung vom 17. Februar 2021.

Vorab ist klarzustellen: Es geht hier nicht um die 20er- und 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts, sondern um die neuen Dreißigerjahre, also um die nahe Zukunft unserer akademischen Bildung. Wenngleich sich manch kritischem Leser gewisse Parallelen aufdrängen könnten, so distanziere ich mich als Autor dieses Artikels ausdrücklich von einem Vergleich.

Im Kapitel 5.5 der Studie des BMBF lesen wir über das angestrebte „Bonus-System“: „In den 2030er-Jahren übernimmt ein digitales, partizipativ ausverhandeltes Punktesystem eine zentrale politisch-gesellschaftliche Steuerungsfunktion.“ Ganz offen wird von einer „erfolgreichen Nutzung des Sozialkreditsystems in China“ gesprochen und dass „auch andere — gemeint sind demokratische beziehungsweise westliche (Anmerkung des Autors) — Staaten über die Nutzung eines solches Systems diskutieren“.

China als Vorbild

Zunächst wirkt es auf mich befremdlich, dass hier ein chinesisches System als „erfolgreich“ bezeichnet wird. Wo wurde in den Medien objektiv über das chinesische Social-Credit-System berichtet? Von einem öffentlichen Diskurs kann man beim besten Willen nicht sprechen. Es gibt dort seit ein paar Jahren auf freiwilliger Basis ein Punktesystem in der Businessvariante und für den Individualbereich, zum Beispiel „Sesame“ in Alipay seit 2015. In etwa ist das mit der in Deutschland bekannten SCHUFA vergleichbar. Aus erster Hand weiß ich, dass das Social-Credit-System in China im Jahre 2019 erneut heiß diskutiert wurde, aber es dann — mangels Akzeptanz? — auf 2021 verschoben und, Stand heute, von Pilotversuchen abgesehen nicht flächendeckend zum Einsatz kommen wird.

Jetzt aber greift der deutsche Staat das auf, und wir müssen von einer entsprechenden Gründlichkeit bei der Umsetzung ausgehen. Diese liest sich gemäß BMBF so: „Für bestimmte Verhaltensweisen können im Punktesystem, das vom Staat betrieben wird, Punkte gesammelt werden, zum Beispiel Ehrenamt, die Pflege Angehöriger, Organspenden, Altersvorsorge, Verkehrsverhalten, CO2-Abdruck. Neben der sozialen Anerkennung ergeben sich durch das Punktesammeln auch Vorteile im Alltag, zum Beispiel verkürzte Wartezeiten für bestimmte Studiengänge.“

Wer zu schnell fährt, falsch parkt oder ein zu dickes Auto besitzt, der wird zur Kasse gebeten. Das mag alles noch recht harmlos erscheinen und wird nicht nur bei Regierungstheoretikern auf Zustimmung stoßen.

Studienplatz nur bei entsprechendem Betragen

Ich war einige Jahre lang Fachberater und Leiter des größten Studiengangs meiner Hochschule, und vielleicht macht mich deshalb der Passus „verkürzte Wartezeiten für bestimmte Studiengänge“ besonders nachdenklich. Bedeutet das: Wer sich nicht wie „partizipativ ausverhandelt“ verhält, der kann das Studieren an einer staatlichen Hochschule auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben?

Das Papier ist auf der offiziellen Internetseite des Ministeriums für jeden seit vielen Monaten verfügbar. Doch wurde es mindestens an meiner staatlichen Hochschule nicht diskutiert und findet bis heute an Hochschulen und Universitäten keine wahrnehmbare Beachtung. Frage ich meine Kollegen, so kennt es keiner. Ich selbst kam nur über einen Hinweis in den alternativen Medien darauf. Vom Inhalt unabhängig betrachtet: Das allein ist ein Skandal.

Ein solch Paradigmen wechselnder Ansatz muss sich in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft einem breiten Diskurs stellen. Stattdessen diskutieren wir an unseren Universitäten und Hochschulen ausführlich die alle Geschlechter berücksichtigende Sprache.

Wer sich diesem Thema verweigert, ist heute mindestens bereits auffällig. Hat meine Kritik am Gender-Mainstream in Zukunft sogar Auswirkungen auf meinen Punktestand im Sozialkreditsystem?

Systemkritik als Luxusgut

Doch weiter im Text aus dem Ministerium: „Somit können Staat und politische Institutionen bestimmte Ziele über Anreize zur Verhaltensänderung verwirklichen — zum Beispiel Steuerung des Arbeits- und Bildungsmarkts — und auch zukünftiges Verhalten genauer prognostizieren. (…) Unternehmen haben die Möglichkeit, an das Punktesystem anzudocken und die Daten nach vorheriger Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu monetarisieren.“

Dass der brave Bürger fürs Punktesammeln von Politik und Unternehmen belohnt werden soll, kommt doch sehr harmlos daher. Zu Ende gedacht bedeutet es nichts anderes als monetäre Vorteile für die Konformen auf Kosten der Unkonformen. Wer wird es sich noch leisten können, das neue Bonus-System zu kritisieren?

Man muss schon arg naiv sein und ein blindes Vertrauen in Regierungen haben, um davon auszugehen, dass ein solches System nicht zur Unterdrückung von „falschen Ansichten“ verwendet wird. Vielmehr reicht relativ wenig Fantasie aus, um sich die möglichen Konsequenzen des in dieser Zukunftsstudie aufgezeigten Systems auszumalen.

Es braucht keine bezahlten Schläger mehr, um friedliche Bürger zu verprügeln und die Meinungsvielfalt auf der Straße zu unterdrücken. Es ist gar nicht mehr notwendig, die sogenannten Qualitätsmedien zu bemühen, Menschen mit eigener Meinung als Radikale zu verunglimpfen. Das soziale Punktesystem der neuen Dreißigerjahre ist womöglich viel wirkvoller als die Gewaltenvereinigung von Politik, Exekutive und „Medislative“ von heute. Die Worte des RKI-Präsidenten, wonach staatlich vorgegebene Regeln „überhaupt nie hinterfragt werden dürfen“, waren im Sommer 2020 noch theoretischer Natur. In den neuen Dreißigerjahren werden seine Worte zur Realität. Das staatliche Punktesystem soll zu einem Selbstläufer werden, und dessen Verwirklichung übernehmen die braven Punktesammler bereitwillig gerne. Es soll spürbare Konsequenzen haben, eine abweichende Meinung zu haben. Dass Bürger, die das Vertrauen in die Regierenden zu untergraben versuchen, in Zukunft verfolgt werden, war bereits 2022 in einem Papier des Verfassungsschutzes zu erkennen. Mit dem neuen Bonus-System wird das in der Umsetzung sehr einfach realisiert.

Kritische Geister an Hochschulen unerwünscht

Von unseren akademischen Bildungseinrichtungen ist kaum Widerstand zu erwarten; so sind diese besonders in den letzten Jahren dadurch aufgefallen, die Staatsdoktrin im vorauseilenden Gehorsam zu 120 Prozent umzusetzen. Dort erfährt der Geist der neuen Dreißiger Beschleunigung, wenn jede einzelne Hochschule die andere bei der Pflichterfüllung übertreffen will. Und vielleicht werden an meiner Hochschule in naher Zukunft kollektiv gesammelte Punktestände einzelner Fakultäten gegeneinander verglichen, und die mit dem höchsten Stand bekommen zusätzlich Fördergelder oder mindestens mehr Beachtung seitens der Hochschulleitung. Auf Grundlage meiner eigenen Erfahrungen dort kann ich mir genau ebendies vorstellen.

Das führt wiederum dazu, dass man von dieser Seite ganz genau hinsieht, wen man zum Professor oder zur Professorin beruft. Wird dann der Punktestand sogar ein maßgebendes Kriterium sein? Freilich ist Freiwilligkeit stets vorausgeschickt. Die Suche nach dem Wörtchen „freiwillig“ hat in der zitierten Studie gleich 16 Treffer.

Wer seinen Punktestand aber — aus gutem Grunde? — bei der Bewerbung nicht offenlegt, der wird nicht gelistet. Dafür werden die Systemkonformen schon sorgen. Das Ende vom Lied wird sein, dass an Hochschulen systemkonforme Schüler von systemkonformen Lehrern systemkonform unterrichtet werden.

Eine solche Bildungseinrichtung wird nicht nur langweilig. Das hat auch Auswirkung auf die Innovationskraft unseres Landes und damit auf uns alle. Gab es jemals eine echte Innovation, die einem Club von Konformisten entsprang? Als Professor, der unter anderem das Fach „Technology Development & Innovation Management“ im Master lehrt, frage ich genau dies meine Studenten in der ersten Vorlesungsstunde. Es waren stets die Unangepassten, die unsere Gesellschaft auf lebenswerte Art und Weise voran gebracht haben.

Identifikation verdrängt Individualität

Mit dem angestrebten Bonus-System werden Menschen formatiert, was der Grundidee einer freien Entwicklung gerade im Bereich der akademischen Bildung zuwiderlaufen muss. Es widerspricht dem humanistischen Ideal und verhindert unabhängige Forschung. Innovationskraft und die Chance auf eine lebenswerte Zukunft werden so womöglich zerstört.

In den neuen Dreißigerjahren „beginnt in Deutschland ein (…) Punktesystem, (um) Anreize zur Verhaltensänderung zu setzen“. Es scheint also nicht mehr zur Debatte zu stehen, sondern „beginnt“ bereits bald, und wohin es führt, ist absehbar: Ein solches System ist der Selbstzerstörung geweiht. Es wird aber genauso wie alle bisherigen totalitären Fantasien zunächst kollateralen Schaden anrichten, um dann letztendlich scheitern zu müssen.

„In den neuen Dreißigerjahren ‚beginnt in Deutschland ein (…) Punktesystem, (um) Anreize zur Verhaltensänderung zu setzen‘.“ — man muss den Satz mindestens zweimal lesen: Unser Verhalten soll sich also so verändern, wie es die der Politik folgenden Meinungsmehrheit vorgibt.

Dein Verhalten wird bewertet und entscheidet über deinen Wert

Dieses staatlich organisierte System wird dafür sorgen, dass systematisch die „Unwerten“ ausgegrenzt, benachteiligt und dauerhaft abgehängt werden. So entsteht Konformismus, total und radikal. Für die akademischen Bildungseinrichtungen heißt das: Statt der Entwicklung von einzelnen Persönlichkeiten entsteht eine Gleichrichtung aller Personen. So wird die Uridee von Bildung negiert, der universitäre Sinn wird auf den Kopf gestellt, und Individuen werden auf die „Ressource Mensch“ reduziert, um einem vordefinierten System dienstbar gemacht zu werden.

Am Ende wird aber nicht ein einzelner Anführer, eine Partei, eine Koalition, eine Institution oder ähnliches die Schuld an diesem Dilemma tragen. Vielmehr hat sich die Gesellschaft als Ganzes schuldig gemacht. Jeder Einzelne wird sich später zurückziehen wollen — seine Teilschuld ist ja relativ gering. Denn: „Wo alle schuld sind, ist es keiner“ (Hannah Arendt).

Spaltung der Gesellschaft in Punktesammler versus Dauerabgehängte

In besagter Studie des BMBF ist durchaus auch von Kritik zu lesen: „Das Prinzip der Freiwilligkeit war in der Debatte vor der Einführung zentral. Kritikerinnen und Kritiker betonten in der Debatte immer wieder, dass auch ein freiwilliges System sozialen Druck zur Teilnahme erzeugt.“ Doch gleich weiter im Text heißt es: „Die Zustimmung zu diesem Punktesystem stieg in Deutschland auch durch die Dynamik des Klimawandels. Dies erzeugte Handlungsdruck zum Gegensteuern, wobei sich ein Punktesystem als effizienter Steuerungsmechanismus zum Umgang mit den Folgen des Klimawandels entpuppte. (…) (Es) entstehen neue Konflikte: So fällt es den ‚Dauerabgehängten‘ schwer, niedrige Punktestände wieder auszugleichen. Das Punktesystem an sich wird nur noch von einer Minderheit infrage gestellt, die sich aber in ihrer Position nicht repräsentiert sieht.“

Bereits im August 2020 wurde also allen zukünftigen Kritikern des Systems offiziell ein Titel verliehen: „Dauerabgehängte“.

Die Frage, ob dieser Titel irgendwelchen Fantasien von selbsternannten Philanthropen entspringt oder reine Verschwörungstheorie ist, stellt sich nicht mehr. Das ist nun ein seitens unserer Regierung gewählter Begriff, festgehalten in einem offiziellen Papier des Ministeriums für Bildung und Forschung.

Selbstdenken ist Voraussetzung für eine menschliche Gesellschaft

Lieber studierender „Punktesammler“! Als Ingenieur, der jahrelang unternehmerisch tätig war und viele Akademiker angestellt hat, sage ich dir bereits heute: Ein hoher Punktstand im neuen Sozialkreditsystem ist keine Auszeichnung, höchstens ein Indiz für deine Anpassung an ein zum Scheitern verurteiltes System.

Liebe nichtstudierendürfende „Dauerabgehängte“! Womöglich kommt bei euch das alles als Dystopie an. Es gibt aber auch immer eine glänzende Kehrseite jeder dreckigen Medaille: Beispielsweise feiert „Die Akademie der Denker“ (2) Anfang der 2030er-Jahre ihr 10-jähriges Jubiläum und bietet bereits heute Selbstdenkern ein „Studium Generale“ an.

Die Welt braucht mehr denn je kritische Individuen. Und falls dieses im Schatten der Coronakrise erstellte Szenario einer möglichen „Zukunft (…) in unserem Land“ zur Wirklichkeit wird, dann sind Selbstdenker an staatlichen Hochschulen unerwünscht. Es ist also höchste Zeit, dass die zitierte „Minderheit“ dieses neue Bildungssystem offen und laut infrage stellt, solange das noch ohne Punktabzug funktioniert. Als Autor dieses Artikels verfolge ich nicht weniger und nicht mehr als das Ziel, zum Selbstdenken aufzurufen. Hannah Arendt sagte es uns einst recht deutlich: „Man könnte wohl sagen, dass die lebendige Menschlichkeit eines Menschen in dem Maße abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet“ (3).

Quellen und Anmerkungen:

(1) „Studie (Langfassung): Zukunft von Wertvorstellungen der Menschen in unserem Land“, „VORAUS:schau — Orientierung für die Welt von Morgen“, https://www.vorausschau.de/SharedDocs/Downloads/vorausschau/de/BMBF_Foresight_Wertestudie_Langfassung.html, Bundesministerium für Bildung und Forschung, Februar 2021.
(2) www.die-akademie-der-denker.de
(3) Hannah Arendt: „Menschen in finsteren Zeiten“, herausgegeben von Ursula Ludz, PIPER Verlag, April 2012.

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.

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