Konzentrationslager – heute noch?
Einige Überlegungen zum Thema „Vergleichen“ von damals und heute sowie zu den Konsequenzen daraus (Holdger Platta)
Darf man das? – Papst Franziskus hat Flüchtlingslager auf Lesbos und anderen Inseln der griechischen Ägäis mit Konzentrationslagern verglichen. Ursache dafür: sein Entsetzen über die menschenunwürdigen Verhältnissen dort und die erbärmlichen Behausungen, über die hygienischen Defizite und den Mangel an Nahrungsmitteln, über den katastrophalen Zustand der medizinischen Versorgung und die furchtbare Überfüllung der Lager. Ergänzend dazu: immer noch warten auf den griechischen Inseln fast 14.000 Flüchtlinge darauf, weiterreisen zu dürfen nach Mitteleuropa oder aufs griechische Festland; und immer noch warten rund 50.000 Flüchtlinge darauf, auf dem griechischen Festland selbst, weiterreisen zu dürfen in andere europäische Länder – trotz entsprechender EU-Zusagen. Mit einem Wort: schlimmstes Elend allerorten. Und trotzdem zog sich das Oberhaupt der katholischen Kirche – man möchte sagen: fast wie automatisiert – sofortest mehr oder minder sanften Tadel zu: „Aufgrund seiner persönlichen Betroffenheit über die Situation der Flüchtlinge hat Papst Franziskus den Vergleich mit Konzentrationslagern gezogen“, so der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, noch beim Anlauf zu seiner Kritik. „Sicher hat er damit eine gute Absicht verfolgt, weil er auf die Schicksale der Flüchtlinge aufmerksam machen wollte“, so Schuster im weiteren Text, und auch dieses noch verständnisvoll. Doch unmutiger dann: „Dieser Vergleich ist in unseren Augen unglücklich gewählt. Die Konzentrationslager der Nazis hatten die Vernichtung von Menschen als Ziel. Selbst wenn Kritik an einigen Flüchtlingslagern angebracht sein sollte, kann man dies den heutigen Lagern nicht unterstellen.“ Ganz sicherlich: scharfe Kritik auch dieses nicht, und dennoch gilt einschränkungslos: es handelt sich um Sätze nunmehr, an denen nahezu alles falsch ist. Falsch erstens das „wir“ – siehe „in unseren Augen“! -, denn in Wahrheit schwingt sich da lediglich die Meinung eines Einzelnen auf und längst nicht alle Juden in Deutschland urteilen so. Zweitens stimmt die Aussage zu den Konzentrationslagern der Nazis in Deutschland nicht, die Pauschalisierung nämlich, einziges Ziel der Nazi-KZs sei „die Vernichtung von Menschen“ gewesen. Nein, nazistische KZs dienten nicht allesamt und von Anfang an der Vernichtung von Menschen – das war erst ab Mitte 1941 der Fall und traf lediglich auf die Vernichtungslager zu. Und vergessen wir bitte nicht: Papst Franziskus hat von Konzentrationslagern gesprochen, nicht von den Vernichtungsmaschinerien in Auschwitz und anderswo. Und drittens schließlich: wieso dieser relativierende Konjunktiv „selbst wenn Kritik an einigen Flüchtlingslagern angebracht sein sollte“, ein Konditionalis, der als bloße Möglichkeit in den Raum stellt – eingeschränkt zudem auf „einige“ Lager, längst nicht bezogen auf alle Camps -, was doch in Wahrheit furchtbarste Realität fast im gesamten Griechenland (und anderswo!) ist? Weiß Josef Schuster tatsächlich nicht, wie es aussieht an diesen Elendsstätten? Oder tut er nur so? Aus welchen Gründen dann dieses Vortäuschen von Unwissenheit? – Nun, gleich, wie es sei: dieser Herunterrelativieren von Inhumanitäten in der Jetztzeit, unter Berufung auf Auschwitz, wirft Fragen auf, die weit über den aktuellen Anlaß hinausgehen. Und: die Frage nach dem Umgang mit Auschwitz reicht auch viel tiefer, als diese Kritik an Franziskus zu erkennen gibt, unmittelbar jedenfalls. Es geht um eine Kernfrage engagierter Humanität schlechthin, die hier zur Debatte steht, um die Frage nämlich nach der Geltung von Humanität generell bzw. ihrer universellen Gültigkeit. Konkreter ausgedrückt, als Frage formuliert: wie umgehen mit der Singularität von Auschwitz, in einer Welt, die nicht aufhören will, Menschen zu quälen, und zwar auf furchtbarste Weise auch heute noch? – Ein Kurz-Essay zu diesem schwierigen Thema von unserem Autor Holdger Platta:
Ja, ich weiß: es ist nicht unproblematisch, Verhältnisse und Vorgänge heute so ohne weiteres mit denen im Dritten Reich zu vergleichen. Aber:
Wenn wir prinzipiell Vergleiche zwischen damals und heute zurückweisen müßten, weil dieses Vergleichen unausweichlicherweise und prinzipiell Verharmlosung des Dritten Reiches implizieren würde, dann stünden wir vor einem für uns sehr problematischen Zusammenhang:
Das Dritte Reich schützte gleichsam total heutige Verhältnisse und Geschehnisse vor jeder ernsthaften grundlegenden Kritik (= immer dort und immer dann, wo und wenn sich die Verhältnisse und Geschehnisse heute den Verhältnissen im Dritten Reich anzunähern, zu ähneln oder zu gleichen beginnen). In Kürzestform also:
Je mehr Ähnlichkeit undsoweiter., desto mehr Verweigerung, diese Ähnlichkeit konstatieren zu dürfen.
Anders gesagt:
Prinzipiell ließe sich deshalb – bezüglich des Dritten Reiches – aus der Geschichte für heute nichts lernen! Die furchtbare Einmaligkeit des Dritten Reiches mit dessen Verbrechen machte alles, was heute zu beobachten ist, zum prinzipiellen Tabu, und zwar genau immer dann, wenn es darum geht, Entsetzlichkeiten auch heute angemessen zu erkennen und beim Namen zu nennen. Was, noch anders akzentuiert, bedeutet:
Der gutgemeinte Impuls, bei diesen Beurteilungen heutiger Menschheitsverbrechen das Dritte Reich vor dessen Bagatellisierung zu schützen, dieser Beweggrund führte zu dem potentiell lebensgefährlichen Resultat, die Faschismus-Gefahren, die womöglich heute noch lauern oder schon wieder neuerstanden sind, zu bagatellisieren. Die Bagatellisierungsangst gegenüber der deutschen Vergangenheit führte zu einem Bagatellisierungszwang gegenüber der Gegenwart. Wir „beerdigten“ gleichsam unseren Antifaschismus in der Vergangenheit. Das Unmaß der Verbrechen im Dritten Reich schlüge zum Vorteil jedweder Gegenwart aus, welche dieser Vergangenheit sich anzunähern, zu ähneln oder zu gleichen beginnt.
Nun räume ich ein: das, was ich bislang geäußert habe, mag der Logik nach richtig sein. Aber es scheint mir erforderlich zu sein, auch noch etwas anderes hinzuzufügen, nämlich etwas zur Psy-chologie dieser Prozesse:
Auf emotionaler Ebene trifft nämlich mit Sicherheit zu, daß Äußerungen über Entsetzlichkeiten heute, sie begännen – in bestimmten Bereichen, bei bestimmten Ereignissen usw. -, dem Dritten Reich zu ähneln, selbstverständlich auch von starken Affekten bei den mutigen Benennern hervorgerufen werden, von Empfindungen, die womöglich nach außen hin oft weniger wie Besorgnis wirken, sondern vielmehr als Ausleben ihrer eigenen aggressiven Impulse. Das Schlagwort „Faschismus“ wirkt deshalb sehr schnell auch wie eine Totschlagvokabel. An Martin Walsers völlig indiskutable „Auschwitzkeule“ muß man dabei gar nicht erst denken.
Deshalb tun wir gut daran, diesen Eindruck, daß da bei entsprechenden Äußerungen heute auch starke negative Emotionen eine Rolle spielen könnten, nicht einfach mit Hinweis auf die oben kurz skizzierte Logik wegzuargumentieren. Das Nämliche gilt aber auch umgekehrt: ebensowenig sollten wir die von mir oben skizzierte Logik wegpsychologisieren! Und zu Logik wie Psychologie deshalb noch ein paar weitere Bemerkungen:
Zur Logik bzw. zur intellektuellen Dimension:
- Logischerweise kann man nur Vergleichbares miteinander vergleichen – z.B. Anfangs-phänomene des Faschismus seinerzeit mit Anfangsphänomenen des Faschismus heute, faschistische Sprache damals mit faschistische Sprache heute undsoweiter undsofort.
- Realistischerweise sollte man davon ausgehen, daß Faschismus heute durchaus in ganz anderen Erscheinungsformen auftreten könnte als damals: was damals die SA-Uniform war, kann heute durchaus der Nadelstreifenanzug eines beim Mainstream wohlangesehenen Politikers sein; was damals Euthanasieprogramm für ganze Bevölkerungsgruppen war, das ist dann heute eben der „Masterplan für Massenmord“, wie er etwa in heutigen Flüchtlingslagern de facto in die Praxis umgesetzt wird.
Zur affektiven – oft unbewußten – Dimension:
- Auf emotionaler Ebene wäre stets der Besorgnis-Charakter entsprechender Überlegungen zu betonen, auch die grundsätzlich ethische Grundorientierung dieser Kritik (Stichwort „Menschenrechte“). Formulierungen, die ausschließlich oder überwiegend der Befriedigung eigener – im übrigen verständlicher! – aggressiver Bedürfnisse dienen, sollten zumindest auf deren Erforderlichkeit hin überprüft werden, und sie sollten – bei gegebener Erforderlichkeit – von den Betreffenden selber ganz ausdrücklich beim Namen genannt werden.
- Daß dennoch eine Analyse – in Sache wie Sprache – auf Abwehr stoßen wird, die Entsprechungen zwischen damals und heute zu formulieren versucht, liegt auf der Hand: diese Analyse bedroht damit eine – im Grunde ja sehr positive – Identifizierung vieler Menschen mit den heutigen, den angeblich im Humanen doch ungleich besseren, Verhältnissen. Und die Erkenntnis, daß eine bestimmte Identifizierung sozusagen überholt ist, weil dasjenige, mit dem sich diese Menschen positiv identifizieren, tatsächlich so positiv nicht mehr ist, diese beunruhigende Einsicht schmerzt! Kurz: wer sich in Gebiete der Abwehr begibt, darf sich über entsprechende Abwehr nicht wundern. Vor allem zu Abwehrmechanismen wie Abspaltung, Projektion und Sündenbocksuche wird dann überwiegend gegriffen: die Boten der schlimmen Nachrichten, sind schuld, nicht die Geschehnisse sind es; die Benenner und Analytiker der faschistischen Aggressionen, die in „Masterplänen zum Massenmord“ stecken, sind dann, dank projektiver Verschiebung, die Aggressoren, nicht die Urheber dieser Nachrichten sind es; die Menschen, die ihre Angst und Besorgnisse äußern und zu äußern vermögen, sind dann diejenigen, die bei manchen Adressaten auf dem Wege der Abspaltung Angst auslösen dürften, nicht die Betreiber der furchtbarsten Dehumansierungen lösen diese Angst aus. Und nicht zuletzt:
- Dementsprechend unerschrockene Benenner schlimmster Verhältnisse heute stellen die anderen Menschen mit ihren Analysen vor eine überaus furchteinflößende Entscheidungssituation: auch sie ‚müssen’ sich nun – so empfinden sie das – irgendwie zu irgendwas entschließen angesichts dieser beängstigenden Nachrichten, die ihnen da ungefragterweise ins Haus geschickt worden sind. Leicht wirken da solche Nachrichten auf die Betreffenden wie ein Schuldvorwurf, deshalb nämlich, weil die Betreffenden – unbewußt zumeist – auch ihrerseits nun unausweichlich Schuld empfinden, zum Beispiel, diese Veränderungen nicht bemerkt und nichts dagegen unternommen zu haben. Schnell stoßen damit aber viele dieser AdressatInnen, aufgrund solch furchtbarer Mitteilungen, an ihre eigenen Grenzen: weder emotional noch kognitiv sehen sie sich dieser Herausforderung, vor die sie unverhofft gestellt sind, gewachsen. Kurz: je furchtsamer, je ich-schwächer der Betreffende ist, der solche ‚Nachrichten’ erhält, desto näher liegt für ihn die Befreiung von diesen latenten Insuffizienzgefühlen darin, dem Boten ‚Übertreibung’ vorzuwerfen oder ‚Unsachlichkeit’, dem unerschrockenen Benenner ‚Aggressivität’ zu unterstellen oder ‚Befangenheit’. Kurz: der Betreffende schützt mit seiner Verteidigung der Verhältnisse heute, sie seien so furchtbar nicht, wie ihnen zugeschrieben wird, in Wahrheit vor allem sich selber. Wie damit umgehen?
Auch hier dürfte Folgendes ein erster Weg sein, der wohl unvermeidbar gegangen werden sollte und gegangen werden muß: genau dieses ansprechen und aussprechen. Also: diese inneren – zumeist seelischen und zumeist unbewußten – Prozesse aus dem Dunkel der Unbewußtheit befreien und ans Licht holen, damit die Betreffenden und die furchtlosen Benenner heutiger Wahrheiten das geschilderte Abwehrgeschehen gemeinsam bearbeiten können: sie, die Empfänger der Nachrichten, und auf der anderen Seite die Überbringer solch entsetzlicher Nachrichten. Eine Utopie, an deren Realisierung sich alle konsequent machen sollten – im eigenen Interesse und im Interesse der anderen Menschen. Meines Erachtens führt kein Weg vorbei an dieser Aufklärung der skizzierten Vorgänge innerseelischer und intellektueller Art.