Die Reise zum inneren Heiligtum

 In FEATURED, Roland Rottenfußer, Spiritualität

Auch heute pilgern Menschen, weil etwas in ihnen „aufbrechen“ will. Pilgern in modernen Zeiten ist nach außen hin eine recht nüchterne Sache: Herbergssuche, leichtes Gepäck, Spaß mit Weggefährten … In gewisser Weise sind Wallfahrten seit Hape Kerkelings Bestseller über den Jakobsweg heute sogar wieder „cool“ oder gar „kultig“. Trotzdem fühlen sich viele der Reisenden noch immer von einem Geheimnis berührt, das sie erschüttert oder gar ihr Leben ändert. Wie ist das möglich? Vielleicht weil wir in den Schuhen des Pilgers einen Jahrtausende alten religiösen Archetyp verkörpern. Und weil die Wallfahrt ein Abbild der größeren Lebensreise ist.  Roland Rottenfußer

Der junge Musiker pilgert über die Alpen nach Rom, um Buße für eine schwere Sünde zu tun, die auf seiner Seele lastete. Um seine Bußfertigkeit zu beweisen, läuft der Pilger barfuss über Steine und Dornen, setzt sich ungeschützt der brennenden Sonne aus und verschmäht den erfrischenden Wasserquell. Unter tausend Mühen in Rom angekommen, wirft er sich vor dem Papst nieder und bittet um Vergebung. Der Herr der Christenheit aber erklärt die Sünde des jungen Mannes für unverzeihlich. Eher werde der Stab in seiner Hand grüne Blätter treiben, bevor dem Büßer Erlösung zuteil würde. Völlig verzweifelt und in Erwartung ewiger Höllenqualen kehrt der Pilger nach Hause zurück. Da kommt ein Bote aus Rom herbei geritten: Am Stab des Papstes hatte sich frisches Grün gezeigt – ein Wunder.

Diese Erzählung, entnommen der Tannhäuser-Sage aus dem 13. Jahrhundert, ist eine klassische Pilgergeschichte. Sie mutet modernen Ohren befremdlich an, zumal das Vergehen des Helden heute niemanden mehr empören würde: Unzucht in einer Lustgrotte, dem „Venusberg“. Man pilgert heute nicht mehr mit so viel Pathos. Im Handyzeitalter klingt es salopper: „Ich bin dann mal weg“. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass jeder moderne Wallfahrer an eine uralte Menschheitstradition anknüpft. Das ursprüngliche Wort „Pilger“ stammt vom lateinischen peregrinus (Fremdling) ab. „Wallfahrt“ kommt vom heute altertümlichen Wort „wallen“ (in eine Richtung ziehen).

Wallfahren damals und heute

Ursprung der Wallfahrten, wie man sie heute kennt, waren die Reisen der Juden nach Jerusalem zu Zeiten der „Pilgerfeste“ Pessach, Schawuot und Sukkot. Daran angelehnt, gab es Pilgerfahrten von Christen nach Jerusalem und an andere heilige Orte seit dem frühen Mittelalter. Die peregrinatio religiosa war oft das Ergebnis eines feierlichen Pilgergelöbnisses und diente (wie bei Tannhäuser) der Buße oder dem Zweck, den Segen für ein bestimmtes Vorhaben zu erbitten. Pilger standen unter dem besonderen Schutz der Obrigkeit. Sie bekamen Schutzbriefe ausgestellt, die ihnen freies Geleit ermöglichten und ihre „Echtheit“ bestätigten (es gab nämlich auch falsche Pilger, getarnte Räuber). Pilger anzugreifen, war ein schwerer Frevel, der Kirchenstrafen nach sich zog. Andererseits galt es als Segen bringend, Pilger bei sich zu beherbergen.

Etwas von diesem Respekt findet man heute besonders noch bei der traditionellen Bevölkerung. Schon seit dem Mittelalter hat aber auch der „touristische Aspekt“ bei Wallfahrten eine Rolle gespielt. Zielorte und Etappen verdienten an den Reisenden, von ihrem Geld wurde und wird häufig auch die Instandhaltung der Heiligtümer finanziert. Der Islam ist die einzige Religion, die eine Pilgerfahrt (Hadsch) als eine der fünf zentralen Pflichten für Gläubige zwingend vorschreibt. Zielort für Muslime ist einheitlich die Kaaba in Mekka. Im Buddhismus kennt man Pilgerfahrten zu den Hauptstationen in Buddhas Leben, vor allem nach Bodhgaya (Bodhi-Baum, Ort der Erleuchtung). In den protestantischen Konfessionen spielen Pilgerfahrten keine Rolle. Sie waren in Norwegen im 16. Jahrhundert sogar unter Androhung der Todesstrafe verboten.

„Ein Akt der Wiedergeburt“

In alten Zeiten suchten die Pilger vor allem das Heil, heute wünschen sie sich mehrheitlich Heilung. Der Übergang zwischen beiden Begriffen ist fließend. Ein Defizit oder eine Sehnsucht, die den Anstoß zur Wallfahrt gibt, wird nur selten als „Krankheit“ empfunden, dennoch pilgert niemand ohne Grund. Es kann das Gefühl sein, dass man im Alltag festgefahren ist, dass etwas im Leben oder im Herzen „aufbrechen“ muss (ein Bedürfnis nach „Aufbruch“ im besten Sinn des Wortes). Es kann ein Gefühl des Überdrusses an der Bequemlichkeit der „Rundum-Sorglos-Welt“ sein, der Wunsch durch die Begegnung mit dem Elementaren zu gesunden: Gehen, Natur, einfaches Essen, bescheidene Unterkünfte. Für manche ist es das Bedürfnis, unterwegs allein zu sein und Zeit zum Nachdenken zu haben. Andere suchen gerade das Erlebnis der „Schicksalsgemeinschaft“, die sich unter erschwerten Bedingungen auf ein Ziel zu bewegt. Einigen Pilgern lastet sogar ein „Venusberg“ auf dem Herzen, etwas aus ihrer Vergangenheit, das sie bereuen. Auch wenn man heute nicht mehr von einer religiösen Autorität Vergebung erhofft, kann einem die beschwerliche Reise doch dazu verhelfen, mit sich ins Reine zu kommen.

Paolo Coelho hat das Pilgern in seinem Klassiker „Auf dem Jakobsweg“ sehr schön beschrieben: „Eine Reise ist immer ein Akt der Wiedergeburt. Du wirst vor vollkommen neue Situationen gestellt, der Tag vergeht viel langsamer, und zumeist verstehst du die Sprache nicht, die die Menschen sprechen. Genau wie ein Kind, das aus dem Mutterleib kommt. Unter solchen Umständen misst du dem, was dich umgibt, eine viel größere Bedeutung bei, da dein Überleben davon abhängt. Du bist Menschen gegenüber offener, weil sie dir vielleicht in schwierigen Lagen helfen können. Und du nimmst das kleinste Geschenk der Götter mit so großer Freude auf, als handele es sich um etwas, was man sein ganzes Leben lang nie wieder vergisst. Zugleich wirst du, da alles neu ist, vor allem der Schönheit aller Dinge gewahr und bist glücklich darüber zu leben. Daher ist die Wallfahrt seit jeher eine der objektiven Formen, um zur Erleuchtung zu gelangen.“

Was moderne Pilger erlebten

„Erleuchtung“ ist natürlich ein großes Wort. Etwas mehr Licht auf ihrem Weg genügt vielen modernen Pilgern schon. Hans, ein Mann in mittleren Jahren, befand sich in einer Lebenskrise, in der viele scheinbare Selbstverständlichkeiten zu bröckeln schienen. Ohne Partnerin und in einer beruflichen Umbruchssituation, wuchs in ihm der Wunsch nach einer „einschneidenden Erfahrung“. Er entschied sich dazu, den Jakobsweg zu gehen, ohne ein ausgesprochen religiöser Mensch oder gar ein Verehrer des heiligen Jakobus zu sein. Ihm ging es darum, einen Weg mit guter Infrastruktur (billige Herbergen) zu gehen, um – allein mit seinen Gedanken – zu sich selbst zu finden. Anfangs ganz auf sich gestellt, gewann er unterwegs Freunde aus allen Ländern, und mit jeder bewältigten Aufgabe wuchs sein Selbstbewusstsein. Die Ankunft in Santiago di Compostela war dann fast Nebensache. Er betrachtet seine sechswöchige Wanderung heute als Wendepunkt seines Lebens.

Von ganz anderer Art war das Erlebnis von Magdalena und Siegmund. Das deutsche Pärchen hatte sich spontan entschlossen, die Wirkungsstätten des Heiligen Franziskus in Umbrien mit dem Auto und zu Fuß zu erkunden. Im zentralen Heiligtum, der unterirdischen Krypta mit den Gebeinen des Heiligen, erlebten sie folgendes (Magdalena berichtet): „Kaum hatten wir die Gruft betreten, fühlten wir uns, als wären wir in eine Anderswelt eingetaucht! Ohne dass wir es erwartet hätten und ohne dass wir etwas tun mussten, war es als würde eine Einweihung stattfinden, eine tiefe Heilung und Reinigung. Als hätte der Heilige Franz eine Säule aus reiner Hingabe vom Himmel herab auf die Erde gebaut. Als würde dieser Franz noch immer zu uns sprechen!“ Solche Erfahrungen sind vollkommen subjektiv (nicht jeder erlebt an jedem Ort dasselbe). Vergleichbares wird jedoch von vielen Pilgern von verschiedenen Orten der Welt berichtet.

16 Stationen auf der Reise

Im Folgenden will ich das klassische Schema einer Pilgerreise in 16 Stationen beschreiben. Ich greife dabei auf eigene Erfahrungen, auf Erlebnisse von Freunden, auf moderne Bücher und klassische Sagen zurück. Dieses Schema ist einerseits ein „archetyisches Muster“, weil es einer inneren, zeitlosen Logik entspringt (die Reihenfolge von „Ruf“, Aufbruch, Weg, Ziel und Heimkehr). Andererseits handelt es sich aber um Erfahrungen, die jeder Pilger bei seiner individuellen Reise fast unvermeidlich sammeln wird. Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell entwickelte 1949 sein Modell der „Heldenreise“, eines Handlungsschemas, das unzähligen Geschichten und Mythen aus aller Welt zugrunde liegt: vom Märchen über das Tarot bis hin zu neueren Abenteuergeschichten wie „Der Herr der Ringe“ oder „Star Wars“. Jemand bricht von zuhause auf, überschreite die Schwelle ins Unbekannte und kehrt nach allerlei Abenteuern und Bewährungsproben gereift in die Heimat zurück.

Die Pilgerreise ist eine spirituelle Version der Heldenreise. Es gibt Parallelen zu Campbells Modell, aber auch einige Abweichungen. Nicht jede der 16 Stationen, die ich beschreibe, wird von jedem Pilger durchlaufen, erfahrenen Wallfahrern dürften aber die meisten bekannt vorkommen. Wer die typischen Stationen kennt, ist auf eventuelle Schwierigkeiten besser vorbereitet und kann das Ziel seiner Reise (Heil bzw. Heilung) eher erreichen. Aber auch hier gilt: So gut die Landkarte auch sein mag, jeder muss seinen Weg selbst gehen.

Der Ruf des Abenteuers. Am Beginn jeder Pilgerfahrt steht der Impuls zum Aufbruch, der meist auf der Erfahrung eines Mangels, eines Defizits beruht. Sehnsucht nach „Erlösung“ oder religiöse Buße sind als Motive heute seltener geworden. Weltliche Gründe für eine Pilgerreise sind gerade auf dem Jakobsweg häufig anzutreffen. Jemand hat das Gefühl, einfach „mal weg“ zu wollen, alles hinter sich zu lassen, ein schmerzhaftes Erlebnis zu verarbeiten. Statt von „Impuls“ kann man auch von einem „Ruf“ sprechen. In Bezug auf die Heldenreise spricht Campbell vom „Call to Adventure“. Dieser Ruf ist vor allem ein innerer Antrieb, ein plötzlich aufblitzender Gedanke, der sich in unserem Bewusstsein ausbreitet, bis er zum festen Plan reift.

Die Wahl des Zielorts. Wichtig ist dann (falls er nicht ohnehin feststeht) die Wahl des Zielorts. Es gibt traditionelle, aber auch frei gewählte Ziele. Die christliche Tradition kennt vor allem drei: Jerusalem, Rom und Santiago di Compostela. Entscheidend ist aber, dass der Zielort in einem symbolischen Verhältnis zu der Absicht steht, die wir mit der Reise verfolgen. In Paolo Coelhos „Auf den Jakobsweg“ ist das symbolische Ziel der Reise ein Schwert. Für den Autor steht es für die Fähigkeit zum „guten Kampf“ – ein männliches Symbol, das auch an die Artus-Sage und das Schwert Excalibur denken lässt. Das zweite große Symbol ist der Heilige Gral, der für das fehlende Weibliche, für Gnade und Vergebung steht. Die Reise zu Marienwallfahrtsorten (Lourdes, Altötting, Fatima) hat etwas mit der Sehnsucht nach dem archetypisch mütterlichen Element zu tun. Zielorte können aber auch sehr individuell gewählt sein. Von Elvis Presleys Wohnort „Graceland“ über Prinzessin Dianas Gedenkstätte in London bis hin zum alten Fußballstadion in Bern (Schauplatz des „Wunders von Bern“) reicht die Palette. Entscheidend ist, was dem Einzelnen heilig ist.

Die Gefährten. Hat man den Zielort gewählt, stellt sich für manche Pilger, die nicht allen reisen wollen, die Frage nach den passenden Gefährten. Man kann dabei durchaus an den ersten Teil des Romans „Der Herr der Ringe“ denken: Welche Helfer gesellen sich zu uns, unterwegs zum gleichen Ziel? Manche Pilger wollen bewusst allein sein, weil sie das Gehen in Einsamkeit als wertvollstes Geschenk ihrer Reise betrachten. Andere sehen gerade in der Begegnung, dem gemeinsam bestandenen „Abenteuer“ das größte Potenzial.

Das Zögern vor der Abreise. Wie auch in Campbells Schema der „Heldenreise“ dargestellt, erleben viele Pilger vor Beginn ihrer Reise das Zögern vor dem Aufbruch. Unerwartete Schwierigkeiten bei der Organisation treten auf, Zweifel bedrängen den zur Pilgerfahrt Entschlossenen. „Wichtige“ Aufgaben kommen dazwischen, die dem „Helden“ das Gefühl geben, gerade jetzt dürfe er in der Heimat auf keinen Fall fehlen. Hans z.B. durchlitt vor seinem Aufbruch zum Jakobsweg ein beträchtliches „Lampenfieber“ und schlaflose Nächte, Siegmund erkrankte pünktlich am Vortag an einer mittelschweren Grippe. Die Überwindung solcher Ängste und Hindernisse ist eine erste wichtige Prüfung auf der Pilgerfahrt.

„Der Aufbruch des Helden“ ist einer der beiden wichtigsten Eckpunkte der Pilgerreise. Er kommt dem Überschreiten einer ersten Schwelle gleich: dem mutigen Aufbruch ins Unbekannte. In einer religiösen Sprache kann man auch von „Aussendung“ sprechen. In der katholischen Tradition gibt ein Priester den Pilgern seinen Segen mit auf den Weg. Die Ritualisierung dieser ersten Schwelle ist zweifellos ein psychologisch wichtiges Moment, das für den Weg stärken kann. Viele Pilger, vor allem Alleinreisende müssen allerdings darauf verzichten. Für sie ist der Aufbruch eine einsame Angelegenheit, die größere Ängste erweckt und daher auch mehr Mut erfordert.

Der Anfang des Weges. Ist man erst mal unterwegs, sind Zweifel und Ängste häufig wie weggeblasen. Die frische Luft weht einem um die Nase, der Körper gewöhnt sich allmählich daran, größere Anstrengungen zu bewältigen. Die Aufmerksamkeit wird ganz von den konkreten Herausforderungen des Weges absorbiert. Gehe ich bei der Abzweigung rechts oder links? Wo ist ein schöner Platz für eine Rast? Komme ich noch bei Helligkeit in meiner Herberge an? Erste Erfolgserlebnisse führen dazu, dass man einen Zuwachs an Kräften fühlt. Der seelische Zustand stabilisiert sich, kleine Wehwehchen, die den Aufbruch zu verhindern drohten, verschwinden oft durch den kräftigenden Einfluss des Gehens. Siegmund überwand sogar innerhalb eines Tages und einer Nacht eine Grippe, die ihn bis kurz vor der Abreise daran hatte zweifeln lassen, ob er die Reise überhaupt wagen sollte.

Die unerwartete Schwierigkeit. Sie kann natürlich an verschiedenen Stationen des Weges auch mehrfach auftauchen. Man spürt körperliche Beschwerden (z.B. Blasen an den Füßen), oder der Rucksack wird zu schwer, so dass man überflüssigen Ballast abwerfen muss. Man lernt dadurch die Beschränkung auf das Wesentliche, lässt vermeintlich unverzichtbare Gegenstände zurück, die man aus dem Alltag mitgeschleppt hatte. Die Krise kann aber auch darin bestehen, dass man den Weg verliert und sich verirrt, zu spät zu einer Herberge kommt oder Schwierigkeiten hat, einen Übernachtungsplatz zu finden. Begleitend zu diesen äußeren Problemen kann es auch zu einer inneren Krise kommen, in der man den Sinn der ganzen Reise in Frage stellt (warum tue ich mir das eigentlich an?). Die Überwindung solcher Zweifel stellt aber eine wichtige Prüfung auf dem Weg dar. Wer dennoch weitergeht, dem wachsen neue Kräfte zu.

Der Helfer in der Not. Es kann sich dabei um Helfer am Wegesrand handeln, die einem den Weg weisen oder einen wichtigen Tipp geben. Manchmal empfehlen sie dem Pilger auch einen Ort, von dessen Existenz er nichts gewusst hat, der ihm aber später eine wichtige Erfahrung beschert. Als „Helfer“ kann man auch die gütige Herbergsmutter oder den Herbergsvater bezeichnen. Oder Privatpersonen, die einen spontan bei sich aufnehmen und bewirten, weil man spät abends erschöpft ankommt, ohne eine Quartier zu haben. Solche Erfahrungen zeigen, wie sehr wir auf andere Menschen angewiesen sind. Sie wecken Dankbarkeit und geben uns das Gefühl, von einer besonderen „Energie der Pilgerreise“ geschützt und geführt zu sein.

Der Anführer der Pilgergruppe. Natürlich gibt es ihn nicht, wenn ein Pilger allein reist. Bei Gruppereisen kristallisiert sich aber häufig eine Führungspersönlichkeit heraus. Bei organisierten (z.B. katholischen) Wallfahrten ist dies ein „offizieller“ Leiter. Es kann aber auch der Initiator/die Initiatorin der Pilgerreise sein oder jemand, der durch natürliche Autorität und Engagement eine leitende Rolle innerhalb der Gruppe erringt. Oft ist es der „Pfadfinder“, der Kartenleser, der der Gruppe voran geht. Diese Person muss sich damit auseinandersetzen, überdurchschnittliche Verantwortung zu tragen und zugleich in ihrer Führungsrolle immer wieder in Frage gestellt zu werden.

Der „Widersacher“ innerhalb der Pilgergruppe. Bei Gruppenreisen kommt es immer wieder vor, dass eine oder mehrere Personen mit der vom Anführer vorgegebenen „Linie“ nicht einverstanden sind. Er oder sie hat vielleicht andere Vorstellungen über den Verlauf des Weges oder über die Geschwindigkeit, mit der man geht. Soll häufiger Rast gemacht werden? Sollte immer nur das allerbilligste Essen gekauft, die bescheidenste Herberge aufgesucht werden, oder darf auch mal ein bisschen Geld in die Hand genommen werden? Steht auf der Pilgerfahrt der Charakter einer spirituellen Bußübung im Vordergrund, oder ist es auch erlaubt, ein bisschen Spaß zu haben? Über all das können die Ansichten auseinander gehen. Die Pilgergemeinschaft wird so teilweise zur „Selbsterfahrungsgruppe“. Im Extremfall droht sogar die Spaltung der Gemeinschaft.

Die Versöhnung. Im Idealfall besinnen sich die Streithähne (z.B. die Führungsperson und ihre Rivale) auf den eigentlichen Zweck der Pilgerfahrt, auf das, was alle gemeinsam wollen. Sie gehen dann den Rest des Weges wieder zusammen und haben wertvolle Erfahrungen über die zwischenmenschliche Dynamik gesammelt. Zum Beispiel über den eigenen Machtanspruch, der sich in der „lästigen“ Dominanz des Gegenübers widerspiegelt. „Die Wege sind verschieden, das Ziel eint uns alle“ – so könnte diese wichtig Lehre lauten. Oder „Pilgern bedeutet loslassen – auch festgefahrene Vorstellungen darüber, wie Pilgern ablaufen sollte.“ Begegnung, Trennung und Wiederbegegnung gibt es natürlich auch oft zwischen Zufallsbekannten auf dem Weg. Man trifft sich z.B. in einer Herberge, geht ein paar Stationen gemeinsam und trennt sich wieder, weil die Vorstellungen über den Weg auseinander gehen. Solche Ereignisse sind keine Katastrophe, man sollte sich eher freuen, dass die Gemeinschaft für eine Zeit Bestand hatte.

Letzte Prüfungen. Gegen Ende der Pilgerreise kann sich noch einmal ein Gefühl der Sinnlosigkeit und des Überdrusses einstellen. Die Reise ist dann vielleicht nicht mehr „zu aufregend“, sondern wird im Gegenteil als langweilig und gleichförmig empfunden. Man weiß, dass man alle Herausforderungen der Reise bewältigen kann, erwartet nichts Neues mehr und sehnt sich ganz einfach zurück nach seinem heimischen Bett. Hier besteht in manchen Momenten die Versuchung, die Reise vorzeitig abzubrechen. Der Pilger sollte ihr nicht nachgeben, denn spätesten, wenn das Ziel aus der Ferne zu erkennen ist, stellt sich Befriedigung über die bewältigte Aufgabe, in vielen Fällen sogar Euphorie ein.

Der Einzug am Zielort. Mit der Ankunft am Ziel wird die zweite entscheidende Schwelle überschritten. Der Einzug der Pilgergruppe gleicht einem Triumphzug, der siegreichen Ankunft des (friedlichen) Helden. Statt äußerem Jubel stellt sich allerdings meist ein „stilles, inneres Leuchten“ ein, ein Glücksgefühl über die bewältigte Aufgabe. Entsprechend der „Aussendung“ zu Beginn der Reise, sind einige Wallfahrten so organisiert, dass die Pilger am Ziel von einem Priester empfangen und zum zentralen Heiligtum begleitet werden. Auch Abschlusszeremonien (z.B. in einer Kapelle) sind durchaus üblich. Allein Reisende müssen all diese Gefühle mit sich allein ausmachen, was aber auch eine wertvolle Erfahrung sein kann.

Die Erleuchtung im Heiligtum. Das Ziel im Zentrum des Ziels ist häufig ein Heiligtum, ein Grabmal, eine Reliquie, eine Kapelle, eine wundertätige Statue oder etwas ähnliches. Wenn es sich um einen „Kraftort“ handelt, der eine besondere Energie ausstrahlt, wird die Grundstimmung, in der sich die Pilger durch die Euphorie des Ankommens befinden, dadurch noch verstärkt. Es kann zu regelrechten Erleuchtungserfahrungen kommen, wie sie von Magdalena aus Assisi berichtet wird. Diese Erlebnisse können aber keineswegs erzwungen oder garantiert werden. Vor allem können sie nicht erschwindelt werden, indem man gleich am Zielort mit dem Auto vorfährt. Coelho drückt diesen Sachverhalt sogar in einer sexuellen Sprache aus: „Entscheidend für die Intensität des Orgasmus ist das Vorspiel.“ Der Weg erst lässt einen das Ziel richtig würdigen. Es ist letztlich eine Glaubensfrage, ob man annimmt, dass dabei ein Segen „von oben“ eine Rolle gespielt hat, oder ob all diese Gefühlsregungen der Seele des Pilgers selbst entspringen.

Der Katzenjammer des Ankommens. Auch Gefühle von Ernüchterung und Enttäuschung am Zielort sind durchaus nicht selten. Sie können sich nach Abklingen eines Euphorie-Gefühls einstellen, aber auch von Anfang an bei Betreten des Zielorts. Ein „Pilgerrummel“ wie in Santiago oder Lourdes wird z.B. oft als lästig empfunden, weil er die meditative Stimmung stört, in der sich der Wandernde befand. Negative Gefühle können aber schon dadurch entstehen, dass etwas Schönes unwiderruflich zu Ende geht. Wenn das Ziel erreicht ist, worauf soll man sich noch freuen? Worin besteht der Sinn, wenn nicht in der Annäherung an das Ziel? Der Pilger spürt vielleicht erst jetzt, wie glücklich er auf seinem Weg die ganze Zeit gewesen ist. Er denkt mit Bangen an die Aufgaben, die zu Hause liegen geblieben ist und zweifelt an seiner Fähigkeit, sich in der „Normalität“ wieder zurecht zu finden. Auch steht ein Schritt an, der meist als schmerzhaft empfunden wird: der Abschied von den Gefährten aus der Pilgergruppe.

Die Heimkehr. Nur ganz selten wird eine Pilgerreise aber wirklich bereut. Auf der Rückreise (z.B. im Zug) lässt man das Erlebte Revue passieren und ist dankbar dafür, was man lernen und empfangen durfte. Man macht Pläne für die Zeit „danach“ und freut sich auf sein Bett. Gefühle wie Abschiedsschmerz vergehen. Im günstigsten Fall begleitet den Pilger ein inneres Leuchten nach Hause. Man kommt nicht mehr als derselbe Mensch zurück, als der man gegangen ist. Man fühlt eine Gesundung, eine umfassende Reinigung und neue Kräfte für den nächsten Lebensabschnitt. Der Einzelne hat es selbst in der Hand, ob er sich wieder ganz von seinem Alltag gefangen nehmen lässt. Ob er die Pilgerreise wie einen Traum verfliegen lässt, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Oder ob er in seiner Freizeit weiter Gedankenarbeit investiert, um das, was geschehen ist, auszuwerten und ihm Sinn zu verleihen.

Man darf nicht vergessen, dass die Pilgerfahrt nach Rom, Santiago oder anderswohin immer ein Abbild des Lebens selbst ist. Wer diese Deutung verinnerlicht und daraus zu lernen versucht, kann noch lange von den Erlebnissen seiner „Heldenreise“ profitieren. Leben kann als große Pilgerfahrt zu einem Heiligtum gedeutet werden, das wir immer schon in uns tragen, das wir aber mitunter nur in der Ferne entdecken können. Daher ist es für fortgeschrittene Pilger durchaus folgerichtig, sich ihr eigenes, ganz individuelles Ziel zu wählen – auch abseits der großen Pilgerströme. „Dort, wo dein Schatz ist, dort wird dein Herz sein“, heißt es im Evangelium. Paolo Coelho betrachtet den Wallfahrer nur als eine „Hülle“ für das, was es eigentlich zu finden gilt. „Wenn die Hülle aufbricht, erscheint das aus Agape bestehende Leben.“

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