Politische Kultur, Kultur und Politik

 In Ellen Diederich, Friedenspolitik, Kultur, Über diese Seite

Autorin Ellen Diederich

Aus Gesprächen mit mehreren Menschen, die regelmäßig für HdS schreiben, habe ich erfahren, dass es einiges an Konflikt gibt. Wie können wir die Möglichkeiten entwickeln, Konflikte so anzugehen, dass wir Formen des Umgangs miteinander, die sich aus den politischen Vorstellungen ergeben, lernen und sie leben können?

 

 

Die Linke, auch die sozialen Bewegungen haben immer große Ziele, gute Worte, wunderbare Visionen gehabt:

Würde, Solidarität, solidarische Ökonomie, Frieden, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Kollektivität, Toleranz, Akzeptanz, Großzügigkeit, Nachhaltigkeit. Das sind Worte, die die Vorstellung von einem erfüllten Leben für die Mehrheit der Menschen, des Planeten insgesamt, beschreiben. Diese Begriffe sind mit Visionen von Fähigkeiten und Vorstellungen befriedigender Beziehungen der Menschen untereinander verbunden, mit Zusammenhängen, in denen wir uns aufgehoben fühlen und weiter entwickeln können.

 

Eben weil wir Ansprüche an Gesellschaftsveränderung haben, erwarten wir auch auf dem Weg dorthin im politischen Umfeld zumindest ein Bemühen, den Zielen entsprechende Formen des Umgangs miteinander zu entwickeln. Doch die Realität sieht oft anders aus.

 

 

Politische Kultur beinhaltet auch, wie Menschen miteinander umgehen, die, aus der Kritik am bestehenden, eine andere Gesellschaft wollen. Wie oft aber stehen wir fassungslos da, wie viel Konkurrenz um Macht, um Posten, Gerangel um einen Platz in der Hierarchie, Missverständnisse, Neid, Eitelkeiten wir in unseren eigenen Zusammenhängen erleben. Der Ablauf unserer Treffen ist weit entfernt von den guten  Visionen, die wir haben. Die Diskrepanzen zu dem, worüber geredet wird und was real geschieht, scheinen unüberwindbar.

 

„Die Quelle von Feindseligkeit und Gewalt liegt in einer Kultur, die Leistung und Besitz über alles stellt und es Menschen kaum möglich macht, ein Selbst zu entwickeln, das auf Vertrauen und Mitgefühl beruht.“

Arno Gruen, Ich will eine Welt ohne Kriege, in: Tagebuch Konstantin Wecker, 5.10.2006

 

Unsere politischen Zusammenhänge sind immer mehr entkörperlicht, wir werden quasi herzamputiert. Anstatt „barfuss zum kleinen Prinzen zu kommen“, landen wir in einer emotionalen Geröllwüste, aus der nahezu jede Schönheit verschwunden ist.

 

Unsere Kleidung

 

Die Kleidung hat sich zu einem sichtbaren Moment des Mangels entwickelt. Welche Menschen sind uns Vorbilder? Bei Männern sind es für mich u.a. Nelson Mandela, Evo Morales, José Bové, Eduardo Galeano. Sie alle tragen Kleidung, in der sie sich offensichtlich wohl fühlen und haben trotz der unangepassten Kleidung große Beachtung.

 

Bei den Weltfrauenkonferenzen in Nairobi und Peking bin ich immer Tage lang herumgegangen und habe gestaunt. Welche Kleider die Frauen aus den verschiedenen Ländern tragen, welche phantasievollen Frisuren und wie langweilig wir mit unseren angepassten Kleidungen sind.

 

Landen wir beim Nadelstreifenanzug, Seidenstrick um den Hals, im Designerkostüm mit modisch unbequemen Schuhen, wie ich es selbst bei einigen Abgeordneten der Parteien der Grünen und der Linken feststelle? Wo ist unser Selbstbewusstsein, das sich aus den politischen Inhalten speist, die Kleidervorschriften nicht zu akzeptieren? Auch Kleidung hat etwas mit Kultur, mit Angepasstheit und mit Widerstand gegen Symbole der Macht und Herrschaft zu tun!

 

Hier waren die Grünen zu Beginn ihrer parlamentarischen Arbeit mal sehr wegweisend.

 

Unsere Treffen.

 

Endlose Sitzungen, zu denen wir aus Pflichtgefühl gehen, bei denen wir das Ende der Diskussion herbeisehnen, weil die Abstraktionen des Umgangs kaum mehr auszuhalten sind. Wir erfahren voneinander nur einen kleinen Ausschnitt, der gerade für diesen Zweck gebraucht wird, ganz wie die Gesellschaft es vorgibt. Nur nicht zu nahe kommen. Stärke zeigen, sich unangreifbar machen. Zugegebene Schwächen könnten bei nächster Gelegenheit gegen uns verwandt werden.

 

Wenn es hoch kommt, gibt es „Kultur“ zur Entspannung, zumeist aber ist das Surrogat dann die Kneipe, in der wir uns eher als Menschen fühlen und begegnen. Dort meinen wir, entspannter zu kommunizieren. Das ist jedoch in den meisten Fällen kaum der Ort, an dem wir die Fähigkeiten entwickeln können, die wir brauchen, um mit Leidenschaft und Freude die notwendigen Veränderungen mit zu gestalten.

 

Arbeit „und“ Leben, Politik und Kultur werden in unseren politischen Zusammenhängen getrennt. Dringend notwendig ist hier eine Klärung der Begriffe. Was ist Arbeit, was ist Leben, was Politik, was Kultur? Sie gehören untrennbar zusammen. Arbeit ist Leben, wie viel Lebenszeit verbringen wir arbeitend! Eine Politik ohne Kultur im umfassenden Sinn, da werden wir zu den grauen Herren der Zeit aus Michael Endes Geschichte von Momo, leblos, gefühllos.

 

„Die Politik darf nie die Poesie besiegen! Sie hat sich der Poesie unterzuordnen, soll von ihr lernen, von ihren Ver-rückt-heiten und ihrer Aufrichtigkeit. Wenn sie das nicht kann, sollten wir ihr auf die Sprünge helfen – mit Wahnsinn und Anarchie, Musik, Tanz und Gedichten.“ Tagebuch Konstantin Wecker, 30.6.2006

 

Wir hatten mal einen Kanzler, einen Mann des Militärs, einen Technokraten, Helmut Schmidt. Er hat den Satz gesagt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ So sieht unsere Politik heute weitgehend aus. „Der Bundestag, das ist der Friedhof der Alphatiere, ein SOS Erwachsenendorf! Ich möchte immer spenden, wenn ich die sehe!“ sagt mein Lieblingskabarettist Hagen Rether.

 

Und die, die andere Visionen haben, verkünden sie in einer Art und Weise, die sich nur noch wenig unterscheidet, kaum Leidenschaft, angepasst an die Formen, die das politische Establishment vorgibt, so sind sie wenig überzeugend.

 

Was heißt politische Kultur?

 

Kultur im Umgang miteinander in unserem Sinne heißt: Wahrnehmung des/der anderen, heißt: Zuhören können, Mit-Fühlen zu entwickeln, die Sinne nicht auszuschalten. Das Wort Mit-Gefühl (das englische Wort compassion ist hier besser) kommt bei uns nicht häufig vor. Hier ist der Begriff nicht im christlichen Sinne gemeint: „Die Armen sind geschaffen, damit wir mildtätig bleiben“. Mit-Gefühl hat nichts mit Almosen zu tun, mit Tafeln, mit Wohltätigkeit oder mit Notprogrammen. Es ist das Gegenteil einer „Vertafelung der Gesellschaft“ (Halina Bendkowski)

 

Was heißt Solidarität?

 

Mitgefühl in diesem Sinne ist untrennbar mit Solidarität verbunden, die nicht hierarchisch im Sinne von „Entwicklungshilfe“ ist. Sie fordert, den Wohltätigkeitsgedanken fallen zu lassen, sich aus der Wohltätigkeitsfalle zu befreien.

 

Vor kurzem fand ich den guten Satz der australischen Ureinwohnerin Lilah Watson:

„Wenn du gekommen bist, mir zu helfen, vergeudest du deine Zeit. Aber wenn du gekommen bist, weil deine Befreiung mit meiner verbunden ist, dann lass uns zusammenarbeiten!“

 

Was heißt das große Wort Solidarität? Was ist solidarisches Handeln? Was ist Voraussetzung zum solidarischen Handeln?

 

Das Wort Solidarität ist mit sehr unterschiedlichen, Bildern verbunden, natürlich Che Guevaras: Solidarität ist die Zärtlichkeit (!) der Völker. In seiner praktischen Arbeit haben viele Menschen diese Zärtlichkeit nicht erleben können, es gab im Kontext seiner Regierung Gefängnisse und Hinrichtungen.

Teilweise kommen zum Begriff Solidarität aber auch andere Bilder: Unangenehm, verlogen gar – Bei Demonstrationen oder linken Treffen das skandierende: Hoch! Die! Internationale! Solidarität! Das ist die Solidarität, verbunden mit Heldenbildern. Skandiert von Menschen, die sich wenig oder gar nicht in die Situationen der Menschen begeben, die sie da skandieren. Es ist die Glorifizierung von Helden, die im Unterschied zu uns „mutig, rein, ohne Furcht“ sind, an denen man sich festhalten kann.

 

Es gibt einen großartigen Dokumentarfilm: „Marias Story“. Ein Film über eine Frau aus der FMLN, der Befreiungsbewegung in El Salvador. Maria, Mutter von drei Kindern, kämpfte in dieser Guerillabewegung. Ihr Dorf wurde zerstört, Verwandte ermordet. Sie hatte sich entschieden, zu kämpfen. Aber sie zeigte, dass sie lieber in der nächsten Minute etwas anderes machen möchte, als sich mit Waffen zu wehren, dass sie lieber mit ihren Kindern zusammen sein möchte, ein normales Leben zu leben, als das, was man ihr hier aufzwang.

 

Die Zapatisten haben gesagt, als sie sich bewaffneten: Wir haben uns bewaffnet, damit so bald wie möglich keiner mehr bewaffnet sein muss. Sie tragen Mützen über ihrem Gesicht, damit sie nicht zu Helden werden. Auch ihr bekanntester Sprecher: Marcos. Zum Helden machten ihn die Medien. (Ich habe eine Zeit lang bei den Zapatisten als Zeugin für die Angriffe des mexikanischen Militärs gegen die befreiten Dörfer verbracht)

 

 

Das Heldentum

 

Unser „HeldInnentum“ besteht sehr häufig darin, stolz über den Selbstausbeutungsgrad zu sein. Wir kämpfen für Arbeitszeitverkürzung, für die Möglichkeit von Eltern, Zeit mit den Kindern zu verbringen. Für die Linken scheint das nicht notwendig zu sein. Wer am meisten für die „Organisation“ oder die „Bewegung“ tut, ist auch gut angesehen.

Magenschmerzen, zusammenkippen, alles „Normalität“.

 

Ich hatte die große Freude, Angela Davis bei verschiedenen Gelegenheiten zu treffen, sie näher kennen zu lernen, war nach dem Tod meiner Freundin, der afrodeutschen Sängerin Fasia Jansen, ihr Gast in Oakland.

 

Ich bewundere sie, wie sie den Angriffen ihr gegenüber standgehalten hat, sie ist gradlinig bei vielen ihrer Inhalte geblieben, aber auch sehr selbstkritisch in Bezug auf Fehler die sie, gerade auch im Kontext der traditionellen Linken, gemacht hat. Hätte ich denn eine Heldin im Leben, so wäre es Angela Davis.

 

Als ich aber realisierte, dass in dem englischen Wort Heldin – Heroine, das Wort Heroin steckt, habe ich mich entschieden, keine HeldInnen in diesem Leben zu haben.

 

Die Heldenverehrung der Linken war mir immer ein Rätsel, ganz stark z.B. bei Wolf Biermann. Er schwadroniert über „den Wohlklang der Stalin Orgeln, die Eleganz automatischer Raketen in Ho Chi Minhs Himmeln, die Schönheit der Maschinenpistole über der Schulter eines Guerilla Kämpfers…“

 

Nein Wohlklang, Eleganz und Schönheit sind keine positiven Begriffe im Krieg. Das kann man nur aus dem sicheren Abstand des Geldes, der Kunst so beschreiben.

 

Ich habe mich viele Jahre um im Krieg vergewaltigte Frauen aus Bosnien gekümmert, war in Palästina und Israel, bei den unterdrückten Beduinen im Negev, bei den Zapatisten in Mexiko, in Nordirland  und in anderen Kriegsregionen, habe mit den Müttern der Verschwundenen in El Salvador zusammengearbeitet, war während des Krieges dort,  habe Frauen aus der Guerilla kennen gelernt, deren Familien man abgeschlachtet hatte.

 

Carmen wurde von sechs Soldaten vergewaltigt, sie haben ihr eine Brust abgeschnitten. Lauras Mann, ein Gewerkschafter, wurde an einem Hubschrauber aufgehängt und ins Meer geworfen. Sie selber wurde von den Todesschwadronen geholt, gefoltert und vergewaltigt. Ihr Sohn Oscar, durch Vergewaltigung entstanden, wurde im Gefängnis geboren. Annas vierjährige Tochter wurde nach unserer Reise durch Europa, um über Salvador aufzuklären, mit Absicht von einem Militärfahrzeug angefahren und schwer verletzt. Die Liste kann ich endlos weiter schreiben. Da ist kein Platz für Wohlklang, Eleganz und Schönheit.

 

All diese Frauen hatten sich entschieden zu kämpfen, die aber, wie Maria von der FMLN, in dem Bewusstsein, lieber von der nächsten Stunde an etwas anderes machen zu wollen. Sie haben nicht noch die beschissene Lage heroisiert.

 

Die Angst vor dem Glück

 

Häufig wird Glück wurde in die esoterische Ecke verwiesen. Wovor haben wir Angst? Was ist Glück?

Die Vorstellung von Glück ist für mich mit den Tagebuchaufzeichnungen  von Hans Scholl, dargestellt im Buch von Inge-Aicher Scholl, Die weiße Rose, verbunden:

„Und dann dachte er an jenen Frühlingstag in einem Heimatlazarett. Einer der Verwundeten sollte entlassen werden, man hatte ihn großartig zusammengeflickt. Aber kurz vor der Entlassung begann die Wunde plötzlich auf unerklärliche Weise wieder zu bluten und wollte nicht mehr aufhören. Sie war nahe der Halsschlagader und es gab nur eins: die Schlagader zusuchen und abzudrücken. Aber alle Bemühungen waren vergebens. Der Mann verblutete unter den Händen der Ärzte. Erschüttert ging Hans hinaus. Da begegnete er auf dem Gang der jungen Frau des Verbluteten, die ihren Mann abholen wollte, schön, blühend, selig vor Erwartung, mit einem großen, bunten Blumenstrauß in den Armen.

 

Wann endlich, wann erkannte der Staat, dass ihm nichts höher sein sollte als das bisschen Glück der Millionen kleiner Menschen? Wann endlich ließ er ab von Idealen, die das Leben vergaßen, das kleine, alltägliche Leben? Und wann sah er ein, dass der unscheinbarste, mühseligste Schritt zum Frieden für den Einzelnen wie für die Völker größer war als gewaltige Siege in Schlachten?“

Inge Aicher-Scholl, Die weiße Rose, S. 48 f.

 

In der Ablehnung des Begriffes Glück kann aber auch noch etwas anderes stecken:

Wie kann ich glücklich sein, wenn die Mehrheit der Menschen unter so furchtbaren Bedingungen lebt?

 

Es gibt eine Reihe Identitäten zwischen protestantischer und sozialistischer Moral.

Gelacht wird nicht in der Kirche und bei unseren Sitzungen! Da herrscht der Ernst vor! Gelacht werden darf abends beim Kabarett oder in der Kneipe.

 

Wie entsteht Wahrnehmung anderer Erfahrungen und Lebenswelten?

 

Wie können wir lernen, dem/r anderen zuzuhören, zu verstehen? Was bedeutet in diesem Zusammenhang: Mit-Gefühl?

Die Rosa Luxemburg Stiftung hat den guten Satz von Rosa Luxemburg,

Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden – durch eine Frage ergänzt:

Was aber denkt der/die andere und wie frei denken sie?

Das ist eine gute Frage, die, ernst genommen, zu einer Kultur des ehrlichen Miteinanders führen kann, was Streit ja nicht ausschließt. Wie aber streiten wir?

 

Als ich im Jahre 2.000 auf der Friedensburg Schlaining im Burgenland für die erste große Kunstausstellung: „Vom Kult der Gewalt zur Kultur des Friedens“ den Frauenteil erarbeitet habe, habe ich ein gutes österreichisches Wort gelernt. Dort heißt streiten nicht wie bei uns: Aus-einander-setzen, sondern: Zamstreiten! Also: Zusammenstreiten.

 

Wie können wir uns annähern?

Wie gehen wir mit unterschiedlichen Erfahrungen um?

Wie entwickeln wir eine Streitkultur, die auf der einen Seite Lernprozesse möglich macht, deren Kritik nicht verletzend ist? Nicht von Häme begleitet, von klammheimlicher Freude, wenn es eine(n) erwischt, auf deren Posten man/frau oder jemand aus der eigenen Fraktion scharf ist?

 

Ist BB’s berühmter Satz aus den „Nachgeborenen“: „Ach wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein“, nicht längst nur Entschuldigung für Unvermögen?

 

Wann lassen wir Freundlichkeit zu, ist sie verwiesen auf den privaten Umgang? Zärtlichkeit nur in der Privatheit, zwischen Männern und Frauen, Männern und Männern, Frauen und Frauen?

 

Freundlichkeit im Zeitalter der Globalisierung?

 

Ja, wir sind der Globalisierung ausgesetzt, der ständig wachsenden Macht des Kapitals, das so offen wie nie zuvor agiert. Seien es die Verbindungen von Kriegsindustrie mit der Regierung wie in den USA, sei es eine Aussage von Andrew Gowers, früherer Chefredakteur der Financial Times Times Deutschlands „Mein letzter Grund für Optimismus: Die Politiker sind überall in Europa in die Defensive geraten. Die Menschen wissen, dass nationale PolitikerInnen längst nicht mehr die Kontrolle innehaben, auch wenn diese versuchen, das Gegenteil vorzugeben. Für Wähler und abgeordnete mag dieser Umstand beunruhigend sein. Für die Geschäftsmänner und -frauen Europas ist er ein Grund zur Freude.“

Manager Magazin 5/2006, nach Konstantin Wecker, Tagebuch 30.6.2006

 

Dieses Imperium versorgt uns über seine Medien mit der täglichen Nachricht vom Krieg, den Bildern von verhungernden, verdurstenden, an Aids und anderen Seuchen erkrankten Menschen, auf ihren Fluchtwegen, die täglich zu zig tausenden sterben. (Was für ein Aufwand um die Schweinegrippe, wenn man die täglichen Toten, die vom Aids Virus befallen werden, sieht) Menschen die in elenden Behausungen oder auf der Straße leben, die sich in den Weltmarktfabriken kaputt schuften, die gefoltert und ins Gefängnis gesteckt werden. Mit Bildern von Menschen, die die Arbeit verlieren, weil anderswo billiger produziert werden kann, die sich in die traurigen Schlangen im Arbeitsamt, vor den Ausgabestellen der Tafeln einreihen. Wir hören in den Medien täglich, wie diese Menschen diskriminiert und beschimpft werden: Als faul, als Abzocker, als kriminell. Ein ausgeklügeltes Bedrohungsszenario hat sich für die entwickelt, die die Arbeit verloren, aber auch diejenigen, die noch Arbeit haben. Die Betroffenen gehen immer weniger zum Arzt, wenn sie krank sind, nehmen unzumutbare Arbeitsbedingungen in Kauf. Wir sind der täglichen Realität ausgesetzt, in der

„transkontinentale Feudalherren planetarische Macht ausüben“,

so Konstantin Wecker in seinem Tagebuch am 27.4.2006, Jean Ziegler nennt sie die

„Kosmokraten, die Herrscher des Imperiums der Schande“.

 

Wie begegnen wir diesem „Imperium der Schande“ und ihren HelfershelferInnen, wie können wir uns eine Lebensqualität schaffen und erhalten, die uns auch in die Lage versetzt, den langen Weg der Gesellschaftsveränderung auszuhalten?

Welche, manchmal durchaus auch sarkastischen Aktionsformen, in der wir trotz allem unsere Lebenslust spüren, können wir entwickeln?

Was bedeutet der gute Satz von Alice Walker:

“Widerstand ist das Geheimnis der Freude?“

Welche solidarischen Formen haben wir?

An welche Aktionen erinnern wir uns, bei denen wir uns aufgehoben fühlten und die uns  weiter gebracht haben?

 

Bei der Trauerfeier für Rudi Dutschke im Audi Max der Freien Universität in Berlin trug Erich Fried ein Gedicht vor, das er zu Rudis Tod geschrieben hat. Für mich beschreibt er in diesem Gedicht den Weg, den wir gehen könnten:

 

„Erich Fried: Für Rudi Dutschke

…..

„Nicht in jedem einzelnen Punkt

war ich deiner Meinung

und du hast nie bestanden darauf dass jemand

deiner Meinung sein muss

und schon gar nicht in jedem einzelnen Punkt

Deine Meinung konnte man Punkt für Punkt mit dir diskutieren

Jetzt aber kann ich nichts mehr mit dir diskutieren

Und so sehr es ankam auf die einzelnen Punkte

So wenig kommt es jetzt auf die einzelnen Punkte an

Was ich von dir gelernt habe

Bleibt jetzt vielleicht zu wenig

Aber ich hätte vielleicht von dir schon genug gelernt

Wenn ich nichts von dir gelernt hätte außer das eine:

Dass Freiheit Güte und Liebe sein muss und dass Güte und Liebe

Freiheit sein müssen – und wirkliche Güte und Liebe

Nicht nur der Begriff von Güte und Liebe

Denn sonst bleibt auch die Freiheit nur ein Begriff –

Und dass der Kampf um Freiheit und Güte und Liebe

Nicht ohne Freiheit und Güte und Liebe geführt werden kann

Und deine Güte und Liebe und Freiheit

Und deine Einsicht

Sind so gewesen dass du vielen ein Freund bleiben konntest

Die einander nicht Freunde geblieben waren –

Vielen die jetzt um dich trauern aber die glauben

Dass sie miteinander gar nicht mehr sprechen können

Oder einander nur noch anklagen können

Nur noch beschimpfen beschuldigen und bekämpfen

 

Und dieser Irrtum kann sich jetzt leichter in ihnen verhärten

Weil deine gute heisere Stimme nicht mehr

Zu ihnen spricht und nicht heftig oder behutsam

Oder behutsam und heftig wie früher Einwände macht

 

Und dass dieser Irrtum sich leichter verhärten kann ohne dich

Ist schon ein erster kleiner Teil des Beweises

Dass du nicht so leicht ersetzbar bist in den Winkeln

Und Ecken unserer Köpfe und Herzen und unserer Leben

Und dass es nicht genug ist

Zu sagen: „Der Kampf geht weiter“

 

Und doch muss er weitergehen und es ist nicht genug

Von deiner Güte und Liebe und Einsicht zu reden

Wenn ich vergesse dass deine Einsicht und Güte

Dich immer wieder auch zur Empörung geführt hat

Und dass deine Liebe bis zuletzt immer wieder

Auch die Liebe zur Revolution geblieben ist

Und die Sehnsucht nach ihr in Zeiten in denen ihre Tyrannen

Und Reichsverweser und Verräter und Bürokraten

Ihren Namen so schlecht gemacht haben dass fast keiner sie kennen will

 

Diese Sehnsucht hat in dir gelebt und hat dich lebendig erhalten

Und die Augen dir offen gehalten auch für Verstreute

Die sich immer noch sehnen nach ihr – auch dann wenn sie irren

Auf ihrer Suche und wenn ihre richtigen Herzen

Ihnen nicht helfen konnten auf einen richtigen Weg

 

Es ist nicht möglich von deinem Leben und Tod zu sprechen

Und zu schweigen von der Revolution die – ungleich uns Menschen –

Nicht tot ist für immer wenn man sie einmal totsagt ….“

___________________________________________________________________________

 

 

Ellen Diederich

 

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen